Auch so Momente

Wenn ich dem Kind ausnahmsweise statt Wasser verdünnten Blutorangensaft zu trinken gebe und dann durch das gekippte Glas hindurch hinter der rot glänzenden Flüssigkeit, die dem Kind sichtlich schmeckt, die Flasche Campari auf dem Küchenschrank sehe, ebenso rot. Kurz konzentriert nachgedacht. Alles ist gut. Aber man weiß ja manchmal nicht, was man so tut.

(Der letzte Satz klänge besser so: „Aber man weiß ja manchmal nicht, was man so tut im Suff.“ Aber was würden Sie dann von mir denken, endgültig.)

Mitbringsel

Von der Südamerika-Tante erfahre ich, nach Krankmeldung, dass wir uns mit dem Magen-Darm-Infekt wohl einen argentinischen Familienvirus importiert haben. Die hatten das alle direkt vor und nach unserem Abflug in etwas leichterer Form und sind schon durch damit. Ein Mitbringsel, quasi, kleines Geschenk an die Reisenden.
„Geschenke werden nicht zurückgenommen“, sagt die Tante. Und wiederholen ist gestohlen.

Pff

Zähneknirschend registriere ich mich bei Facebook, weil es jetzt das beste Kommunikationsmittel mit Chile war. Bislang hatte ich mich ja standhaft geweigert, Bloggen, Twittern, Foren – genug virtuelles Leben!
Und was ist das erste, was passiert?
Meine Anmeldung wird abgelehnt, denn „Der Name enthält zu viele Wörter!“
Hey! Imperialisten! Es gibt Leute mit langen Namen auf der Welt!
Pah.
(Immerhin: Vorurteile bestätigt. Ist ja auch was.)

40 Tage Buenos Aires [12]

Tag 12, Freitag, 27. Februar 2010: Der zukünftige Präsident Argentiniens, Señor Presidente Pedro.

Ich darf Ihnen den zukünftigen Señor Presidente der Republik Argentinien vorstellen, bisher noch Pedro oder auch „der Verrückte von der Ecke“. Cada loco con su cuento. Jeder Verrückte mit seiner Geschichte. Das hohe Staatsamt kann man unschwer an der Präsidentenschärpe und einigen Medaillen erkennen, andere historische Vorbilder sind ebenfall in Haltung und Kopfbedeckung eindeutig. Das Cape rundet das Bild ab, unter dem Hut trägt Pedro ein Kopftuch wie das von Zorro, das auch den Zopf zusammenhält. Außerdem trägt er stilsicher Stiefel und eine gelb getönte Motorradbrille und sitzt auf seinem „caballo eléctrico“, elektrischem Pferd, auch „moto musical“ genannt, Musikmotorrad, denn auf dem Sozius ist eine kleine Musikanlage installiert, den Lautsprecher sehen Sie. Vollständig aber erst, wie er mir erklärte, mit Schirm. Voilà.

Diesen Herrn traf ich keine zwei Cuadras von der Tantenwohnung entfernt vor einem edlen Herrenausstatter, er zeigte mir, nachdem ich ihn angesprochen hatte, dort mit einem verschwörerisch auf die Lippen gelegten Zeigefinger und großen Gesten Lederschuhe und graue Anzüge und führte mir schließlich sein elektrisches Pferd vor.
Baby B lernte derweil von den Verkäufern viele Synonyme für „loco“.
Ich habe seinen Namen und Mail-Adresse, wegen der Präsidentschaft wisse ich ja nun bescheid, und wenn er mal nicht im Laden sei, wo er wohne, soll ich nach Viviana fragen. Das gilt auch für Sie.

*


Auf Santa Fe steht ein älteres Ehepaar neben mir an der Ampel, der müde B ist gerade in der Karre eingeschlafen. Die Frau guckt mich an und sagt dabei in ziemlich vorwurfsvollen Ton zu ihrem Mann „guck, der schläft da“. Auf Deutsch. „Ja, und?“ sage ich, und die Frau lächelt mich an, spricht aber weiter mit ihrem Mann. „Guck Dir mal die Reifen an. Solche großen Räder haben die hier an ihren Kinderwagen.“ Ich lächele sie ebenfalls an und sage, weiterhin auf Deutsch: „Ja, große Räder, aber der Kinderwagen ist mitsamt Rädern aus Deutschland, der ist schneetauglich.“
Die Frau lächelt mich verbindlich an und schüttelt ein bisschen den Kopf. Irgendwie scheint sie bis zum Schluss nicht gemerkt zu haben, dass ich sie verstehe. Im Gedrängel auf der Santa Fe kommen wir an Ampeln oder engen Stellen immer wieder nebeneinander zu stehen, und sie guckt jedes Mal mit leichtem Vorwurf das schlafende Kind und dann stirnrunzelnd mich an. Cada loco con su cuento.

*


Wir suchen eine Bleibe für die nächsten vier Wochen, sofort, ich versuche hier trotzdem tagesaktuell zu schreiben.

Von der Symbolik des Raums

Bei der Arbeit wird, wie berichtet, gebaut. Ein glänzendes neues Zentrum für kleinere Geisteswissenschaften soll entstehen, in der Mitte zwischen den alten Gebäuden, hell, luftig, mit Bibliothek und Seminarräumen, mit Medienausstattung und Büros und an die alten Gemäuer angeschlossen. Für die Anschlusstelle wurde zunächst ein Teil unseres Gebäudes abgerissen und – zum Glück noch vorher – ein Teil der Mitarbeiter mitsamt ihrer Büros in andere Gegenden der Stadt ausgelagert.
Nun sollen die Kollegen ihre provisorischen Büros dort drüben wieder aufgeben, ein Teil soll in die alten, abgerissenen Trakte zurückkehren, ein anderer Teil die für uns bestimmten Räume im funkelnagelneuen Zentrum beziehen.

Das ist in vielerlei Hinsicht toll. Nicht zuletzt gibt es uns Geisteswissenschaftlern Gelegenheit nachzudenken, und dafür sind wir ja da. Nachdenken über den „spatial turn“, über Lotmans Raumtheorie, über Bourdieus Überlegungen zum symbolischen Raum. Wir können uns noch einmal die Annahme vergegenwärtigen, dass Raum nie einfach gegeben ist, sondern produziert wird. Räume sind kulturell konstituiert und symbolisch aufgeladen. Natürlich spricht der König vom Balkon aus zu den Unter-Gebenen, wer eine Grenze übertritt, verlässt einen Raum und wird ein anderer, von der Beletage aus kann man bequem auf den Pöbel hinabblicken und die Büros im Hauptflur strahlen Prestige aus, Hauptflur, Hauptperson, während wir unter dem Dach, die wir in den alten Schwesternzimmern hausen, den Habitus von Dienstboten nicht recht ablegen können. Über all dies sollte man wirklich dringend öfter nachdenken, und unser weiser Arbeitgeber gibts uns Gelegenheit dazu. Dafür sind wir zu Dank verpflichtet.
Die ausgelagerten Kollegen haben also umgehend ihre Ersatzbüros aufzugeben, sie sollen zum 1. März das neue Zentrum beziehen.
Vielleicht möchten Sie sich ein Bild vom Zentru
m machen (die Fotos sind von heute Nachmittag, 1. Februar), dieses neue Herzstück unseres Arbeitsplatzes befindet sich genau hier:



Es ist immer schön, wenn man sich darauf verlassen kann, dass in so einem großen Betrieb alle Handlungen und Anweisungen miteinander koordiniert sind, dass die eine Hand stets weiß, was die andere tut.
Und in puncto symbolischer Raum unterstreichen die neu geschaffenen Büros natürlich aufs Vortrefflichste die Bedeutung, die den Geisteswissenschaften in der Gesellschaft zugemessen wird.

Von den Alten lernen

Wenn man ein Überraschungsei geschenkt bekommt, dieses aber, da noch gute Lindt-Engel von Weihnachten übrig sind, ein paar Tage in der großen Umhängetasche herumträgt, macht das dem Ei erst mal nichts. Wenn man allerdings am dritten Tag auch das 1054 Seiten starke Sachwörterbuch der Literatur einpackt, dann gibt es in der Umhängetasche ein Problem. Ein Ei ist eine recht stabile Form, aber unter dem Druck von „Abbreviatur“ bis „Zynismus“ gibt auch ein tapferes Ei irgendwann nach. Die größten Schoko-Ei-Fragmente sind etwa fingernagelgroß: Ein klarer Sieg für das Lexikon. Doch muss man bei näherer Betrachtung den selbstzufriedenen Lexikon-Kraftprotz wohl an seine klassische Bildung erinnern, oder ihn an seine auf Antike oder Sprichwörter spezialisierten Fachkollegen verweisen: ein trügerischer Pyrrhus-Sieg! Das Ei ist hin, klare Sache, doch was hat das kluge Buch davon? Flecken. Die gehen doch nie mehr raus.
In Zukunft bitte etwas mehr Rücksichtnahme.

Nach Hause kommen

Unser Babykind soll schlafen lernen, zum Teil durch – Paradoxon hin oder her – Wachhalten. Wir versuchen einen Rhythmus zu etablieren, er soll nachts schlafen (und zwar ein bisschen am Stück), und er soll mittags schlafen (und zwar länger als 20 Minuten). Dafür bringen wir ihn ordentlich ins Bett, mit Schlafsack an und Mobile pusten, und die erquickenden Managerschläfchen von 20 Minuten, die er gerne stattdessen zweimal täglich gehalten hat, sind gestrichen. Im Prinzip klappt das gar nicht so schlecht, aber wenn es nachmittags etwas spät wird und wir im Dunkeln eine Dreiviertelstunde nach Hause laufen und es im Kinderwagen so kuschelig warm und um die Nase so angenehm kühl ist, wenn die Müdigkeit groß und das Hubbeln und Rumpeln die Augen immer zuklappen lässt – dann muss Mami handeln. Wachhalten durch Essen (Brotrinden eignen sich), Wachhalten durch Erzählen und Blickkontakt, Wachhalten durch Singen, Wachhalten durch Singen und Klatschen, Wachhalten durch schwungvoll Anschieben und trocken Abbremsen. Wenn das alles nicht mehr hilft, hilft manchmal noch Rennen, denn so herumzusausen ist wahnsinnig komisch und man muss sehr lachen und kann beim Lachen nicht einschlafen.
Gestern Abend gingen wir in Lauseskälte nach Hause, der Tag war lang, der Weg war weit, und dem Babykind fielen keine zehn Minuten vor zu Hause die Augen immer gründlicher zu, trotz Singen, trotz Erzählen, und das Brot war schon lange heruntergefallen. Als uns die Gruppe Fahrradfahrer überholte, in einem kleinen Gang, denn es geht von hier aus nur noch bergauf, sang ich noch laut „Bereite Dich, Zion“, doch das half nicht mehr. Also blieb, entweder das Kind schlafen zu lassen und nachts halt mal wieder nicht – oder Rennen. „Hey“, rief ich ihm zu, „wir rennen einfach nach Hause“, und dann schob ich die Geschenkpapierrollen fester in den Korb, hielt meine Handtasche fest und rannte los, bergauf, „Lachend, lachend, lachend, lachend, kommt der Sommer über das Feld!“ Es half, Kind wachgehalten und Abend gerettet.
Für die Gruppe Radfahrer, die wir kurz vor zu Hause wieder überholt haben, tut es uns leid. Auf dem Fahrrad von einer singenden Frau, die einen Kinderwagen mit quietschendem Baby schiebt und den Berg hochrennt, überholt zu werden, muss sich ziemlich doof anfühlen. Und vielleicht auch doof aussehen. „Ich kann meine Mama rennen lassen, so viel ich will!“
Wir brauchen vielleicht eine Klingel.

Jetzt noch mehr Zustellservice

Wie wir uns erinnern, hatte ich rekonstruiert, dass der GLS-Fahrer ein Paket für Frau Percanta in der 321 abliefern sollte, es dann bei Frau Creuz* in der 317 abgegeben und dem Hausmeister irgendeiner Schule in der Nähe einen Zettel in den Briefkasten geworfen hat, dass das Paket bei Kreutz in der 319 sei. So weit war ich am Samstag nach Gesprächen mit einer Frau Schiller beim Versand (telefonisch), Frau Schmuhl aus der 319 und schließlich Frau Creuz aus der 317.
Am Montag bin ich also in die Astrid-Lindgren-Schule, die erste der vier Schulen in unserer Straße gegangen und hatte vielfaches Glück: Da es sich um eine Schule für körperbehinderte Kinder handelt, war alles barriefrei und somit auch für Kinderwagen zu erreichen. Gleich im Rollstuhl-Reparatur-Raum hinter dem Eingangsbereich fand ich außerdem einen Lehrer, der mir weiterhelfen konnte. „Sie sind das! Ja, das Paket liegt bei uns. Ehrlich gesagt haben wir sie eher erwartet!“ Ich erklärte dann in einer Kurzfassung, dass die Odyssee schon etwas länger dauerte und ich durchaus früher gekommen wäre und meinen Krempel abgeholt hätte, wenn ich nur! hätte ich nur! einen Hinweis! wenn ich nur gewusst hätte. Im Sekretariat stand es dann tatsächlich: Das Paket. Ein hoffnungsfroher Mensch hatte einen grünen Zettel angeklebt. „Paket wird abgeholt!“ Der Lehrer vertraute den Karton Baby B. an, ich bat nochmal um Entschuldigung, dass es so lange gedauert hatte, alle waren sehr nett und fröhlich und wir machten uns mit der Beute unserer Schnitzeljagd auf den Heimweg.
Zu Hause inspizierte ich zunächst den Benachrichtungszettel, den der Hausmeister der Schule bekommen hatte. Dort steht – bitte memorieren Sie die bisherigen Informationen zum Verbleib des Pakets – folgendes:

„Sehr geehrte/r Frau/Herr Dr. Lindgren Schule
wir haben heute versucht, eine Sendung zu Ihnen zuzustellen/abzuholen, Sie aber nicht angetroffen.
Versender: Lindgren Schule
Bemerkungen: bei Schmuhl abh. Nr. 317.“


Äh.
Schmuhl wohnt in 319, das Paket war wie angegeben in 317, aber bei Creuz, und Kreutz stand wiederum (allerdings in Kombination mit 319) auf dem Online-Benachrichtungszettel.
Und wie kommt er darauf, dass „Dr. Percanta“ gleich „Astrid-Lindgren-Schule“ ist und dass Herr/Frau Lindgren-Schule einen Doktortitel hat und außerdem gleichzeitig Empfänger und und Versender der Ware ist?
Man weiß es nicht.
Schön war dann noch der Moment, als ich das Paket auspackte, und der passend zu unserem tomatenroten Wagen bestellte Fußsack wunderhübch bordeaux war. Ein Anblick, scheußlich und gemein. (Farbauswahl war „rot“, „orange“, „olive“, „braun“, anscheinend waren sie sich bei Rot allerdings nicht einig.)
Also rief ich mal wieder Frau Schiller an, löste ihr zunächst das Paketsuchspiel auf und reklamierte dann die Ware. Sie würden die Waren selbstverständlich zurücknehmen und den Preis erstatten, sagte sie, fing dann aber leicht hysterisch an zu lachen: Allerdings würden die Rücksendungen von GLS abgeholt.
Da sie selbst es für keine gute Idee hielt, den Fahrer nochmal zu uns (und zu Frau Schmuhl, Frau Creuz, dem Hausmeister und Dr. Lindgren Schule) zu schicken, hat sie mir angeboten, ihr das Paket „irgendwie“ zurückzuschicken, sie würden uns alles erstatten. Das machen wir jetzt.
Übrigens suchen wir nun ein Gitterbett. Wir haben im Internet auch eins gefunden, was uns gefällt. Versandkosten sind im Preis inklusive und man kann per Überweisung zahlen. Die Ware wird mit GLS versandt.
Fährt zufällig bald jemand mit einem großen Auto von Bayern nach Norddeutschland?

*Die Namen sind wie immer baugleich, aber leicht abgewandelt.