Ich esse nur Dünkelkekse. Das bin ich meinen Titeln schuldig.
O tempora
Wenn ich sagte, bei meinen Studentinnen und Studenten inzwischen kaum noch etwas vorauszusetzen, klänge das viel kulturpessimistischer als es gemeint wäre. Tatsächlich habe ich aber gelernt, dass meine Studenten und mich inzwischen fast eine Generation trennt, gefühlt zwei. Wenn ich nach Ereignissen vor der Wende frage (Rezeption eines politisch engagierten chilenischen Lyrikers beispielsweise, ob sich die ihrer Einschätzung nach in West- und Ost-Deutschland unterschieden haben könnte), dann muss mir klar sein, dass ich mich bei 1993 Geborenen damit auf reines Geschichtswissen beziehe. Die Vorwendezeit können sie beim besten Willen und größtem Engagement nicht erinnern. Entsprechend muss ich auch bei Lektüre-Erfahrungen einfach einen Schritt zurücktreten – die Voraussetzungen sind nun mal nicht (mehr) vergleichbar. Ich weiß nicht, ob sie weniger gelesen haben als wir Studienanfänger vor 15 Jahren, sicher aber anderes. (Ich freue mich trotzdem über jedes schon gelesene oder zum vom Hörensagen bekannte Buch.)
Dennoch. Da war dann diese Gruppe Studenten, eine junge Frau und zwei junge Männer, ich würde sie auf Mitte 20 schätzen, die uns im irgendwo zwischen Hannover und Nordsee im Zug Richtung Norden gegenüber saßen und viele Kilometer lang rätselten, wie die Vorwahl von Niedersachsen sei. Ein Gleichaltriger im gleichen Wagen schaltete sich irgendwann ein und erklärte, jede Stadt oder jeder Landkreis habe seine eigene Vorwahl, sie müssten also für die richtige Vorwahl schon mehr wissen als das Bundesland. Die anderen konnten das nicht glauben, in Hamburg aufgewachsen waren sie, so ihre Erklärung, stets davon ausgegangen, dass jedes Bundesland eine eigene Vorwahl habe. Und nur eine. Der Hilfsbereite nannte als Beispiel die Vorwahl von Emden. Da käme er her, das sei ganz sicher nicht die Vorwahl für das ganze Land. Die Blicke blieben skeptisch. Vielleicht, möglicherweise, eventuell in Niedersachsen; um den Einheimischen nicht zu verärgern wolle man das – für die Dauer der Fahrt, sagten die Blicke – akzeptieren. In Schleswig-Holstein sei das aber wie in Hamburg und Bremen. Da gebe es auch für das ganze Land nur eine Vorwahl. Eine 040 für alle. (Wie die Vorwahl von Schleswig-Holstein lautete, fiel ihnen nicht ein, aber wann muss man denn auch auf Festnetz ins Nachbarland telefonieren.)
Vorwahlen gehören nun wahrlich nicht zum erwarteten mitgebrachten Fachwissen meiner beruflichen Spezialisierung, auch früher nicht, und ich werde nie in die Verlegenheit kommen, Telefonnummern abzufragen. (Hoffe ich.) Und immerhin kannten die jungen Leute aus dem Stand gleich vier Bundesländer, da wäre möglicherweise auch noch mehr drin gewesen. Dennoch hinterließ mich diese Szene etwas ratlos. Ja, vielleicht doch ein Anflug von Kulturpessimismus.
Ratlos nicht zuletzt vielleicht, weil sie auf ihren Smartphones nach dem Prinzip von trial and error zwar verschiedene Vorwahlen zur vorhandenen Rufnummer einer Mitfahrgelegenheit ausprobierten, die aber eventuell auch eine Handynummer war, auch das war nicht sicher, jedoch keiner aus dieser Generation nach langem Zweifeln und Rätseln einfach mal googelte, wie sie denn nun wirklich sei, die gesuchte Vorwahl von Niedersachsen. Etwas auf dem mitgeführtem Smartphone googlen! Das sollte man doch als Kernkompetenz voraussetzen dürfen!
Ich setze nichts mehr voraus.
(Die Nummer der Auskunft ist 11880. Ohne Vorwahl.)
Frühlingsanfang
Frühlingsanfang bei Stoikern. Das Kind wartet, dass der Sand auftaut. Bis dahin gibt es Eiskuchen. Und die Amsel auf dem Balkon lässt sich einschneien, reglos.
„Tummetott spricht zu ihnen. Wichtelworte raunt er ihnen zu: ‚Viele Winter und viele Sommer sah ich kommen und gehn. Geduld nur, Geduld! Der Frühling ist nah.'“ (Astrid Lindgren: Tomte Tummetott. Ü: Silke von Hacht.)
Fünf Kinderbücher plus drei
Nachdem ich gestern meine „Fünf Bücher“ vorstellen durfte, wurde ich nach dem Verbleib einiger anderer Lieblingsbücher gefragt, die es nur oder nicht mal auf die Shortlist geschafft hatten (Kommentare dazu kommen noch), und ich wurde nach den Lieblingsbüchern von Nuno gefragt. Die Frage habe ich an ihn weitergeleitet, und anders als ich konnte er sich sehr schnell entscheiden. „Wir nehmen die fünf dicksten“, sagte er, er ist nämlich ein Vorlesetierchen und genießt es über alle Maßen, vorgelesen zu bekommen. Seine Großmutter liest ihm am Telefon stundenlang vor, während er wie eine Katze auf der Rücklehne des Sofas liegt. Zur Zeit fordert am Telefon Joppe von Gunnel Linde, aus dem Regal gezogen hat er andere – und dann doch nicht nur die dicksten, aber am Ende mehr als fünf. Wir lassen das jetzt so. Die Begründungen sind alle von Nuno, 4 Jahre und 5 Wochen alt. Ich habe nur protokolliert, das hat sich in diesem Blog ja bewährt.
1. Otfried Preußler: Räuber Hotzenplotz
Der Räuber Hotzenklotz! Weil der Seppl und der Kasper die Spur vom Sand gefunden haben. Und weil da ein Polizeimann vorgelesen war. Ich fande es gut, weil der Petrosilius Zwackelmann zaubern konnte.
2. Janosch: Ich mach dich gesund, sagte der Bär
Ich finde das gut, weil er dem kleinen Tiger geholfen hat. Und der Arzt! Und der hat gesagt, nächstes Mal werde ich aber krank, dabei weiß man gar nicht, wann man krank wird.
3. Otfried Preußler: Der kleine Wassermann
Weil der auf dem Karpfen Cyprinus schwimmen durfte. Und den Vater mag ich, weil der kleine Wassermann einmal draußen schwimmen durfte, als er ganz weit weg vom Ufer war.
4. Tomi Ungerer: Crictor, die gute Schlange
Weil da der Polizist dabei war, und die Schlange, weil die den Dieb gefesselt hat, und die Frau. Die heißt Madame Louise Bodot. Und dass die Schlange Zahlen machen kann. Können Schlangen so welche Zahlen?
5. Sven Nordqvist: Ein Feuerwerk für den Fuchs
Und bei Findus mag ich, dass der ein Gespenst war. Und das war alles.
plus 1. Astrid Lindgren: Lotta zieht um
Oh, dieses finde ich glaube ich nicht gut, weil die so böse ist. Aber ich finde es trotzdem gut.
plus 2. Astrid Lindgren: Weihnachten in Bullerbü
Den Großvater. Wir haben schon viele Bücher, aber das soll auch bleiben.
plus 3. A.A. Milne: Pu der Bär
Weil der Pu der Bär… ich finde nicht gut, dass der in die Dornen gefallen ist. Aber dass ihm vorgelesen wird, am Freitag. Das mag ich. Und ich will, dass wir das ganze dicke Buch jetzt lesen.
Fünf Bücher
Heute darf ich als Nummer 178 bei „Fünf Bücher“ mitmachen. Bei diesem schönen Projekt geht es um folgendes:
Heute also ich, mit fünf Titeln von fünf Autoren, deren Auswahl mir schwer fiel (einen Teil meiner Longlist findet sich in der letzten Kurzbesprechung) und die dennoch vielleicht nicht wirklich überraschend ist.
Vom Fenster gesehen
Als ich kurz vor Mitternacht ans Fenster trete, um die Gardinen zu schließen, sehe ich ihn. Auf dem verschneiten Weg zwischen den Garagen und dem Wald ist ein Jogger unterwegs, in einer engen schwarzen Hose und mit einer Mütze läuft er bergauf, stadtauswärts in Richtung Harz. Und er zieht einen leeren Schlitten. Ich schaue ihm nach, bis er mit langen, federnden Schritten im Dunkeln verschwunden ist. Ein Jogger mit Schlitten. Ich bleibe eine Weile am Fenster stehen, wo nichts mehr passiert, und denke darüber nach, in welcher Art Film mitten in der Nacht ein Jogger mit Schlitten vorbeikäme. In einem Krimi hätte er irgendeine sich noch erschließende Funktion (ein Zeuge, vielleicht der Mörder selbst) und würde in einer späteren Szene wieder auftauchen. Aber so eine Art Film ist das nicht. Also wird er nicht zurückkommen, er wird nicht die gerade zurückgelegte Strecke wieder herunterrodeln und es wird nicht erklärt werden, warum er um Mitternacht einen Schlitten zieht, im Laufschritt.
Lovesong
Reimen
Ich habe gerade mal wieder einen Übersetzungsauftrag, es geht um alte, volkstümliche Lieder aus Spanien, zum Teil auf Sephardisch. Die Texte sind nicht immer streng rhythmisch, und ihre Reime sind eher unregelmäßig verteilt und ganz überwiegen assonant. Auf Deutsch wären es „unreine Reime“, im Spanischen sind solche Reime aber nicht despektiertlich „unrein“ – und tunlichst zu vermeiden – sondern schlicht eine andere Art Reime, die genauso viel wert sind und oft gezielt einzusetzen sind als integraler Bestandteil bestimmter Gattungen. Ich übersetze sie trotzdem wenn möglich mit „reinen Reimen“, da Assonanzen im Deutschen eher wie klägliches Versagen des (Nach-)Dichters klingen. Ich brüte also über mehrere Hundert Jahre alten Versen und versuche sie in ein klingendes, angemessenes Deutsch zu bringen, da tritt Isa nebenan eine Limerick-Lawine los. Sie sucht Säuisches in strenger Form und heiterem Sinn. Säuisch kann ich ja nicht, dafür bin ich viel zu bieder, aber bei Limericks kann ich schlecht widerstehen. Also reime ich Limericks, schreibe sie nebenan in die Kommentare, kehre dann brav zu mir nach Hause zurück und habe doch fortan beim Übersetzen einen Limerick-Sound im Ohr. Das kann ganz gut sein, in meinen Übersetzungskursen habe ich manchmal lange Texte als Limerick übersetzen zu lassen – als Fingerübung und um sich von der Wörtlichkeit zu lösen. Meine sephardischen Lieder sind allerdings keine Limericks, das Reimzentrum ist nun aber gelockert und formuliert so manchen Vers entspannt um, Hauptsache die Pointe sitzt. Dann ist da aber gar keine Pointe und ich muss zurück auf Anfang. Aber wer könnte einem Wels am Haken widerstehen, wenn auf wälzen und Laken gereimt werden soll? Eben.
Oder der Schluss von diesem Lied:
„Dámelos tú por amor
Sabrás, la mi querida
Que por tí me muero yo.“
Entweder macht man daraus einen Schlager, das passiert auch gern von allein (etwas weiter oben ist von sieben Städten die Rede, durch die er ging. Über sieben Brücken, und über den Wolken, da wird dann Marmorstein und Eisen sein.) Die folgenden Zeilen sind da doch eine vollkommen angemessene Übertragung, scheint mir:
„Aus Liebe gib sie mir,
[…]
ich sterbe doch für dir
die Sprache stirbt gleich mit
dann sterben wir zu dritt.“
Für eine Gernhardtisierung der Übersetzungen. Und jetzt mach ich aus dem Lied noch einen Limerick, so kann das ja nicht stehen bleiben.
Romantitelfoto
Wenn ich mal einen kitschigen Buchtitel brauchen sollte: Schnee, der auf Wimpern schmilzt.
Wir Gipfelstürmer
Als Nuno und ich um kurz nach 8 an die Bushaltestelle vor dem Haus kommen, stehen und sitzen da schon eine ganze Reihe Nachbarn, die sich, ungewöhnlich für den Wesenszug der Menschen dieser Region, ungewöhnlich vor allem aber für die Uhrzeit, alle unterhalten. „Der kommt wohl auch nicht“, brummen sie, „angeblich ist ein Bus weiter unten liegengeblieben“ und „ein Lieferwagen hat ihm die Vorfahrt genommen, vielleicht.“ In der Nacht hat es wieder geschneit und es schneit immer noch, Nuno kickt kleine Schneebälle herum, leckt sich die Flocken von den Lippen und ist vergnügt, die Erwachsenen sind eher verärgert. Inzwischen ist die Abfahrtszeit des 8 Uhr 15-Busses deutlich verstrichen. Da es der Endpunkt der Linie ist und die Fahrer hier stets fünf bis acht Minuten Pause haben, ist auch das ungewöhnlich. „Der letzte ist auch nicht gekommen, der davor wohl auch nicht.“ Bei der Infozentrale der städtischen Verkehrsbetriebe geht niemand ans Telefon, aber dass ich telefoniere, bringt die Smartphonebesitzer auf Ideen, sie googlen Verbindungen anderer Linien, die noch erreichbar sein könnten von hier oben aus, und dann bilden sich kleine Gehgemeinschaften in Richtung anderer möglicher Buslinien. Nuno und ich schließen uns zunächst ebenfalls einem Grüppchen an, erkennen aber bald, dass wir diesen Bus – wenn er denn fährt – auf vierjährigen Beinen in Schneeschuhen auch nicht erreichen werden, und außerdem gehen wir im Verhältnis zur Kita in die völlig falsche Richtung. Wir versuchen es Richtung Innenstadt, um dort unsere Umsteigeverbindung zu erwischen.
Der Weg durch Schnee ist nicht unangenehm, wenn man beim Laufen Spuren und feuchte Schneebälle machen kann, ist die Strecke ohne größeres Murren zu schaffen, nur fast in Sichtweite der Haltestelle muss ich den kleinen Schneewanderer ein bisschen Huckepack nehmen. Nach etwas mehr als einer halben Stunde sind wir in der Stadt – und haben den Bus zur Kita knapp verpasst. Eine weitere halbe Stunde zu warten ist dann nicht mehr ganz so lustig, aber auch die Zeit geht um, und diese Linie scheint ganz regulär und pünktlich zu fahren.
Was mit der Linie 9 sei, frage ich die Busfahrerin, ob die heute gar nicht fahre?
„Nein“, erklärt sie knapp, „wegen des starken Schneefalls werden Höhenlagen heute nicht angefahren.“ Starker Schneefall! Höhenlagen! Auch Sie werden nun sofort ein Bild von der Zugspitze im Kopf haben, 3 Meter Neuschnee über Nacht, eingeschneite Gemsen, nur kleine Glöckchen an den Hörnerspitzen verraten noch ihren Standort. Wenn nicht Zugspitze, dann doch zumindest das Bergpanorama irgendeines idyllischen, aber eben im Winter durch Lawinen abgeschnittenen Skiortes in den Alpen, wo Heidi in ihrer Berghütte ein Loch in die Eisblumen an der Scheibe kratzt, aber auch draußen nur Schnee, der das Fenster vollständig zugeweht hat. „Du kannst heute nicht zur Schule“, sagt der Almöhi, „im Frühjahr wieder.“ Nur sagt er das natürlich im Dialekt.
So ist die Natur, und es ist doch eigentlich toll, dass man auch als moderner Stadtmensch die Jahreszeiten noch auf diese Art merkt.
Auch ich behaupte ja gerne, dass ich nun „auf dem Berg“ wohne. Aber mich dürfen Sie da nicht zu ernst nehmen, ich komme nämlich aus einer Gegend, wo man in der Fahrstunde das Anfahren am Berg am Deich oder an der Schleusenbrücke lernt. Vor diesem Hintergrund ist jeder Hügel ein Gipfel, jede Kurve eine Serpentine und jedes in dieser Höhe, fast an der Baumgrenze anzutreffende Kaninchen ein Murmeltier. Und das geht offenbar nicht nur mir so, die städtischen Verkehrsbetriebe scheinen das ähnlich zu empfinden. Wegen des starken Schneefalls werden Höhenlagen heute nicht angefahren. Sie dürfen angemessen beeindruckt sein. Es sind nämlich bestimmt 5 cm Schnee, vertikal gemessen, horizontal noch deutlich mehr, und es handelt sich um die äußerste Höhenlage in einer Kleinstadt in Niedersachsen. In dem Bundesland, das seine Flachheit im Namen trägt. Ahoi und Glück auf, wie wir in den Bergen sagen.