Heile Welt der Kinderlieder und Märchen: Geißlein (3)

Dass Märchen grausam sind, ist keine echte Überraschung. Bei Märchen mit Wolf-Content kommen selbst die Pixie-Buch-Varianten nicht um gewisse Splatter-Anteile herum – und dass der Sohn auf die Idee kommt, der Jäger trete den bereits totgeschossenen Fuchs noch töter (vgl. „Liebes Füchslein„), ist beim heiteren Zynismus mancher Märchen-Enden auch nicht wirklich erstaunlich. „Der Wolf und die sieben Geißlein“ besteht eigentlich nur aus Grausamkeiten – man möchte sich die Traumata des siebten Geißleins gar nicht ausmalen. Wo spielt das, in Ruanda? Unter Märchen-Maßstäben ist am Ende aber fast alles gut, der Wolf versinkt wie ein Bauch voller Wackersteine im Brunnen, und dann – wird getanzt. Asterix nichts dagegen. Wir erinnern uns: Sechs Geißlein sind knapp dem Tod entronnen, haben soeben den Wolf von innen gesehen, die Mutter („die die Geißlein liebte wie eine Mutter ihre Kinder liebt“, wie auch sonst) wähnte sich gerade noch sechsfach verwaist, und das siebte und kleinste Zicklein hat das Massaker an den Geschwistern wenn nicht mit angesehen, so doch gehört und musste dabei selbst um sein junges Leben bangen. Dann haben die liebe Geißenmutter und die sieben Kinderlein gemeinschaftlich und in Selbstjustiz den Wolf gemeuchelt, und nach gelungenem Versenken desselben freuen sie sich sehr, tanzen alle um den Brunnen und singen „Der Wolf ist tot, der Wolf ist tot“. Fiderallalalala.
Gut, so geht das zu. Was lernt man davon, abgesehen von praktischen Tipps und Vokabeln (lass niemanden rein, egal wie weiß die Pfote ist;  es ist immer gut, eine Uhr im Haus zu haben; Zwirn ist Faden; Wackersteine, nicht Ackersteine; bevor Du auf den Jäger (Rotkäppchen) oder den Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte wartest (you name it), nimm das Ganze doch einfach selbst in die Hand, und wenn sie nicht gestorben sind, dann tanzen sie noch heute)? Wir verstehen die Welt besser, so ganz allgemein. Die Berufswelt zum Beispiel:
„Wer kann nähen“, fragte mich B. kürzlich, „kannst Du nähen, Mami?“ Nein, ich kann nicht nähen. „Aber meine Omi kann nähen“, sagte er, und tippte an die von Omi genähte Piratenmütze. Ja, Omi kann nähen. „Und Pia, Pia kann nähen.“ Kann sie. Dir eine Schürze, zum Beispiel, mit eingesticktem Namen. „Wer kann noch nähen?“ Nonno kann nähen, Nonno war früher Herrenschneider. Er kann richtig gut nähen. „Ja.“ Und weißt du, wer noch nähen kann? Dein Opa. „Mein Opa kann auch nähen?“ Ja, er kann sogar Menschen wieder zusammennähen. „Was? Du sagst doch Quatsch.“ Doch, so macht er sie gesund. Wenn eine Frau ein Loch im Bauch hat, dann kann Opa das wieder zunähen. „Ah, wie die Geißenmutter! So macht Opa das.“ Ja. Mit Zwirn. (Und dann wirft er sie in den Brunnen und tanzt, nachts, bei Vollmond.)

 

5 Gedanken zu „Heile Welt der Kinderlieder und Märchen: Geißlein (3)

  1. Eine wahre Herausforderung ist es ja, beim Vorlesen immer die gleichen Abschwächungsvarianten zu nehmen.

    Einfach das Original vorzutragen ist für den weichgekochten Anthroposophen-Elter von heute natürlich keine Option. Aber jedes Mal eine andere Version zu nehmen, ist für den abgeklärten Zuhörer von heute wohl ebenso wenig erträglich.

    Schlimm. Alles.

  2. Dreijährige haben auch absolut keine Varianten-Toleranz und erinnern den exakten Wortlaut der ersten Lesung, in die man so reinstolperte. Und fordern ihn ein.

  3. Das Grausame und Böse sei ganz wichtig für Kinder habe ich im Reli-Grundkurs erfahren, wo wir „Kinder brauchen Märchen“ von B. (sic!) Bettelheim lesen mußten.

  4. Pingback: Wo die müden Monster wohnen | Percanta

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