Eigenarten, Weltsichten

Endlich hat Wolfgang Herrndorf wieder geschrieben. Die Abstände zwischen seinen Einträgen sind lang, und abgesehen davon, dass man wegen der Großartigkeit des Geschriebenen gern mehr davon läse, wird einem etwas bang bei so langen Pausen. Aber heute steht dort wieder etwas, zum Beispiel dieses:

Passig erzählt, daß sie zu jedem Wort, das sie kennt (von banalen Wörtern wie Präpositionen abgesehen), weiß, wo sie es zum ersten Mal gehört hat. Und sie dachte bis jetzt, es ginge jedem so. Ich hatte mal eine Freundin, D., die, sobald sie sich hinlegte und die Augen schloß, Traumbilder vor sich ablaufen sah wie in richtigen Träumen. Dachte auch, das ginge jedem so.


Wozu mir einfällt, dass ich mich zwar nur bei wenigen Wörtern an den Erstkontakt erinnere, dafür aber meistens mit Untertiteln höre. Wenn jemand – jemand anders oder ich selbst – spricht, sehe ich das Gesproche in Untertiteln durchlaufen. Nicht immer, aber häufig, und sobald ich davon erzählt habe, wieder verstärkt. Je bewusster ich spreche oder zuhöre, desto zuverlässiger erscheinen die Untertitel. Auch ich habe das für normal gehalten, bis ich es kurz vor dem Abi mal jemandem erzählte.
Ich habe so früh lesen gelernt, dass ich mich nicht erinnere, wie Hören ohne Verschriftlichung war, aber bis heute ist es ein Problem, etwas nur nach Gehör zu verstehen, wenn ich nicht weiß, wie man es schreibt. Fremdsprachen nur nach Hörverstehen zu lernen? Mir schier unmöglich. Eigennamen kann ich mir nicht merken, wenn ich keine Vorstellung von der Schreibweise habe, weshalb ich das immer als erstes frage, sonst ist da eine unscharfe Stelle im eingeblendeten Text. Und die permanente falsche Aussprache des Namens von der Leyen ärgert mich doppelt, weil es in der Unterzeile bei mir dann wie „Vónderlein“ aussieht, was ja Quatsch ist. Die zu Schulzeiten geführten Diskussionen über die korrekte schriftliche Wiedergabe von Äußerungen wie zustimmendem „mhmmhm“, ablehnendem „‚m-‚m“ oder abwägendem „hmm“ waren wichtiger, als meine Gesprächspartner geahnt haben dürften. Ablehnungsgeräusche kann ich bis heute nicht scharf erkennen.

Und in welcher privaten Normalität bewegt sich Ihre Wahrnehmung?

Erscheinungen

Ein kurzer Eintrag zwischendurch, ich muss mich dann noch um unser Nutzvieh kümmern.
Der neuste Spleen des Kindes, bei den Großeltern begonnen, nun auch hier: Er deutet mit sparsamer Gestik, den Arm eng am Körper, gerade nur den Zeigefinger neben der Nase ausgestreckt, in eine Ecke des Esszimmers, und flüstert:
Kuh kommt.“
Nachfragen beantwortet er sparsam. Da kommt eine Kuh aus der Ecke? „Ja…„. Und was macht die Kuh da? „Muh.“
Ihr Kind hat einen imaginären Freund? Wir haben eine imaginäre Kuh.

Kein Kavaliersdelikt

Diese Plagiatsgeschichte ist mir so wichtig, dass ich hier bisher nichts dazu gesagt habe und auch jetzt nichts zur Sache selbst – die mir sehr klar zu sein scheint – sagen will. Klingt wohl widersprüchlich. Aber mir ist die Angelegenheit so ernst, dass ich nicht mal Freude an den teilweise großartigen Wortspielen habe. Und es macht mich so wütend, die Sache selbst und viele der Reaktionen auch, dass ich inzwischen nur noch selektiv dazu lese (und das Gute bookmarke für unaufgeregtere Momente). Als bei Anne Will gestern in der Anmoderation gesagt wurde, darüber könne man diskutieren, sagten der Liebste und ich gleichzeitig „nein“ und beschlossen, lieber einen Roman zu lesen (aber nicht Axolotl Roadkill).
Die Persönlichkeit des betreffenden Herrn und sein politisches Amt sind mir erst mal ziemlich egal. Es geht mir nur um die wissenschaftliche Leistung und die (faktische und moralische) Legitimation seines Titels. Ich wünsche mir eigentlich nur, dass die Uni (ein Gremium aus Wissenschaftlern auf Grundlage von Prüfungsordnungen und fachlichen Maßstäben, kein politischer Untersuchungsausschuss) ein ordentliches Verfahren in dieser Sache durchführt und dann die entsprechenden Konsequenzen zieht. Ohne politisches Geschiebe von der einen und Gezerre von der anderen Seite. Ohne Häme. Wenn dieses Verfahren entschieden ist, mag die Politik schauen, ob Urteil und bekleidetes Amt miteinander vereinbar sind. Das ist mir dann erst mal ziemlich egal. Wissenschaftliche Redlichkeit ist mir nicht egal. Plagiate sind mir nicht egal.
Ich habe letztes Jahr aus einem einzigen Seminar des Grundstudiums fünf junge Plagiatoren gefischt und ihnen Kurs, Prüfungsleistung und Punkte aberkannt. Wenn nun Nachsicht geübt wird aufgrund irgendeiner dieser mauen Ausreden, die nun in der Presse ebenso zirkulieren wie sonst in unseren Sprechstunden (Versehen. Vergessen, die Quellenangabe zu übertragen. Technischer Defekt. Nicht gewusst, dass man das nicht darf. So viel war das ja nicht. Hätte man ja auch selbst drauf kommen können. Irgendwo wurde doch irgendeine Angabe gemacht. So gut exzerpiert, dass es gar nicht mehr fremd erschien und dann irgendwie wörtlich in den Text geriet.*), wenn also diese Ausreden in diesem speziellen Fall, in dem alles ein bisschen größer und publiker ist, auf einmal ziehen und eine breite Grauzone eröffnen – dann stehen wir an der universitären Basis mit unserem ständigen Appell an die wissenschaftliche Redlichkeit ganz schön dumm da. Ich werde, egal wie diese Sache ausgeht, trotzdem zu meinen Maßstäben stehen. (Auch wenn ich sie dann mit jedem Studierenden neu ausdiskutieren muss.) Aber es würde dem, wofür die Universität meines Erachtens nach immer noch steht, nicht gerade dienen. Im Gegenteil.

(*bei uns bisher nicht gehört: die Ausrede „das ist doch alles nur politisch motiviert“)

Effizienz

Warum Väter die effizienteren Eltern sind. Eine Fallstudie.

Wenn ein Kitakind Geburtstag hat, steht auch ein Kitakindergeburtstag an. Das heißt: Ich gehe mit dem Kind in die Stadt, um eine größere Backform zu kaufen (die kleine Backform ergibt nicht genug Kuchenstücke für 15 Kinder) und erstehe dabei auch noch Ausstecherle, ein „B“ und eine „2“. Außerdem alle Zutaten für Kuchen und Kekse, Smarties und Gummibärchen, Zartbitterguss und laktosefreie Milch, weil ein Kind aus der Gruppe laktoseintolerant ist und doch mit den anderen vom gemeinsamen Kuchen essen soll.
Den Sonntag verbringen Mutter und Kind mit Kekse backen – wie man halt mit fast Zweijährigen Kekse backt, wir kneten, naja, gemeinsam Teig („meiner!“), die Küche ist voller Mehl, die Dielenritzen voller Zuckerstreusel, das Kind voller Teig und die Mutter voller Brandblasen („heiß, Schätzchen, vorsichtig, heiß, mein Herz“, und dann das Blech mit bloßen Händen aus dem Ofen ziehen), aber schließlich ist auch der Tisch voller Bs und Zweier.
Am Abend vor seinem Geburtstag backe ich für uns zu Hause einen Kirsch-Mandel-Baiser-Kuchen, alleine, als das noch einjährige Kind schläft. Die neue Backform kommt am Wochenende zum Einsatz: Ein großer Marmorkuchen für den Kindergarten, laktosefrei, darum auch mit Gummibärchen statt mit Smarties beklebt. Mein back- und kochbegeistertes Kind sitzt still auf dem Küchenstuhl, schlägt zwar die Eier auf, mag aber sonst nichts machen, mag nichts probieren, wird immer blasser und matter. Er, der sich sonst über jeden Maschinenlärm freut, mag auch nicht rühren: „Laut, Mami.“ Noch bevor der Kuchen im Ofen steht, ist klar: Das Kind ist krank.
Also haben wir Kekse und Kuchen und ein krankes Geburtstagskind, die Kita-Feier wird erstmal verschoben. Das Kind bleibt krank und zu Hause, der Kuchen bleibt in Alufolie gewickelt und ebenfalls zu Hause, ich sage alle Termine ab und bleibe auch zu Hause.
Eine Woche nach dem Geburtstag kann er wieder in der Kita gehen. Die Erzieherinnen wollen nachfeiern, also gehen das genesende Kind und ich neue laktosefreie Milch kaufen und neue Mandelblättchen für einen neuen Kuchen. Gummibärchenkuchen mache ich nicht wieder, als Kitakuchen backe ich nur noch etwas, was wir auch selbst essen mögen.
Am Tag vor der Kitafeier holt der Vater das Kind ab, das passt gut, so kann ich alleine backen. Effizient! Oder?
„Wenn die morgen seinen Geburtstag feiern“, fragt sein Vater, „soll ich dann ein paar Sachen für die Kita besorgen, Gummibärchen und noch irgendwas zu essen?“
So sieht effiziente Geburtstagsplanung aus.
(Es ist klar, dass ich gleich trotzdem zwei Sorten Teig für echten Geburtstagskuchen anrühre, nicht wahr?)

Warten

Wenn ich gegen Ende meiner Schulzeit sehnsüchtig auf einen selten bis nie eintreffenden Anruf des von mir Angehimmelten wartete, bin ich manchmal duschen gegangen. Duschen oder auf den Wäscheplatz oder in den Keller, um durch Verschlechterung der Ausgangsbedingungen die Chancen zu erhöhen, dass das Telefon gerade dann endlich, endlich klingelt. (Wasser kocht nur, wenn es nicht beobachtet wird, Telefone klingeln nur, wenn sie nicht angestarrt werden.)
Nach dem Absitzen von vier der unverschämten acht Stunden, die die gottgleiche Telekom heute zur besten Arbeitszeit als Zeitfenster für das Anschalten des Telefons angegeben hat, denke ich nun über ähnliche Strategien nach. Bestimmt kommt der Techniker genau dann, wenn ich jetzt duschen gehe oder in den Keller oder einfach ins Büro. Bestimmt.

Um Wein weinen

Als ich heute früh aus dem Haus trete, treffe ich auf einen Mann in Grün, der mit dicken Handschuhen Weinranken von der Mauer rupft. Die ganze Ostseite des ansonsten nicht besonders attraktiven Gebäudes ist von Wein bewachsen, ich freue mich seit ein paar Wochen über die grünen Blätter, und der schönste Trost im Herbst ist die flammend rote Laubwand am Haus.
Der Mann rupft und zerrt und pflückt, dann rubbelt er mit dem rauhen Handschuh die nackten Ziegelsteine.
Ich frage entsetzt, ob er etwa – noch ist der Rankenstapel neben im klein und er steht noch nicht mal im Beet vor dem ersten Fenster – den ganzen Wein abreißen wird? Mit Stämmen, Wurzeln, allem?
Ja, wird er.
Ich schimpfe, jammere, lobe den schönen Wein, flehe, bitte ihn, wenigstens einen oder zwei der Weinstöcke zu verschonen.
„Mir wurde das so gesagt, das wurde so beschlossen, alles weg.“
Aber warum nur? Die berankte Mauer ist das schönste am ganzen (spießigen und überreglementierten) Haus!
„Jo, aber die Mauer wird ja auch nicht besser mit Wein drauf.“ (Sieht aber dort, wo er die Klebefüße des Weins abgerieben hat, sehr ordentlich und nicht besonders gefährdet aus.)
„Außerdem“, sagt er und reißt eine querlaufende Ranke mit zartem Grün ab, „geht der ja schon bis zur Dachrinne.“
Der geht schon bis zur Dachrinne! Ja, wenn er nicht in die Dachrinne wachsen soll, kann man ihn doch vielleicht an den oberen Trieben etwas kappen? So wie man ja auch die Fenster freischneidet?
Mehrere armdicke Weinstöcke aus der Erde zu reißen, weil sie oben zu hoch kommen – das erinnert mich an den Witz mit dem Mann, der sich einen wunderschönen neuen Spazierstock mit silbernem Knauf kauft, der ihm allerdings etwas zu lang ist. Patent sägt er ihn unterhalb des Griffs ab, Problem gelöst. „Aber mein Herr, warum haben sie denn den schönen Knauf abgesägt und nicht unten ein Stück gekürzt?“ – „Na, unten hat er doch gepasst.“Mann! Reg ich mich auf! Und mag in Erwartung dessen, was mich dort erwartet, gar nicht nach Hause fahren. Ein Anblick, scheußlich und gemein.

(Bald ist nichts mehr übrig von den wenigen Schönheiten dieses Gartens! Siehe auch letztes Jahr um diese Zeit: Mammutbaum.)