Wir Gipfelstürmer

Als Nuno und ich um kurz nach 8 an die Bushaltestelle vor dem Haus kommen, stehen und sitzen da schon eine ganze Reihe Nachbarn, die sich, ungewöhnlich für den Wesenszug der Menschen dieser Region, ungewöhnlich vor allem aber für die Uhrzeit, alle unterhalten. „Der kommt wohl auch nicht“, brummen sie, „angeblich ist ein Bus weiter unten liegengeblieben“ und „ein Lieferwagen hat ihm die Vorfahrt genommen, vielleicht.“ In der Nacht hat es wieder geschneit und es schneit immer noch, Nuno kickt kleine Schneebälle herum, leckt sich die Flocken von den Lippen und ist vergnügt, die Erwachsenen sind eher verärgert. Inzwischen ist die Abfahrtszeit des 8 Uhr 15-Busses deutlich verstrichen. Da es der Endpunkt der Linie ist und die Fahrer hier stets fünf bis acht Minuten Pause haben, ist auch das ungewöhnlich. „Der letzte ist auch nicht gekommen, der davor wohl auch nicht.“ Bei der Infozentrale der städtischen Verkehrsbetriebe geht niemand ans Telefon, aber dass ich telefoniere, bringt die Smartphonebesitzer auf Ideen, sie googlen Verbindungen anderer Linien, die noch erreichbar sein könnten von hier oben aus, und dann bilden sich kleine Gehgemeinschaften in Richtung anderer möglicher Buslinien. Nuno und ich schließen uns zunächst ebenfalls einem Grüppchen an, erkennen aber bald, dass wir diesen Bus – wenn er denn fährt – auf vierjährigen Beinen in Schneeschuhen auch nicht erreichen werden, und außerdem gehen wir im Verhältnis zur Kita in die völlig falsche Richtung. Wir versuchen es Richtung Innenstadt, um dort unsere Umsteigeverbindung zu erwischen.
Der Weg durch Schnee ist nicht unangenehm, wenn man beim Laufen Spuren und feuchte Schneebälle machen kann, ist die Strecke ohne größeres Murren zu schaffen, nur fast in Sichtweite der Haltestelle muss ich den kleinen Schneewanderer ein bisschen Huckepack nehmen. Nach etwas mehr als einer halben Stunde sind wir in der Stadt – und haben den Bus zur Kita knapp verpasst. Eine weitere halbe Stunde zu warten ist dann nicht mehr ganz so lustig, aber auch die Zeit geht um, und diese Linie scheint ganz regulär und pünktlich zu fahren.
Was mit der Linie 9 sei, frage ich die Busfahrerin, ob die heute gar nicht fahre?
„Nein“, erklärt sie knapp, „wegen des starken Schneefalls werden Höhenlagen heute nicht angefahren.“ Starker Schneefall! Höhenlagen! Auch Sie werden nun sofort ein Bild von der Zugspitze im Kopf haben, 3 Meter Neuschnee über Nacht, eingeschneite Gemsen, nur kleine Glöckchen an den Hörnerspitzen verraten noch ihren Standort. Wenn nicht Zugspitze, dann doch zumindest das Bergpanorama irgendeines idyllischen, aber eben im Winter durch Lawinen abgeschnittenen Skiortes in den Alpen, wo Heidi in ihrer Berghütte ein Loch in die Eisblumen an der Scheibe kratzt, aber auch draußen nur Schnee, der das Fenster vollständig zugeweht hat. „Du kannst heute nicht zur Schule“, sagt der Almöhi, „im Frühjahr wieder.“ Nur sagt er das natürlich im Dialekt.
So ist die Natur, und es ist doch eigentlich toll, dass man auch als moderner Stadtmensch die Jahreszeiten noch auf diese Art merkt.
Auch ich behaupte ja gerne, dass ich nun „auf dem Berg“ wohne. Aber mich dürfen Sie da nicht zu ernst nehmen, ich komme nämlich aus einer Gegend, wo man in der Fahrstunde das Anfahren am Berg am Deich oder an der Schleusenbrücke lernt. Vor diesem Hintergrund ist jeder Hügel ein Gipfel, jede Kurve eine Serpentine und jedes in dieser Höhe, fast an der Baumgrenze anzutreffende Kaninchen ein Murmeltier. Und das geht offenbar nicht nur mir so, die städtischen Verkehrsbetriebe scheinen das ähnlich zu empfinden. Wegen des starken Schneefalls werden Höhenlagen heute nicht angefahren. Sie dürfen angemessen beeindruckt sein. Es sind nämlich bestimmt 5 cm Schnee, vertikal gemessen, horizontal noch deutlich mehr, und es handelt sich um die äußerste Höhenlage in einer Kleinstadt in Niedersachsen. In dem Bundesland, das seine Flachheit im Namen trägt. Ahoi und Glück auf, wie wir in den Bergen sagen.

4 Gedanken zu „Wir Gipfelstürmer

  1. Wusst ichs doch! Die Kleinstadt liegt im Oberharz und nach München ist es nur ein Katzensprung. Ab sofort werde ich meine Süddeutschlandgrenze weiter nördlich ziehen.

  2. Zwei Schneeflocken treffen sich.
    Fragt die eine“ Wo gehst Du hin?“
    “ Naxh Canada. Die Menschen werden sich freuen, sie werden Ski fahren und Iglus bauen. Und wo gehtst Du hin?“
    “ Nach Deutschland, Panik verbreiten.“

  3. ihr wohnt in Geismar und die Kita ist am Klausberg? Oder andersrum? Die Busstrecke klingt jedenfalls ermüdend und unangemessen.

  4. Gut kombiniert, apriori, aber nicht ganz. (Irgendwas auf der Klausberg-Linie wäre die alternative Bushaltestelle der Wandergruppe gewesen.)

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