Dresscode

Was bringt eigentlich so viele Menschen dazu, komplett verkleidet ins Fußballstadion zu gehen? Reicht Trikot nicht mehr aus zum Flagge zeigen? Auch die bei Länderspielen auf die Wangen gepinselten Fähnchen breiten sich inzwischen über den ganzen Körper aus. Machen das eigentlich auch nur die Event-Fans, oder malen sich die Anhänger von Werder Bremen inzwischen auch komplett grün an, wenn sie ins Stadion gehen, und verkleiden sich die Kölner als Ziegen? Und gehen vor allem die Leute als Kuh, griechischer Gott und Supermann zum Fußball, die nicht aus Karnevalsregionen kommen und jetzt endlich mal dürfen, oder sind die komplett Verkleideten im Februar auch Karnevalsprinzen? Die komischen argentinischen Hüte sieht man schon lange –  lösen in der nächsten Saison Käsehüte, Blumenkränze und Murmeltiermasken auch die klassischen und anscheinend bereits fast ausgestorbenen Kutten in der Fankurve ab?

Ich weiß es nicht, aber albern kostümierte Fans gibt es jetzt auch hier. (Und wenn sie sich fragen, wem die in die Kameras gezeigten Herzchen gelten – hier fühlt sich jemand angesprochen. <3 )

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Außerdem meckert der kleine Kerl im Messi-Trikot über die Aussprache des Kommentators. „Oar! Der soll Rrrrrrrojo sagen! Rrrojo! Warum sagt der das nicht richtig?“
Ich habe damit nichts zu tun.

Total geheimer Geheimscheiß

Ok, vielleicht gucke ich gerade ein bisschen viel „24“ (unser Wellensittich hört jetzt auch auf den Namen Agent Fritzchen). Aber die Nachricht, dass Geheimdienste auch verschlüsselte Daten lesen können, ist doch etwas niedlich. Kalle Blomquist, Tony Almeida und ich wundern uns jedenfalls über die große Aufregung – wäre es nicht eher eine Nachricht, wenn Geheimdienste KEINE Nachrichten entschlüsseln könnten?

Bitte nicht stören!

Letzter Tag im Semester, Klausuraufsicht. An der Tür ein großes, farbiges Schild: „PRÜFUNG! Bitte nicht stören!!“ Gut 40 gebeugte Köpfe. Schreibende Hände, streichende Hände, rote Wangen. Mehr Papier, bitte. Blättern im Wörterbuch. Der junge Mann in der Ecke überprüft, ob auf seinem Unterarm etwas Brauchbares notiert ist. Wie lange noch?
Noch 10 Minuten.
Einige geben ab.
Noch 5 Minuten.
Die Tür geht auf, eine ältere Dame mit blauer Handtasche und blauem Hut kommt herein.
Ich gucke sie an.
„Wer zur Prüfung kommt, muss mitschreiben. Wir sind hier noch nicht fertig.“
„Hm?“
Sie stellt ihre Handtasche auf einen der Tische in der ersten Reihe, direkt neben den Prüfungsbogen der dort sitzenden Studentin. Mallorca-Gefühle.
„Bitte warten Sie draußen! Wir schreiben hier eine Prüfung und sind noch nicht fertig!“
„Ach?“
Hinter ihr drängen weitere silberhaarige Herrschaften in den Raum.
„Bitte. warten. Sie. draußen.“
„Ah. Aber meine Tasche, die kann ich doch schon mal hierlassen, ja?“
„Äh? Ja. Aber! Verlassen Sie bitte den Raum und warten Sie draußen! Jetzt! Alle! Und machen Sie die Tür wieder zu! Wir haben hier Prüfung!“
Die älteren Damen und Herren raffen – mit Ausnahme der blauen Handtasche für den guten Platz gleich – ihr Zeug zusammen und begeben sich umständlich wieder zur Tür heraus. Tür zu.
Keiner schreibt mehr, alle gucken mich an, einige lachen. „Universität des dritten Lebensalters. Die haben es immer so eilig.“ Dann beugen sie sich wieder über ihre Bögen.
Noch 3 Minuten.

O tempora

Wenn ich sagte, bei meinen Studentinnen und Studenten inzwischen kaum noch etwas vorauszusetzen, klänge das viel kulturpessimistischer als es gemeint wäre. Tatsächlich habe ich aber gelernt, dass meine Studenten und mich inzwischen fast eine Generation trennt, gefühlt zwei. Wenn ich nach Ereignissen vor der Wende frage (Rezeption eines politisch engagierten chilenischen Lyrikers beispielsweise, ob sich die ihrer Einschätzung nach in West- und Ost-Deutschland unterschieden haben könnte), dann muss mir klar sein, dass ich mich bei 1993 Geborenen damit auf reines Geschichtswissen beziehe. Die Vorwendezeit können sie beim besten Willen und größtem Engagement nicht erinnern. Entsprechend muss ich auch bei Lektüre-Erfahrungen einfach einen Schritt zurücktreten – die Voraussetzungen sind nun mal nicht (mehr) vergleichbar. Ich weiß nicht, ob sie weniger gelesen haben als wir Studienanfänger vor 15 Jahren, sicher aber anderes. (Ich freue mich trotzdem über jedes schon gelesene oder zum vom Hörensagen bekannte Buch.)
Dennoch. Da war dann diese Gruppe Studenten, eine junge Frau und zwei junge Männer, ich würde sie auf Mitte 20 schätzen, die uns im irgendwo zwischen Hannover und Nordsee im Zug Richtung Norden gegenüber saßen und viele Kilometer lang rätselten, wie die Vorwahl von Niedersachsen sei. Ein Gleichaltriger im gleichen Wagen schaltete sich irgendwann ein und erklärte, jede Stadt oder jeder Landkreis habe seine eigene Vorwahl, sie müssten also für die richtige Vorwahl schon mehr wissen als das Bundesland. Die anderen konnten das nicht glauben, in Hamburg aufgewachsen waren sie, so ihre Erklärung, stets davon ausgegangen, dass jedes Bundesland eine eigene Vorwahl habe. Und nur eine. Der Hilfsbereite nannte als Beispiel die Vorwahl von Emden. Da käme er her, das sei ganz sicher nicht die Vorwahl für das ganze Land. Die Blicke blieben skeptisch. Vielleicht, möglicherweise, eventuell in Niedersachsen; um den Einheimischen nicht zu verärgern wolle man das – für die Dauer der Fahrt, sagten die Blicke – akzeptieren. In Schleswig-Holstein sei das aber wie in Hamburg und Bremen. Da gebe es auch für das ganze Land nur eine Vorwahl. Eine 040 für alle. (Wie die Vorwahl von Schleswig-Holstein lautete, fiel ihnen nicht ein, aber wann muss man denn auch auf Festnetz ins Nachbarland telefonieren.)
Vorwahlen gehören nun wahrlich nicht zum erwarteten mitgebrachten Fachwissen meiner beruflichen Spezialisierung, auch früher nicht, und ich werde nie in die Verlegenheit kommen, Telefonnummern abzufragen. (Hoffe ich.) Und immerhin kannten die jungen Leute aus dem Stand gleich vier Bundesländer, da wäre möglicherweise auch noch mehr drin gewesen. Dennoch hinterließ mich diese Szene etwas ratlos. Ja, vielleicht doch ein Anflug von Kulturpessimismus.
Ratlos nicht zuletzt vielleicht, weil sie auf ihren Smartphones nach dem Prinzip von trial and error zwar verschiedene Vorwahlen zur vorhandenen Rufnummer einer Mitfahrgelegenheit ausprobierten, die aber eventuell auch eine Handynummer war, auch das war nicht sicher, jedoch keiner aus dieser Generation nach langem Zweifeln und Rätseln einfach mal googelte, wie sie denn nun wirklich sei, die gesuchte Vorwahl von Niedersachsen. Etwas auf dem mitgeführtem Smartphone googlen! Das sollte man doch als Kernkompetenz voraussetzen dürfen!
Ich setze nichts mehr voraus.
(Die Nummer der Auskunft ist 11880. Ohne Vorwahl.)

Wir Gipfelstürmer

Als Nuno und ich um kurz nach 8 an die Bushaltestelle vor dem Haus kommen, stehen und sitzen da schon eine ganze Reihe Nachbarn, die sich, ungewöhnlich für den Wesenszug der Menschen dieser Region, ungewöhnlich vor allem aber für die Uhrzeit, alle unterhalten. „Der kommt wohl auch nicht“, brummen sie, „angeblich ist ein Bus weiter unten liegengeblieben“ und „ein Lieferwagen hat ihm die Vorfahrt genommen, vielleicht.“ In der Nacht hat es wieder geschneit und es schneit immer noch, Nuno kickt kleine Schneebälle herum, leckt sich die Flocken von den Lippen und ist vergnügt, die Erwachsenen sind eher verärgert. Inzwischen ist die Abfahrtszeit des 8 Uhr 15-Busses deutlich verstrichen. Da es der Endpunkt der Linie ist und die Fahrer hier stets fünf bis acht Minuten Pause haben, ist auch das ungewöhnlich. „Der letzte ist auch nicht gekommen, der davor wohl auch nicht.“ Bei der Infozentrale der städtischen Verkehrsbetriebe geht niemand ans Telefon, aber dass ich telefoniere, bringt die Smartphonebesitzer auf Ideen, sie googlen Verbindungen anderer Linien, die noch erreichbar sein könnten von hier oben aus, und dann bilden sich kleine Gehgemeinschaften in Richtung anderer möglicher Buslinien. Nuno und ich schließen uns zunächst ebenfalls einem Grüppchen an, erkennen aber bald, dass wir diesen Bus – wenn er denn fährt – auf vierjährigen Beinen in Schneeschuhen auch nicht erreichen werden, und außerdem gehen wir im Verhältnis zur Kita in die völlig falsche Richtung. Wir versuchen es Richtung Innenstadt, um dort unsere Umsteigeverbindung zu erwischen.
Der Weg durch Schnee ist nicht unangenehm, wenn man beim Laufen Spuren und feuchte Schneebälle machen kann, ist die Strecke ohne größeres Murren zu schaffen, nur fast in Sichtweite der Haltestelle muss ich den kleinen Schneewanderer ein bisschen Huckepack nehmen. Nach etwas mehr als einer halben Stunde sind wir in der Stadt – und haben den Bus zur Kita knapp verpasst. Eine weitere halbe Stunde zu warten ist dann nicht mehr ganz so lustig, aber auch die Zeit geht um, und diese Linie scheint ganz regulär und pünktlich zu fahren.
Was mit der Linie 9 sei, frage ich die Busfahrerin, ob die heute gar nicht fahre?
„Nein“, erklärt sie knapp, „wegen des starken Schneefalls werden Höhenlagen heute nicht angefahren.“ Starker Schneefall! Höhenlagen! Auch Sie werden nun sofort ein Bild von der Zugspitze im Kopf haben, 3 Meter Neuschnee über Nacht, eingeschneite Gemsen, nur kleine Glöckchen an den Hörnerspitzen verraten noch ihren Standort. Wenn nicht Zugspitze, dann doch zumindest das Bergpanorama irgendeines idyllischen, aber eben im Winter durch Lawinen abgeschnittenen Skiortes in den Alpen, wo Heidi in ihrer Berghütte ein Loch in die Eisblumen an der Scheibe kratzt, aber auch draußen nur Schnee, der das Fenster vollständig zugeweht hat. „Du kannst heute nicht zur Schule“, sagt der Almöhi, „im Frühjahr wieder.“ Nur sagt er das natürlich im Dialekt.
So ist die Natur, und es ist doch eigentlich toll, dass man auch als moderner Stadtmensch die Jahreszeiten noch auf diese Art merkt.
Auch ich behaupte ja gerne, dass ich nun „auf dem Berg“ wohne. Aber mich dürfen Sie da nicht zu ernst nehmen, ich komme nämlich aus einer Gegend, wo man in der Fahrstunde das Anfahren am Berg am Deich oder an der Schleusenbrücke lernt. Vor diesem Hintergrund ist jeder Hügel ein Gipfel, jede Kurve eine Serpentine und jedes in dieser Höhe, fast an der Baumgrenze anzutreffende Kaninchen ein Murmeltier. Und das geht offenbar nicht nur mir so, die städtischen Verkehrsbetriebe scheinen das ähnlich zu empfinden. Wegen des starken Schneefalls werden Höhenlagen heute nicht angefahren. Sie dürfen angemessen beeindruckt sein. Es sind nämlich bestimmt 5 cm Schnee, vertikal gemessen, horizontal noch deutlich mehr, und es handelt sich um die äußerste Höhenlage in einer Kleinstadt in Niedersachsen. In dem Bundesland, das seine Flachheit im Namen trägt. Ahoi und Glück auf, wie wir in den Bergen sagen.

on my way

Ich mache keine Radtouren, ich fahre Rad, von A nach B. Wenn ich nicht Rad fahre, gehe ich zu Fuß oder fahre neuerdings manchmal mit dem Auto. Bei Schnee und Eis lässt mich der Lieblingsitaliener nicht mit dem Fahrrad los, vor allem nicht mit dem Kind im Kindersitz, und angesichts der Serpentinen, die unsere Waldwohnung mit der Stadt verbinden, hat er natürlich und wie immer vollkommen Recht. Nun liegt Schnee und Eis, und gar nicht wenig, also muss das Rad im Schuppen bleiben, und als Fahranfänger traue ich mich auch nicht mit dem Auto die Berge runter. Irgendwie muss Nuno aber in die Kita kommen, und ich zur Arbeit.  „Öffentliche“, denken jetzt alle großstädtischen Leser, aber mit den Öffentlichen ist das so eine Sache in der Kleinstadt. (Gemeinsame Wunschliste für unsere nächste Stadt: ernstzunehmendes Wasser, Uni, Straßenbahn, Bundesligaverein.) Die Öffentlichen beschränken sich hier auf genau ein Verkehrsmittel, auf den Bus. Zur Arbeit kann man sehr gut mit dem Bus fahren, die Verbindung ist geradezu sensationell gut. Die Kita liegt allerdings in einer anderen Ecke unserer kleinen Stadt. Wir wohnen auf Berg 1 im Osten, die Innenstadt liegt im Tal, die Arbeit nördliche angrenzend zur Innenstadt, die Kita liegt auf Berg 2 im Süden.
Ich weiß nicht, wie groß der Höhenunterschied zwischen unserem Berg und der Innenstadt in Metern ist, in Grad Celsius sind es 3°, und das ist momentan der Unterschied zwischen Schnee (oben) und Matsch (unten), und – mit dem Rad – jede Menge Muskelkater.
Nuno muss also in die Kita. Die Verbindung vom höheren Berg 1 zum niedrigeren Berg 2 ist möglich, ohne Wolfsschluchten zu überwinden. Mit dem Fahrrad fahre ich sehr idyllisch am Waldrand entlang, dann zwischen Park und Wald und durch ein wenig Villengegend, dann wieder Wald und Wohnviertel, außerdem geht es bergab und ich bin morgens, wenn die Zeit drängt, sehr schnell da. Der Rückweg ist mühsamer, aber am Ende der Saison machbar. Mit dem Auto führt die Strecke etwas weiter vom Wald weg, verläuft sonst ähnlich. Und mit dem Bus kann man das eigentlich vergessen. Der Bus fährt zwar direkt vor dem Haus ab, nimmt dann aber Irrwege, und Querverbindungen sind tabu. Dank Eis und Schnee habe ich gerade eine kleine Versuchsreihe laufen. Nehmen wir der Einfachheit halber den Weg Waldwohnung – Kita – Waldwohnung; gehe ich von der Kita zur Arbeit, geht dieses Streckenstück ein wenig schneller, aber nicht viel.
Fahrrad, wenn es das Klima zulässt: Hinweg: 10 Minuten, Rückweg etwa 25 Minuten (ohne zu schieben!)
Auto: Hinweg: 8 Minuten, Rückweg ebenfalls 8 Minuten.
Bus: Die Seite der Verkehrsbetriebe schlägt folgende Optionen vor:
a) 24 min Fußweg Richtung Zentrum – 6 min Bus – 16 min Fußweg. Macht 46 Minuten, einfacher Weg. Rückweg gucke ich gar nicht nach.
b) 6 min Bus Richtung Arbeit – 3 min Überlandbus – 2 min Fußweg – anderer Überlandbus Richtung Nachbarstadt – 6 min Fußweg. Gesamt, Hinweg: 35 Minuten. Und 3x Umsteigen und schwer kalkulierbare Kosten, da die Überlandbusse nicht zum Stadtverbund gehören.
c) 14 min Bus ins Zentrum – 10 min Umsteigezeit – 10 min Bus Richtung Kita (!) – 6 min Fußweg. Gesamt, nur Hinweg: 40 Minuten. Vorweggegriffen: Das ist die einzig sinnvolle Verbindung, wenn ich mit einem Dreijährigen unterwegs bin.
d) 23 min Fußweg Richtung Zentrum – 2 min (!) Bus – 18 min Fußweg.  Gesamt: 43 Minuten (nur Hinweg), und das nennt die Seite „direkt“.
Also, wenn ich mit Nuno fahre, muss ich c) nehmen – in die Stadt fahren, umsteigen, in die andere Richtung wieder hoch, und das gleiche dann zurück, ich bin dann insgesamt 90 Minuten unterwegs.
I’m on my way, won’t be back for many a day…
Option a) und d) haben mich aber darauf gebracht, doch vielleicht einfach direkt zu laufen – für 2 Minuten Busfahrt muss man ja weder einen Umweg gehen noch 2 Euro zahlen. Um Nuno abzuholen, bin ich also gestern zu Fuß los, wetterfest eingepackt, mit Weihnachtsoratorium auf den Ohren, leichtem Schneeregen und Stoppuhr: 30 bis 35 Minuten.  Und deutlich angenehmer als mit dem Bus. Den muss ich dann für den Weg mit Kind trotzdem nutzen, allein ist der zügige Spaziergang aber besser als alle anderen innerstädtischen Weltreisen. Ich gehe nicht spazieren, ich gehe hin. Zum Rodeln oder Schlittenziehen waren gestern die Wege zu stark gestreut und zu matschig, wenn es weiter schneit, können wir vielleicht auch den Schlitten nehmen, bergab geht es dann schnell, bergauf tu ich was für die Kondition. Fallt mit Danken, fallt mit Loben.

Zu verbessern gibt es aber bei der Variante Spaziergang zwei Dinge:
1. andere Schuhe, um nach 35 Minuten Fußmarsch nicht vier bis acht Stunden lang nasse Füße zu haben
2. Wohnungsschlüssel mitnehmen, um nach der Rückkehr nicht 90 Minuten im Treppenhaus zu sitzen.
Dann klappt es auch mit der Zeitersparnis.

Fremdsprachen [oder: Wie wir uns bei Bauchentscheidungen mit vermeintlichen Vernunftgründen selbst in die Tasche lügen]

Beim Übergang auf das Gymnasium musste ich entscheiden, ob ich als zweite Fremdsprache Französisch oder Latein lernen wollte. Verschiedene Aspekte beeinflussten meine Entscheidung, ohne dass ich sie wirklich reflektiert hätte – nicht ohne Wirkung waren aber sicherlich der im Nachbarhaus wohnende Lateinlehrer, familiäre Traditionen und das mit vorfreudiger Begeisterung einhergehende bildungshungrige Gefühl, Latein zu können wäre irgendwie cooler als Schüleraustausch mit Aix en Provence.
Tatsächlich als Argumente verstand und vertrat ich anstelle dieser diffusen Gefühligkeiten aber dies: Ich wählte Latein statt Französisch, weil ich fand, dass Franzosen bekloppt zählen. Quatre-vingts? Vier mal zwanzig?! Ihr sagt im Ernst vier mal zwanzig? Eine Sprache mit solchen Zahlen wollte ich nicht lernen. Die mithin ganz vernünftige und rationale Entscheidung gegen Französisch und für Latein traf ich MCMLXXXIX.

Random thinking

Ich überlege, ob ich meinen Verlag auch Zufälliges Pinguin-Haus nennen wollte.
(Was geht mit Willkürlicher Wildschwein-Winkel? Oder hab ich da was grundsätzlich falsch verstanden?)

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Auf den plötzlichen Wintereinbruch mit einem Mützen-Notkauf reagiert. Ein leicht flusiges Grau, unauffällig, wärmend und dabei überraschend kratzig. Extrem kratzig, untragbar kratzig eigentlich. Ein Blick auf das Schild klärt auf: 70% Wolle, 20% Angora, 10% Plastik. Wer kann denn so viel Wolle auf dem Kopf aushalten? Ich kaum, obwohl mit allen zehn Fingern die Stirn zu kratzen natürlich auch schön warm macht. Etwas blutig, aber warm. Und dafür hab ich die Mütze ja gekauft.

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Nennt sich die Schwulenbewegung von Luxemburg eigentlich „Rosa Luxemburg“?

Sommersprossen

Nach einem Wochenende in der Jugendherberge hatte ich das dringende Bedürfnis, Brot aller Arten aus meinem Speiseplan zu streichen. Es wurde ersetzt durch Obst und Joghurt am Morgen, mittags gab es Salat in der Mensa. Das Salatbuffet ist appetitlich, vielfältig und lecker, die Umstellung war kein Verzicht, sondern Genuss, und nach knapp zwei Wochen im Kaninchenmodus fühlte ich mich deutlich besser als vorher. Dann kam Ehec, und die Mensa – wir wohnen immerhin in einem der Bundesländer des Bösen – strich Tag für Tag mehr aus dem Salatangebot. Erst gab es keine spanischen und deutschen Gurken und Tomaten mehr, dann unabhängig von der Herkunft gar keine Blattsalate, Tomaten und Gurken mehr, dann überhaupt nichts, was man nicht vernünftig schälen kann oder was nicht aus der Erde oder aus Dosen kommt. (Wieso man Gurken nicht einfach schält, habe ich mich von Anfang an gefragt, aber gut.) Statt Grünzeug gab es Farbiges, Möhren, Bohnen, Mais waren die neuen Basics, ergänzt um neue Schmankerl, die sonst nicht Teil des Mensaangebots sind, wie jede Menge Sämereien und Sprossen. Über die habe ich mich gefreut und meine Salatteller entsprechend bestückt. Viel Möhren, viele Keimlinge, viele Sprossen.
Die neuesten Entwicklungen entbehren nicht einer gewissen Komik.