Göttinger Herzchen

Der Untertitel „Krankenhausblog“ verheißt nichts Gutes. Wenn es auch noch ein Blog über das Leben eines Kleinkindes auf der Intensivstation ist, erst recht nicht. Gestern Nacht habe ich „Berlin Heart – Miriams Krankenhausblog“ komplett durchgelesen und muss das alles erstmal sacken lassen: Miriams Vater Hilko ist ein Kollege von mir, seine Frau Elissa war in einem meiner letzten Deutschkurse meine Schülerin. In diesem Kurs war sie schon mit Miriam schwanger, ein entzückendes deutsch-taiwanesisches Baby, das heute ein gutes Jahr alt ist. Seit Juni warten sie auf ein Spenderherz.

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Edit: War hier ja schon einmal aus anderem Anlass Thema: Informationen über Organspender-Ausweise gibt es hier.

Neue Perspektiven

Meine Freundin M. ist Psychologin und arbeitet im Moment mit Zwangspatienten. Also mit Leuten, die zwanghaft Dinge tun, nicht mit Leuten, die gezwungen sind, ihre Patienten zu sein, Sie verstehen mich schon.
Ihre aktuelle Patientin hat vor allem einen sehr ausgeprägten Wasch- und Putzzwang, gegen den sie nun mit täglicher Gesprächstherapie und Konfrontation angehen. Diese Woche hat Freundin M. einen Tag bei der Patientin und ihrer Familie verbracht (zwei Kinder und ein Ehemann, die nichts aus der infektiösen Welt da draußen mit ins Haus bringen dürfen, die sich nicht allein die Schuhe ausziehen, den Ranzen abnehmen oder auch nur die Haustür aufschließen dürfen, die quasi erst durch ein Desinfektionsbad müssen, bevor sie klinisch rein den Wohnbereich betreten). Bei ihnen zu Hause, da wo es also richtig weh tut, haben sie geübt, Dreck auszuhalten: Das kleine Kind dufte beispielsweise einmal allein von draußen reinkommen, ohne dass die Mutter eingreifen und es abkärchern konnte. Dann haben sie mutwillig Schmutz in die Wohnung getragen – naja, „Schmutz“: Sie haben im Garten ein paar Grashalme abgeschnitten und einzeln ausgelegt, und die Frau durfte sie nicht sofort aufsammeln und den Boden wischen. Dann hat meine Freundin sogar ein bisschen Blumenerde auf dem Laminat verteilt, worauf die arme Patientin wohl hysterisch reagiert hat – man müsse Bagger kommen lassen und das Haus abreißen, das sei nicht wieder gutzumachen.
Die letzte Übung des Tages war „ungründlich putzen“. Extra eine Ecke im Flur auslassen. Nur einmal pro Zimmer das Wischwasser wechseln. Die beim Putzen entstandenen Fingerabdrücke nicht gleich wieder desinfizieren.
Es ist für alle Beteiligten ganz furchtbar und die Frau tut mir wirklich leid, aber bei der letzten Übung musste ich doch sehr lachen – Kurse in „ungründlich putzen“! Das kann ich! Ich schmeiß die Diss und biete Seminare zu schlechter Haushaltsführung an.
Inhalt der ersten Stunden werden Nicht-unter-dem-Schrank-fegen, Handtücher-nicht-auf-identische-Größe-falten und Nur-um-die-Blumentöpfe-
herum-wischen behandelt, der Aufbaukurs umfasst Wollmäuse-hegen, Kontoauszüge-irgendwo-liegen-lassen und Krümel-auf-der-Tischdecke-ignorieren.

Der Professionalisierungsbereich könnte nach mehrjährigem Training mit dem Modul „Die Tiefen des Kühlschranks – Schimmel, ignorieren und züchten“ abgeschlossen werden.


Geburtstagsgeschenk


„Hey“, sagte mein Freund Th., „Du bist manchmal ganz schön selbstbewusst.“
Ich bin da nicht so sicher, aber das, was Günter Grass hier in der Hand hält, mit gelber Schleife umwickelt, ist mein Buch.


(Wer die Dame ist, weiß ich nicht; ich bin’s nicht.)
Ich habe es ihm am Samstag bei seiner Geburtstagsfeier in unserer Stadt geschenkt, und hier liegt es tatsächlich mitten auf seinem Geburtstagstisch, neben der rot-weißen Blechtrommel:


[beide Fotos Tageblatt]

Allerdings habe ich es ihm nur in die Hand gedrückt, etwas von „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag … bin Übersetzerin … Buch schenken… schöne Illustrationen“ stotternd.
Was ich – bewusst – nicht getan habe: Mir – wie die Dame auf dem Foto – die Blechtrommel signieren lassen. Ein Geschenk zu machen erschien mir viel schöner, und das finde ich immer noch.
Was ich ebenfalls nicht getan habe, wonach mich aber jetzt natürlich alle fragen: Etwas in das geschenkte Buch schreiben, oder eine Karte dazulegen. Weil mein Sternzeichen „Pessimist“ ist, und ich hätte nie gedacht, dass ich bei einer Veranstaltung mit 2.500 Leuten einfach am Ende
ohne Dängeln und Schlangestehen zur Hauptperson gehen kann. Da aber mein Aszendent „Man weiß ja nie“ ist, habe ich drei Minuten vor Aufbruch zu Hause doch noch eine Schleife um das Buch gewunden und es eingepackt – für Karten war da keine Zeit, und zur Frage „eine einpacken? Im Saal beschreiben?“ sagte der Pessimist in mir: „Quatsch. Wozu. Du wirst das Buch eh nachher wieder nach Hause tragen.“ Und der Realist: „Um Herrn Nobelpreis eine Karte zu schreiben, brauchst Du sowieso länger als einen Abend.“ Womit er vermutlich recht hatte.
Ist auch ganz egal: Ich habe Günter Grass meine Übersetzung geschenkt, ich habe ein Foto von ihm mit dem Buch in der Hand, und jetzt liegt dieses Buch vermutlich irgendwo bei ihm zu Hause. Das bereitet mir auch heute noch eine kleine glucksende Freude.

Der Autor dieses Lyrikbandes selbst hat es übrigens ähnlich gemacht, als er hier in Deutschland war. Sein erster Weg führte zu Lichtenberg, und er wollte unbedingt ein Foto von ihm, Lichtenberg, mit seinem, meinem, unserem Buch in der Hand:



[Foto: Percanto]

Hat irgendwie Ähnlichkeit mit Amélies Gartenzwerg, unser Buch.

Fakirstochter

Manche Mütter sind mir dann doch etwas zu entspannt mit ihren Kindern.
Am Nachmittag habe ich bei meiner Cousine ausgeholfen, Modedesign mit Schneiderwerkstatt im Laden. Eine Frau mit kleiner Tochter, maximal ein Jahr alt, guckte sich neben dem großen Spiegel, wo die Kleider bei Anproben abgesteckt werden, eingehend die Pullover an. Werkstatt, Schneidern, Abstecken: Da liegt schon mal was rum, Fäden, Pailletten oder Stecknadeln findet man eigentlich immer.
Das kleine Mädchen saß auf dem Fußboden, die Mutter stand mit dem Rücken zu ihr in den Pullovern und fragte mich nach einer größeren Strickjacke. Wollte ich ihr gerne suchen, da ich aber auf dem Weg zu ihr sah, dass dem Kind ein Stecknadelkopf aus dem Mund schaute, bin ich erst einmal vorsichtig in die Knie gegangen. „Na, darf ich dir das mal wegnehmen?“, bloß nicht erschrecken, atme jetzt bitte nicht tief ein, um besser schreien zu können, Kind!
Nadel gerettet und ich erklärte der Mutter, dass ich ihrer Tochter nur kurz die Stecknadeln aus dem Mund nehmen würde, dann käme ich zu ihr, währenddessen überprüfte ich noch Händchen und Mund, gut, alles in Ordnung, Kind soweit entnadelt und keine weiteren in Reichweite.
Die Mutter warf einen knappen Blick über die Schulter, „Nadeln? Ah ja, und? Haben Sie die Jacke jetzt auch in weit?“
Nadeln sind die neuen Kekse, oder wie?