on my way

Ich mache keine Radtouren, ich fahre Rad, von A nach B. Wenn ich nicht Rad fahre, gehe ich zu Fuß oder fahre neuerdings manchmal mit dem Auto. Bei Schnee und Eis lässt mich der Lieblingsitaliener nicht mit dem Fahrrad los, vor allem nicht mit dem Kind im Kindersitz, und angesichts der Serpentinen, die unsere Waldwohnung mit der Stadt verbinden, hat er natürlich und wie immer vollkommen Recht. Nun liegt Schnee und Eis, und gar nicht wenig, also muss das Rad im Schuppen bleiben, und als Fahranfänger traue ich mich auch nicht mit dem Auto die Berge runter. Irgendwie muss Nuno aber in die Kita kommen, und ich zur Arbeit.  „Öffentliche“, denken jetzt alle großstädtischen Leser, aber mit den Öffentlichen ist das so eine Sache in der Kleinstadt. (Gemeinsame Wunschliste für unsere nächste Stadt: ernstzunehmendes Wasser, Uni, Straßenbahn, Bundesligaverein.) Die Öffentlichen beschränken sich hier auf genau ein Verkehrsmittel, auf den Bus. Zur Arbeit kann man sehr gut mit dem Bus fahren, die Verbindung ist geradezu sensationell gut. Die Kita liegt allerdings in einer anderen Ecke unserer kleinen Stadt. Wir wohnen auf Berg 1 im Osten, die Innenstadt liegt im Tal, die Arbeit nördliche angrenzend zur Innenstadt, die Kita liegt auf Berg 2 im Süden.
Ich weiß nicht, wie groß der Höhenunterschied zwischen unserem Berg und der Innenstadt in Metern ist, in Grad Celsius sind es 3°, und das ist momentan der Unterschied zwischen Schnee (oben) und Matsch (unten), und – mit dem Rad – jede Menge Muskelkater.
Nuno muss also in die Kita. Die Verbindung vom höheren Berg 1 zum niedrigeren Berg 2 ist möglich, ohne Wolfsschluchten zu überwinden. Mit dem Fahrrad fahre ich sehr idyllisch am Waldrand entlang, dann zwischen Park und Wald und durch ein wenig Villengegend, dann wieder Wald und Wohnviertel, außerdem geht es bergab und ich bin morgens, wenn die Zeit drängt, sehr schnell da. Der Rückweg ist mühsamer, aber am Ende der Saison machbar. Mit dem Auto führt die Strecke etwas weiter vom Wald weg, verläuft sonst ähnlich. Und mit dem Bus kann man das eigentlich vergessen. Der Bus fährt zwar direkt vor dem Haus ab, nimmt dann aber Irrwege, und Querverbindungen sind tabu. Dank Eis und Schnee habe ich gerade eine kleine Versuchsreihe laufen. Nehmen wir der Einfachheit halber den Weg Waldwohnung – Kita – Waldwohnung; gehe ich von der Kita zur Arbeit, geht dieses Streckenstück ein wenig schneller, aber nicht viel.
Fahrrad, wenn es das Klima zulässt: Hinweg: 10 Minuten, Rückweg etwa 25 Minuten (ohne zu schieben!)
Auto: Hinweg: 8 Minuten, Rückweg ebenfalls 8 Minuten.
Bus: Die Seite der Verkehrsbetriebe schlägt folgende Optionen vor:
a) 24 min Fußweg Richtung Zentrum – 6 min Bus – 16 min Fußweg. Macht 46 Minuten, einfacher Weg. Rückweg gucke ich gar nicht nach.
b) 6 min Bus Richtung Arbeit – 3 min Überlandbus – 2 min Fußweg – anderer Überlandbus Richtung Nachbarstadt – 6 min Fußweg. Gesamt, Hinweg: 35 Minuten. Und 3x Umsteigen und schwer kalkulierbare Kosten, da die Überlandbusse nicht zum Stadtverbund gehören.
c) 14 min Bus ins Zentrum – 10 min Umsteigezeit – 10 min Bus Richtung Kita (!) – 6 min Fußweg. Gesamt, nur Hinweg: 40 Minuten. Vorweggegriffen: Das ist die einzig sinnvolle Verbindung, wenn ich mit einem Dreijährigen unterwegs bin.
d) 23 min Fußweg Richtung Zentrum – 2 min (!) Bus – 18 min Fußweg.  Gesamt: 43 Minuten (nur Hinweg), und das nennt die Seite „direkt“.
Also, wenn ich mit Nuno fahre, muss ich c) nehmen – in die Stadt fahren, umsteigen, in die andere Richtung wieder hoch, und das gleiche dann zurück, ich bin dann insgesamt 90 Minuten unterwegs.
I’m on my way, won’t be back for many a day…
Option a) und d) haben mich aber darauf gebracht, doch vielleicht einfach direkt zu laufen – für 2 Minuten Busfahrt muss man ja weder einen Umweg gehen noch 2 Euro zahlen. Um Nuno abzuholen, bin ich also gestern zu Fuß los, wetterfest eingepackt, mit Weihnachtsoratorium auf den Ohren, leichtem Schneeregen und Stoppuhr: 30 bis 35 Minuten.  Und deutlich angenehmer als mit dem Bus. Den muss ich dann für den Weg mit Kind trotzdem nutzen, allein ist der zügige Spaziergang aber besser als alle anderen innerstädtischen Weltreisen. Ich gehe nicht spazieren, ich gehe hin. Zum Rodeln oder Schlittenziehen waren gestern die Wege zu stark gestreut und zu matschig, wenn es weiter schneit, können wir vielleicht auch den Schlitten nehmen, bergab geht es dann schnell, bergauf tu ich was für die Kondition. Fallt mit Danken, fallt mit Loben.

Zu verbessern gibt es aber bei der Variante Spaziergang zwei Dinge:
1. andere Schuhe, um nach 35 Minuten Fußmarsch nicht vier bis acht Stunden lang nasse Füße zu haben
2. Wohnungsschlüssel mitnehmen, um nach der Rückkehr nicht 90 Minuten im Treppenhaus zu sitzen.
Dann klappt es auch mit der Zeitersparnis.

Hier liegen meine Gebeine…

… ich wollt‘, es wären Deine.
Am Totensonntag machten wir, ohne die Korrelation weiter zu bedenken, einen Spaziergang auf dem schönen Stadtfriedhof. Da er stillgelegt ist (ist das der richtige Ausdruck für Friedhöfe? „Die Ruhestätten sind stillgelegt“? Weil vorher so ein Remmdemmi war?), wird er inzwischen Friedpark statt Friedhof genannt, und es ist wirklich ein ansehnlicher und sehr großer Park. Wir bummelten, lasen Grabinschriften, schauten nach Familie und nach stadtbekannten Namen. Im Nobelpreis-Viertel, wo die Nobelpreisträger Seite an Seite um einen kleinen See herumliegen und sich in bester Gesellschaft fühlen oder aber alte Konkurrenz weiter pflegen dürfen, fanden sich ein paar außergewöhnliche Grabsteine. Ästhetisch bestachen die Nobel-Steine vor allem durch Schlichtheit und teilweise modernistische Schriftgestaltung. Besonders interessant waren die von Max Planck und Otto Hahn: Der Physiker und der Chemiker haben außer ihren Namen nur eine Formel auf ihren Steinen – ich kann sie aber nicht lesen. Vielleicht ein mitlesender Naturwissenschaftler, oder jemand, der sich besser an Physik erinnert als ich? Stehen dort ihre Lebensdaten? Ist es die Zusammenfassung ihres wissenschaftlichen Lebenswerkes? Und weist der Pfeil auf Otto Hahns Stein auf Hahn selbst, oder auf das, was von ihm blieb?

Formel Max Planck

 

 

Formel Otto Hahn

In unmittelbarer Nachbarschaft der Nobelpreisträger fand sich auch ein Mediziner mit seiner Frau. Ihr Stein trägt ihre Namen in ihrer Handschrift, darüber ziert ihn eine etwas richtungslose Zackelinie – was ist das? Ein Bergmassiv, wo der Herr Doktor gerne in der Sommerfrische weilte? Oder ist es wie bei den Wissenschaftlern nebenan ein Ausdruck seines Berufslebens, eine Grafik, die in Bezug zu seinem Wirken als Arzt steht? Den Grabstein in seiner eigenen Handschrift zu beschriften zeugt bei einem Arzt ja schon von einem gesteigerten Sinn für Humor. Zu übertreffen wäre das vielleicht noch von einer individuellen EKG-Kurve, die in quer über den Stein läuft – nach ein oder zwei Ausschlägen als Nulllinie.

Der junge Fan

Unser Kind findet Sport super, bewegt sich gern, interessiert sich für die Unterschiede zwischen den Ballsportarten, übt auf dem Balkon Basketball (mittelgute Idee – wussten Sie, dass man Bälle komplett und für immer verlieren kann, wenn sie vom Balkon fallen? Ich dachte, irgendwo da unten müssten sie ankommen und dann kann man sie wieder hochholen, aber nein.), Handball übt er im Flur, Fußball überall, und am Ende spielen wir meist so etwas wie Calvinball.
„Fußball ist geil, oder?“, sichert er sich immer wieder ab, ich versuche etwas an der Wortwahl zu ändern, sonst sind alle einverstanden.
Inzwischen weiß er auch, dass man nicht alle Akteure gleich gut finden muss, manche Mannschaften finden wir besser als andere. Aber andere Leute finden wieder andere gut. Kompliziert. Dass der eine anders gekleidete Spieler trotzdem in der Mannschaft mitmachen darf, der andere aber nicht, dafür eine Pfeife hat und Schiedsrichter heißt, führt ebenfalls immer wieder zu Diskussionen; wahrscheinlich hat er den Eindruck, bei einem normalen Fußballspiel stehen einander mindestens fünf gegnerische und ungleich große Gruppen gegenüber. Überhaupt, Mannschaften: In diesem Punkt ist er sehr vielen Einflüssen ausgesetzt und sofort bereit, sich der Begeisterung für den einen oder anderen Club anzuschließen. Mit sanftem Druck versuchen die Männer der Familie, ihn für ihre Vereine zu begeistern, mit seinen drei Jahren hat er Trikots vom VfB Stuttgart, den Boca Juniors, vom SSC Napoli und Barrio Hansa, von Argentinien und Italien, außerdem Socken von St. Pauli. Erstaunlich wenig kommt bisher von den anderen familiären Vereinen Werder Bremen, FC Barcelona und VfL Wolfsburg (ja, auch dieser Verein hat Fans). Er trägt alle Trikots gerne und freut sich über Gleichgesinnte, insbesondere findet er aus Gründen Labbadia gut („zeig mir den nochmal!“), aus anderen Gründen findet er Balotelli blöd, und schon sind wir mitten im schönsten Erziehungs- und Prägungs-Schlamassel. Erziehung ist Beispiel und Liebe, und Lernen funktioniert außer über Nachmachen auch über das Erkennen von Mustern und das Ableiten von Regeln, Übergeneralisierungen gehören dazu: Labbadia findet er gut, weil er seinen Vornamen hat, klare Sache. Balotelli fand er nicht etwa wegen des Tors gegen Deutschland „blöd“, sondern weil der Lieblingsitaliener wohl mal nach einem Interview geschimpft hatte. Mit dieser Meinung ist er wohl konsensfähig, allerdings hat B. auch hier nach Mustern gesucht, ist auf die falsche Spur geraten hat und dann auch bei Cacau, Ya Konan oder Drogba und völlig unvermittelt bei einem Herrn im Bus gefragt, ob die „ganz blöd“ seien, „ja, oder?“ Hilfe, da setzt einen ein ungefähr trinationales und gefühlt völlig globalisiertes Kind auf einmal dem Rassismus-Verdacht aus. „Naja, sie reden halt nach, was sie zu Hause hören“, sagte eine Dame dazu. Ja, natürlich, aber so einfach ist das nicht. Hier greift eben auch das Prinzip der Regel-Ableitung, das oft genug („ein Schaf, zwei Schäfen“) zu falschen Ergebnissen führt. Zu dramatisch falschen Ergebnissen. Wir verbrachten die nächste Zeit damit zu betonen, wie toll z.B. Cacau sei und wie nett der Herr im Bus. Dass äußere Merkmale eines Menschen überhaupt nicht mit irgendwelchen Eigenschaften korrelieren, ließen wir unauffällig auch immer wieder einfließen. Womit wir beim nächsten sportlichen Schlamassel waren: Wenn die äußeren Merkmale nichts darüber aussagen, ob jemand toll oder blöd ist, warum mögen wir dann die ganzen Leute mit dem einen Trikot, die anderen aber nicht? Also. Die sind ja auch nicht blöd. Wir wollen nur nicht, dass die gewinnen. Dünnes Eis, ganz dünnes Eis.
Und nein, die Mannschaft, die immer gewinnt, ist auch nicht immer blöd. Nicht darum jedenfalls. Die sind nur blöd, wenn sie sich dann über all die anderen lustig machen, weil die nicht gewinnen. Nachtreten ist nicht schön, das macht man nicht. Charakterbildung über Fußball.
„Also, Fußball ist geil, oder? Aber die mit dem Bild mit den Zähnen, die magen wir nicht, die sind ganz blöd“, sagt er. Ich lass das mal so stehen.

Fremdsprachen [oder: Wie wir uns bei Bauchentscheidungen mit vermeintlichen Vernunftgründen selbst in die Tasche lügen]

Beim Übergang auf das Gymnasium musste ich entscheiden, ob ich als zweite Fremdsprache Französisch oder Latein lernen wollte. Verschiedene Aspekte beeinflussten meine Entscheidung, ohne dass ich sie wirklich reflektiert hätte – nicht ohne Wirkung waren aber sicherlich der im Nachbarhaus wohnende Lateinlehrer, familiäre Traditionen und das mit vorfreudiger Begeisterung einhergehende bildungshungrige Gefühl, Latein zu können wäre irgendwie cooler als Schüleraustausch mit Aix en Provence.
Tatsächlich als Argumente verstand und vertrat ich anstelle dieser diffusen Gefühligkeiten aber dies: Ich wählte Latein statt Französisch, weil ich fand, dass Franzosen bekloppt zählen. Quatre-vingts? Vier mal zwanzig?! Ihr sagt im Ernst vier mal zwanzig? Eine Sprache mit solchen Zahlen wollte ich nicht lernen. Die mithin ganz vernünftige und rationale Entscheidung gegen Französisch und für Latein traf ich MCMLXXXIX.

Heile Welt der Kinderlieder und Märchen: Geißlein (3)

Dass Märchen grausam sind, ist keine echte Überraschung. Bei Märchen mit Wolf-Content kommen selbst die Pixie-Buch-Varianten nicht um gewisse Splatter-Anteile herum – und dass der Sohn auf die Idee kommt, der Jäger trete den bereits totgeschossenen Fuchs noch töter (vgl. „Liebes Füchslein„), ist beim heiteren Zynismus mancher Märchen-Enden auch nicht wirklich erstaunlich. „Der Wolf und die sieben Geißlein“ besteht eigentlich nur aus Grausamkeiten – man möchte sich die Traumata des siebten Geißleins gar nicht ausmalen. Wo spielt das, in Ruanda? Unter Märchen-Maßstäben ist am Ende aber fast alles gut, der Wolf versinkt wie ein Bauch voller Wackersteine im Brunnen, und dann – wird getanzt. Asterix nichts dagegen. Wir erinnern uns: Sechs Geißlein sind knapp dem Tod entronnen, haben soeben den Wolf von innen gesehen, die Mutter („die die Geißlein liebte wie eine Mutter ihre Kinder liebt“, wie auch sonst) wähnte sich gerade noch sechsfach verwaist, und das siebte und kleinste Zicklein hat das Massaker an den Geschwistern wenn nicht mit angesehen, so doch gehört und musste dabei selbst um sein junges Leben bangen. Dann haben die liebe Geißenmutter und die sieben Kinderlein gemeinschaftlich und in Selbstjustiz den Wolf gemeuchelt, und nach gelungenem Versenken desselben freuen sie sich sehr, tanzen alle um den Brunnen und singen „Der Wolf ist tot, der Wolf ist tot“. Fiderallalalala.
Gut, so geht das zu. Was lernt man davon, abgesehen von praktischen Tipps und Vokabeln (lass niemanden rein, egal wie weiß die Pfote ist;  es ist immer gut, eine Uhr im Haus zu haben; Zwirn ist Faden; Wackersteine, nicht Ackersteine; bevor Du auf den Jäger (Rotkäppchen) oder den Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte wartest (you name it), nimm das Ganze doch einfach selbst in die Hand, und wenn sie nicht gestorben sind, dann tanzen sie noch heute)? Wir verstehen die Welt besser, so ganz allgemein. Die Berufswelt zum Beispiel:
„Wer kann nähen“, fragte mich B. kürzlich, „kannst Du nähen, Mami?“ Nein, ich kann nicht nähen. „Aber meine Omi kann nähen“, sagte er, und tippte an die von Omi genähte Piratenmütze. Ja, Omi kann nähen. „Und Pia, Pia kann nähen.“ Kann sie. Dir eine Schürze, zum Beispiel, mit eingesticktem Namen. „Wer kann noch nähen?“ Nonno kann nähen, Nonno war früher Herrenschneider. Er kann richtig gut nähen. „Ja.“ Und weißt du, wer noch nähen kann? Dein Opa. „Mein Opa kann auch nähen?“ Ja, er kann sogar Menschen wieder zusammennähen. „Was? Du sagst doch Quatsch.“ Doch, so macht er sie gesund. Wenn eine Frau ein Loch im Bauch hat, dann kann Opa das wieder zunähen. „Ah, wie die Geißenmutter! So macht Opa das.“ Ja. Mit Zwirn. (Und dann wirft er sie in den Brunnen und tanzt, nachts, bei Vollmond.)

 

Schade

Och, heute ist der 15. November, was, wie wir uns erinnern, seit einigen Jahren der Tag des unbekannten Googlers [1] [2] [3] ist. Nur habe ich seit dem Blogumzug keine Zugriffs-Statistik mehr – ich weiß also weder, wie viele Ihr seid, noch wo und vor allem mit welchen Fragen Ihr herkommt. (Im alten Blog ging die Statistik schon länger nicht mehr.) Das ist sehr betrüblich.
Nächstes Jahr wieder. Bis dahin muss ich für Fragen und Antworten an die werte Kollegin Nic verweisen. Vielen Dank und feiern Sie schön, liebe Googler und Googlerinnen.

Random thinking

Ich überlege, ob ich meinen Verlag auch Zufälliges Pinguin-Haus nennen wollte.
(Was geht mit Willkürlicher Wildschwein-Winkel? Oder hab ich da was grundsätzlich falsch verstanden?)

*

Auf den plötzlichen Wintereinbruch mit einem Mützen-Notkauf reagiert. Ein leicht flusiges Grau, unauffällig, wärmend und dabei überraschend kratzig. Extrem kratzig, untragbar kratzig eigentlich. Ein Blick auf das Schild klärt auf: 70% Wolle, 20% Angora, 10% Plastik. Wer kann denn so viel Wolle auf dem Kopf aushalten? Ich kaum, obwohl mit allen zehn Fingern die Stirn zu kratzen natürlich auch schön warm macht. Etwas blutig, aber warm. Und dafür hab ich die Mütze ja gekauft.

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Nennt sich die Schwulenbewegung von Luxemburg eigentlich „Rosa Luxemburg“?

Zwei Schlittenhunde

„Zwei WAS“, blaffte unser Physiklehrer, wenn wir ihm einfach nur eine nackte Zahl anboten, „zwei Äpfel? Zwei Schlittenhunde?“ „Zwei… Newton?“ versuchten wir dann, aber mit den Einheiten ist das eben schwierig. Dann lässt man die lieber weg, bevor man falsch liegt. Schwierig findet das auch der Sohn, aber er lässt sich nicht so leicht einschüchtern. Zahlen verlangen die Angabe der Einheit, und zwar konsequent. „Wie lange dauert das noch“, fragt er, „Fünf Meter?“ Notfalls geht es auch ohne Zahl – wie groß er sei? „Kilometer!“ Und dann schmiegt er sich an meine neue Strickjacke, „Mami, darf ich mal fühlen? Die fühlt sich aber weich an.“ „Ja, ist die schön kuschelig?“ „Ja, die ist dreiviertel Kilo kuschelig!“ Viel präziser lässt sich Kuscheligkeit kaum angeben. Seine Physiklehrer werden ihre Freude an ihm haben. Mindestens 17 Grad.

Harzreise

Mir ist der Harz immer dunkel vorgekommen, dunkel und eng wie die grau verschindelten Häusergassen der Bergbaudörfer. Das ist sicher nicht fair dem Harz gegenüber, irgendjemand sagte mir mal, im Osten soll er teilweise ganz weit sein und von hellen Birken geprägt, fast skandinavisch. Wegen meines inzwischen kaum mehr provisorisch zu nennenden Wohnortes in Harzrandlage komme ich meist von Südwesten her in den Harz, vielleicht ist es der geographisch falsche Zugang. Vielleicht ist es auch der biographisch falsche Zugang. Er sollte bestens sein, sind doch sowohl mein geliebter Großvater als auch meine geliebte Mutter gebürtige Harzer. Oder „am-Harzer“, wie es in ihrem Geburtsort genau heißt. Doch vielleicht bin ich geprägt von meiner ebenfalls sehr geliebten Großmutter, der Mutter meiner Mutter und Ehefrau jenes Harzer Großvaters. Sie kommt aus einer ganz anderen Gegend, von der Ostsee. (Das ist meine Großmutter.) Ihr Ankommen im Harz war kein glückliches, sie war auf der Flucht und hochschwanger, bei sich hatte sie nichts als ein Kissen mit Säuglingsausstattung. Nachdem die Russen das Gasthaus ihrer Eltern übernommen hatten, kamen ihr Mann, der Kriegsheimkehrer, und sie erst einmal bei seinen Eltern unter. Das war ein Glück, ihrem Vater (und nicht nur ihm, natürlich) ist es nicht gut gegangen in der Sowjetischen Besatzungszone, wer weiß, was sie noch erlebt hätte – zusätzlich zu dem, was sie schon erlebt hatte und worüber sie nie offen sprach. Nur, dass der eine im Haus eigentlich sicher nett gewesen sei. Ihre Angst blieb aber spürbar bis weit nach der Wende. Dank ihrer weit fortgeschrittenen Schwangerschaft und weil sie Familie in der Nähe hatte, durfte sie nach der Flucht in überfüllten Zügen das Durchgangslager Friedland direkt wieder verlassen und zum Hof im Harz weiterreisen, doch bei den Schwiegereltern wurde sie mit ihrem neuen Status als mittelloses Flüchtlingsmädchen nicht mehr ganz so herzlich aufgenommen wie zuvor. Ihr kleines Mädchen, ihr erstes Töchterchen, für das die Erstlingsausstattung im Kissen war, ist kurz nach der Geburt gestorben. Davon hat sie mir viel später erzählt, und so habe ich zu dieser Geschichte meine ganz eigenen Bilder von ihr geerbt. Das also war der Anfang ihres neuen Lebens im Westen. Zwei Jahre später wurde ihre zweite Tochter geboren, meine Mutter, die Zwillingsmädchen kamen weitere zwei Jahre später in der nächsten Kreisstadt zur Welt. Da sind sie geblieben, meine Großeltern, und da wohne ich heute, ganz in der Nähe zu dieser Familiengeschichte also. Dennoch werde ich nicht warm mit dieser Gegend, und ganz und gar nicht mit dem Harz. Kann man Unbehagen erben? Kann man Prägungen über zwei Generationen annehmen? Oder bin ich einfach mit dem falschen Fuß zuerst in den Harz gegangen? Vor ein paar Jahren, meine Großmutter war schon tot und ich gerade schwanger, waren wir in ihrer alten Heimat, auf der Ostseeinsel. Als ich dort an der Seebrücke stand und über das weite Meer schaute, hinter uns Kiefern und Sand und landschaftliche Offenheit, habe ich mich so heimisch gefühlt. Das kann eigentlich auch nicht sein, denn dort bin ich ja nicht zu Hause und war es auch nie. Wenn überhaupt, bin ich ein Nordseekind. (Allerdings schwappte so ein Heimatgefühl auch in Dresden auf der Brücke über mich hinweg, da kommt die andere Familie her.) Aber ich stand dort am Strand, blickte auf die Seebrücke, dachte an die sepiafarbenen Bilder meiner Großmutter als junges Mädchen, wie sie so dort leicht und strahlend an dieser Brücke gestanden hatte, und versuchte diese Weite und dieses Meer mit dem Harz in Einklang zu bringen. Wie kann man mit Angst, Abschiedsschmerz und Ungewissheit über den Verbleib der Liebsten, aber auch mit viel Hoffnung im und unterm Herzen diese Reise antreten und dann dort – ich weiß nicht, was sie fühlte; ich fühlte mehr als 60 Jahre später vor allem Enge. (Buchenwald war noch enger, ja. Aber ich dachte in dem Moment nicht an Buchenwald, nur an diese Weite des Ostseestrandes, das Licht und die betörende Schönheit einer Insel, und an die Enge der Schindelgassen und die dunklen Tannen.) Das prägt mein Harzbild, und es ist ganz sicher ungerecht, ich habe dem Harz glaube ich nie eine Chance gegeben, sondern sehe ihn durch einen nicht gewussten, nur empfundenen Nachkriegsfilter. Wahrscheinlich ist auch der Harz ein heller Ort mit herrlicher Natur, wenn man nur bereit ist zu schauen.
Allerdings sind meine Mutter und ihre Schwestern gerade unterwegs im Harz, in ihrem Harz. Sie schrieben mir heute, wie sie gefahren sind: „Über Neinstedt, Totenrode, vorbei an der Datschensiedlung Abendruhe sind wie über Elend wieder in Sorge gelandet.“ Ein heiteres Fleckchen Erde also fürwahr.
(Sie schlagen als künftige Reiseziele Glücksburg und Freudenstadt vor. Ich möchte wieder an die Ostsee.)