Die Sache mit den Namen

In den Kommentaren zu diesem Beitrag hat es sich ja bereits angedeutet – das mit der Aussprache der Namen klappt bei dieser WM nur so mittel. Auch das mit den Namen, denn die gesamte Berichterstattung ist, unter uns gesagt, ganz schlimm. Zwischen den Spielen wird vorzugsweise der deutsche Bus gezeigt, in der Halbzeit eines Spiels von, nur so als Beispiel, Argentinien und Bosnien-Herzegowina kommt ein launiger Bericht über einen Schweizer Fan, während vor dem Schweiz-Spiel dann mal wieder der deutsche Bus gezeigt wird. Hauptsache, es passt nicht und hat wenigstens 8 Punkte auf der nach oben offenen Irrelevanz-Skala. Auch interessant, wenn in der Halbzeitpause irgendeines Spiels ohne deutsche Beteiligung der deutsche Co-Trainier interviewt wird. Zu solchen entscheidenden Fragen wie der nach seiner Bräune („Sind Sie viel draußen?“), man fasst es nicht. Noch weniger zu fassen sind Kommentare wie die über den Südländer an sich (der halt etwas unorganisiert sei, auch dazu ein knappes Statement unter dem Eintrag unten; und das wird nicht etwa in den Foren von obskuren Online-Foren behauptet, sondern vom offiziellen Reporter im öffentlich-rechtlichen Fernsehen). Es ist schlechterdings nicht zu ertragen.IMG_1567 Und während des Spiels? Taktik findet nicht statt. Die Chef-Kommentatoren von ARD und ZDF nehmen sich da wenig. Stating the obvious, sonst nichts. Das höchste der Gefühle ist die Benennung einer Viererkette. Leute, sowas erkenne sogar ich! Also erklärt mir der Lieblingsitaliener zwischen den Spielen, was nun diese falsche Neun ist, wie sich die defensiven Mittelfeldspieler nach hinten fallen lassen können, wie man früher verteidigt hat und was mit der diametral wegkippenden Sechs ist.
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Was machen also die Leute in den Reporter-Kabinen da, wenn so etwas sie nicht interessiert? Oder sie davon ausgehen, dass es hier draußen bei uns keine Sau interessiert? Und sagt mir nicht, dass das zu kompliziert sei; zu jedem Curling-Spiel der vergangenen Olympischen Spiele gab es mehr Regelwerk-Erklärungen und Taktik-Informationen als bei dieser Fußball-WM insgesamt! Taktik (angeblich, ich habe das nicht überprüft) und Kameras aus allen Richtungen werden dann in die Online-Auftritte der Sender verschoben, dabei haben sie wahnsinnig viele Sendeminuten nicht nur mit Bildern, sondern auch mit dem O-Ton ihrer eigens dafür engagierten Sprecher zu füllen. Was tun diese Sportjournalisten dann also während der Spiele? Sie erzählen etwas über die Spieler. Aber nicht über ihre Position auf dem Feld oder über das, was sie da gerade im Mannschaftsgefüge tun oder tun sollten, sondern zum Beispiel über ihren Werdegang. Die Zahl der Kinder, die ihnen heute im Stadion zujubeln dürfen. Anekdoten zu irgendwelchen Einsätzen in der 78. Minute bei einem Ligaspiel vor fünf Jahren. Trinkspieltauglich: die Benennung der deutscher Mannschaftskameraden in ihren aktuellen Vereinen. („Antonio Candreva, Vereinskamerad von Klose bei Lazio Rom“, you name it. Immer.) Also, sie nennen die Namen und lesen die Informationen ab, die sie dazu auf ihren Tablets haben oder die ihnen noch so einfallen. Ansonsten: das, was man sieht. 90 Minuten lang (oder 90+5 bei dieser WM) nur die Namen zu nennen und Anekdötchen zu erzählen, meine Güte, das kann doch nicht befriedigend sein! (Für den Hörer ist es das nicht. Aber doch gewiss auch nicht für den Reporter! Das glaube ich nicht – puh, wenn ich mir vorstelle, ich dürfte in 90 Minuten Literatur-Seminar alle Autoren-Namen sagen und alles, was mir zu den Titelbildern einfällt, aber bloß! nichts! zu Erzähltechnik, Handlung oder Figurenkonstellation. Don’t mention the plot! Hilfe.)
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Ok, nehmen wir an, der Reporter findet das irgendwie doch befriedigend, 90 Minuten lang ausländische Namen und Vereine auf dem Spielfeld zu verschieben. Wenn es das ist, dann verstehe ich noch immer nicht – noch lange nicht und eigentlich erst recht nicht -, warum man sich nicht wenigstens darauf vorbereitet. Bei ARD und ZDF gibt es doch Datenbanken und Spezialisten, und wenn nicht, ist das ganze Stadion voller Muttersprachler, von denen man kurz mal einen zur Seite nehmen könnte. Warum also ist es nicht möglich, sich um die Aussprache der Namen zu bemühen? Also, die in der jeweiligen Sprachen ungefähr vorgesehene? Es ist möglich, und wenn es nicht geschieht, ist das in meinen Augen (oder Ohren) ein Zeichen von Desinteresse. Es geht nicht darum, dass fremdsprachige Wörter schwierig auszusprechen sein können, ich möchte auch nicht über Schwierigkeiten mit Fremdsprachen lästern, wenn das nicht der Job ist (Thank you for travelling, das meine ich nicht). Aber eben: sie nennen nur die Namen, die Namen stellen das Herz (oder das dürre Skelett) ihrer Berichterstattung dar. Und die Grundregeln der Aussprache scheinen dabei einfach egal zu sein. Entweder werden manche Namen konsequent falsch ausgesprochen, oder der Reporter variiert sich so durch. Wenn man einen Namen an drei Stellen betonen kann, kommt jede Variante mal dran, am Ende stimmen dann 33%. Und ich finde das nicht belanglos, für mich ist das eine Form der Respektlosigkeit, der mangelnden Wertschätzung der jeweiligen Spieler (und/oder Länder). Ist das übertrieben? Mal ein Beispiel aus einer anderen Sportart. Bei den Mannschafts-Europameisterschaften der Leichtathleten am vergangenen Wochenende überraschte die junge Diskuswerferin Shanice Craft, die das deutsche Team in dieser Disziplin vertrat, und wurde zweite. Der Reporter gratulierte artig und fragte sie dann, smalltalkend, wie er denn ihren Namen aussprechen solle – wie das deutsche Wort „Kraft“ oder eher englisch, Cräft? Soweit, so korrekt. Wenn man es nicht weiß (und vergessen hat, sich vorher zu informieren), einfach mal jemanden fragen, der Ahnung hat, im Zweifel den Namensträger selbst. Shanice Craft lächelte tapfer und sagte, die englische Aussprache sei ihr lieber „und auch richtig“. Ok, sagte der Reporter, „Cräft“, und fügte an: Als Zweitplatzierte der Europameisterschaften dürfe sie sich das auch aussuchen. Bitte? Man muss sich das Recht, vernünftig ausgesprochen zu werden, erarbeiten? Unter den Medaillenrängen geht da leider nichts und jeder darf so viel vor sich hin verhunzen, wie er lustig ist? Unter anderem das meine ich mit Respektlosigkeit. IMG_1569In Deutschland gab es ja mal ausführliche Diskussionen um den Namen des brasilianischen Fußballers Grafite. Ein Reporter sagte dann irgendwann, ganz im Geiste des eben aus dem Gedächtnis zitierten Leichtathletik-Journalisten, „Grafiet, oder Grafitschi, wie er selbst gerne ausgesprochen werden möchte“. Nein, nochmal: Der heißt so. Das ist keine kapriziöse Idee eines Sportlers mit Star-Allüren, dass er „gerne so genannt“ würde. Der Name wird im brasilianischen Portugiesisch (der meisten Regionen, so einfach ist das nicht, leider) eben so ausgesprochen. Gilt übrigens auch für den Spieler Dante. (Als ich noch einen etwas komplizierteren Namen hatte, hat mir auch mal jemand eine andere Aussprache vorgeschlagen – „aber so geht das doch auch, eigentlich.“ Nein, geht es nicht. Glaubt den Leuten doch einfach, sie werden schon wissen, wie sie heißen.)

So. Es hat mich etwas davongetragen. Eigentlich wollte ich nämlich gar nicht schimpfen, sondern was erklären. Nämlich die Aussprache von einer Gruppe von Namen, von denen es überdurchschnittlich viele gibt bei dieser WM, die spanischsprachigen. (Die italienischen Namen würden auch einen Erklärtext verdienen, aber wir haben nach dem letzten Gruppenspiel noch einen kleinen Kater. Der Lieblingsitaliener antwortet aber bestimmt bald wieder gerne auf linguistische Fragen zu seinem Team, Sie können solange schon mal mit „Stracciatella“ üben.)
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Also. Erklärteil. Ich erkläre nun ein paar Grundregeln zur spanischen Aussprache und insbesondere zur Betonung spanischer Wörter, mit denen sich die meisten Namen der spanischsprachigen Teams lösen lassen. (Disclaimer: Ich mache das bewusst nicht mit der Fachterminologie, und vollständig ist der Erklärteil auch nicht.)

  1. Sagen Sie erstmal das, was da steht. Ohne Extras.
    Beispiel: Der Trainer von Chile heißt Jorge Sampaoli. Man hört immerzu „Sampajoli“. Da ist aber gar kein J. Einfach Sam-Pa-O-Li. Auch wenn das dann so ähnlich wie Sankt Pauli klingt, das ist schon ok so.
  2. Sagen Sie erstmal das, was da steht. Ohne Verluste.
    Spanisch ist ja nicht Französisch, lassen Sie die Endungen ruhig dran. Bei Luis und Javier und del Bosque darf man auch die letzten Buchstaben noch hören.
  3. Dann aber auch: Sagen Sie nicht genau das, was da (anscheinend) steht.
    • ñ. Den besonderen spanischen Buchstaben ñ kennen Sie zum Beispiel von „el niño“, das klingt einfach wie nj. Beispiel: Camilo Zúñiga klingt in der Mitte wie Zúnjiga.
    • ll. Anders als im Deutschen ist z.B. das doppelte L kein L mehr, sondern – regional unterschiedlich – ein Laut, der wir „lj“ klingt oder wie „j“ oder auch wie „sch“. Beispiel: Der Trainer von Argentinien heißt Alejandro Sabella. Man hört hier meist „Sabella“, wie das italienische „bella“. Sagen Sie stattdessen „Sabelja“ oder „Sabena“ oder, wenn es wie am Río de la Plata klingen soll, „Sabescha“. [Hier bitte die Kommentare lesen. Italiener in Buenos Aires. Es bleibt kompliziert.]
    • s. Und das S bitte stimmlos. Sabella also nicht wie die Kurzform von Isabella, sondern mit scharfem S: ßabelja, ßabeja oder ßabescha. So etwa. (Gilt auch für den oben genannten Spieler Zúñiga. Wenn Sie sich vorwiegend südamerikanisch fühlen: ßúnjiga. Sind Sie eher in Europa zu Hause: Statt ß ein Lispel-Z vorweg, Rest bleibt gleich.)

    Beim ll und beim c/z wurde schon deutlich, dass es ein paar grundlegende Unterschiede zwischen dem europäischen Spanisch und dem der meisten lateinamerikanischen Länder gibt. Das macht aber nichts, man versteht und akzeptiert auf beiden Seiten des Atlantiks die verschiedenen Varianten. Ob Sie also, beispielsweise, bei za  /ce / ci / zo / zu das c/z wie ein englisches th lispeln (Spanien) oder wie ein stimmloses s sprechen (viele Regionen Lateinamerikas), ist Ihre Entscheidung. Und das j? Wie das ch in Dach. Ale-Chandro. H bleibt stumm, und wenn Sie ein Zungenspitzen-R können, rollen Sie drauflos, wenn nicht, macht das auch nichts.
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  4. Grundregeln Betonung:
    Mit der Betonung der Namen wird von den Kommentatoren lustig herumexperimentiert. Fernández, Fernández und Fernández kamen etwa gleich oft vor, auch Suárez, Suárez und Suárez waren zu je einem Drittel auf dem Feld. Die Chance, den jeweiligen Namen richtig zu betonen, lag damit bei gut 30%. Das geht besser. Und zwar so:
    Im Spanischen wird normalerweise die vorletzte Silbe betont. Beispiele: Cuadrado, Ospina, Muslera, Torres. Gilt auch für Vornamen: Fernando, Pablo, Arturo.
    Ausnahme a) Das Wort endet auf einem Konsonanten (außer -s oder -n). Diese Konsonanten sind meist -r, -z oder -l. Dann wird die letzte Silbe betont. Beispiel: Vidal. (Endbetont: Vidal.)
    Ausnahme b) Ein Akzent sieht etwas anderes vor, dann wird die Silbe mit dem Akzent betont. Immer.
    Und Ausnahme b) übersticht Ausnahme a).
    Das ist bei Namen ziemlich häufig, denn spanische Namen enden recht oft auf -ez. Bei -z am Ende greift eigentlich Ausnahme a), die aber dann häufig durch Ausnahme b) – nämlich einen auf der vorletzten Silbe platzierten Akzent – wieder aufgehoben wird. Beispiele: In aller Munde: Suárez. -z am Ende heißt eigentlich Betonung auf der letzten Silbe (das wäre *Suarez). Auf dem a ist aber ein Akzent, und der Akzent ist stärker als die Regel der Endbetonung, also bitte die Silbe mit dem Akzent betonen: Suárez. Nach gleichem Prinzip funktionieren Gutiérrez, Fernández, Gonlez, Hernández oder rez. Die Betonung sitzt praktischerweise immer da, wo der Akzent steht. (Immer.) Beim Trainer Uruguays, Óscar Tabárez, greift die Akzent-Regel gleich zweimal: Weil die Wörter auf -r bzw. -z enden, müssten Vor- und Nachname endbetont sein. Die Akzente ändern dies aber und schieben die Betonung jeweils auf die vorletzte Silbe, also Óscar Tarez. Anderes Beispiel: Bei Cáceres müsste die Betonung ganz regulär auf der vorletzten Silbe sein (wie bei Torres), aber der Akzent zieht sie auf die vorvorletzte Silbe: ceres. Natürlich kann der Akzent die Betonung auch auf die letzte Silbe ziehen, wenn die eigentlich unbetont wäre, so wie bei Fredy Guarín.

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Morgen beginnen die Achtelfinals mit sechs spanischsprachigen Ländern, aber ohne Suárez. Viel Spaß beim Zuhören – und Macnelly Torres fragen Sie dann vielleicht selbst nochmal, wie sein Vorname korrekt ausgesprochen wird. Am besten auch dann, wenn er nicht den Pokal nach Hause bringt und sich die richtige Aussprache seines Namens ehrlich verdient hat.

Und jetzt würde ich mich freuen, wenn mir jemand die Namen der Niederländer erklärt. Ich stolpere doch sehr, wenn ich diese – zu meinem Aussprache-Glück fast leere – Doppelseite aus dem Panini-Album vorlesen muss. Jordy Clasie? Jasper Cillessen? Wie habe ich mir das vorzustellen?

40 años

Wie jedes Jahr erinnere ich auch heute wieder mit dem gleichen Lied an den anderen 11. September, den chilenischen von 1973.

Yo pisaré las calles nuevamente…

Gestern haben sich in Santiago zwischen der Moneda und Plaza Italia die Menschen auf den Boden gelegten las grandes Alamedas por donde pasa el hombre libre, para construir una sociedad mejor -, um an die Verschwundenen der Diktatur zu erinnern. Me detendré a llorar por los ausentes.

Therapie

Am fünften Tag im Krankenhaus brachte mir meine Freundin M. Wolle, Nadeln und ein altes argentinisches Handarbeitsbuch (El arte de tejer ’82). Sie setzte sich zu mir ans Bett, zeigte mir, wie man Maschen anschlägt und erzählte: „Aprendí a tejer cuando tenía seis años… Ich habe mit sechs Jahren stricken gelernt. Meine Mutter strickte damals warme Schals und Pullover für meinen Vater, der als politischer Gefangener im Gefängnis saß. Ich habe ihr zugeschaut, und dann bin ich losgegangen und habe gelbe Wolle gekauft. Daraus habe ich meinen ersten Schal gestrickt. Viele Jahre später, zu meinem 30. Geburtstag, hat meine Mutter einen solchen gelben Schal für mich gestrickt.“
M. kommt aus Uruguay und ist im Exil in Schweden aufgewachsen. Ihre Eltern sind nie in ihre Heimat zurückgekehrt, und wenn M. Heimweh hat, geht sie zu IKEA und isst Köttbullar und Prinsesstårta.
Ich denke, anstatt stricken zu lernen, sollte ich weiterhin M. stricken lassen, stricken und erzählen, und ich schreibe besser ihre Geschichte auf, in deren ersten Satz ich mich sofort verliebt habe.

Feliz cumpleaños, poeta.

Das war 2005. Morgens um 5 nach einer Fahrt durch das halbe lange Land, angekommen am Hafen von Puerto Montt und mit Blick nach Chiloé. 
Heute hat er Geburtstag, mein Dichter. Herzlichen Glückwunsch zum 75, Floridor! 
A un avión en la noche
Un
pirata
nos roba
las estrellas
y se las lleva al mar
sobre un
pez
volador.
(Floridor Pérez, sehnsuchtsvolles Kindergedicht aus Cielografía de Chile, 1973)


Veranstaltungshinweis: Alissa Walser und Pablo de Santis

Morgen Abend, also Montag, 27. September 2010, unterhalte ich mich ab 20 Uhr im Literaturhaus Frankfurt mit der deutschen Autorin Alissa Walser und dem argentinischen Schriftsteller Pablo de Santis. Wir werden sicher über ihre Bücher und besonders ihre neusten Romane sprechen, Am Anfang war die Nacht Musik bzw. El Enigma de París / Das Geheimnis von Paris, vor allem soll es aber um die Erfahrungen der beiden als Stadtschreiber im jeweils anderen Land gehen. Im Rahmen des Programms Rayuela war Alissa Walser für einen knappen Monat in Misiones in Nordargentinien, Pablo de Santis ist noch in Frankfurt. Ich bin gespannt, was (sich) die beiden zu erzählen haben.
Das Literaturhaus sieht sehr imposant aus und hört sich bei den von dort übertragenen Veranstaltungen auch so an.
Es gibt bestimmt noch Karten.

Veranstaltungshinweis: Alan Pauls

Veranstaltungshinweis für morgen!
Am Dienstag, 14. September, liest der argentinische Autor Alan Pauls aus seinem Roman „Historia del llanto“, deutsch (in Übersetzung von Christian Hansen) „Geschichte der Tränen“., Klett-Cotta 2010. Eine Kindheit in der Diktatur, doch die Diktatur sickert nur an den Rändern und eher im Rückblick in die Geschichte, und ein merkwürdiges Ich, zu dessen besonderen Begabungen zählt, intensiv zuhören und sofort oder gar nicht weinen zu können. „[E]ine Empfindsamkeit, die nur Augen für den Schmerz hat und absolut, unheilbar blind ist für alles, was nicht Schmerz ist.“ (S. 18.)
Eine knappe, aber schwierige Erzählung, es wird sicher spannend. Vielleicht reden wir auch ein bisschen über Alan Pauls‘ monumentalen Roman „El pasado“ („Die Vergangenheit“).
Die zweisprachige Lesung findet um 20 Uhr im Heinrich-Heine-Haus in Lüneburg statt. Ich bin auch dabei und moderiere und übersetze.

12 Tage Santiago [11]

Sonntag, 5. September, „Día del Patrimonio Nacional“, eine Mischung aus Folklore-Festival, Tag des Offenen Denkmals und Langer Nacht der Museen. Ich bin wieder in Santiago und hatte sowieso vor, ins Museo Bellas Artes zu gehen, auf dem Weg dorthin durch den Parque Forstal gucke ich einer Weile einem Kinder-Duathlon zu, dann bleibe ich lange vor dem Museum, wo Livemusik gespielt wird und in Trachten Cueca, der chilenische Nationaltanz, getanzt wird. Zunächst von einer Gruppe in der feineren Trachten, die Stiefel und Ponchos sind Zeichen eines „huaso rico“, eher Großgrundbesitzer als kleine Bauern. Sie sind musikalisch wie tänzerisch ziemlich gut, am Ende fordern sie Leute aus dem Publikum zum Mittanzen auf, und keiner ziert sich, alle hüpfen mit und schwenken weiße Taschentücher. Wer keines hat, zückt zumindest ein Tempo.





Im Anschluss macht eine Folklore-Gruppe mit drei Sängerinnen Soundcheck, die identische geschnittene Minikleider in den Nationalfarben tragen, die erste Cueca ist aber so schrill und übersteuert, dass ich das Spektakel verlasse und ins Innere des Museums gehe. Im Museo Bellas Artes ist die Dauerausstellung bei freiem Eintritt geöffnet, thematisch (Portraits, Körper, Bestand der Gründungszeit des Museums vor exakt 100 Jahren) sortierte Säle mit feinem Parkett, das Gebäude selbst ist schon ein Schmuckstück. Leider darf man, wir mir vor dem letzten hier gezeigten Foto freundlich, aber bestimmt gesagt wird, keine Fotos machen…



(Letztes Bild: Ein Bild, was ich sowieso gerne mag, „La carta de amor“ vom chilenischen Maler Pedro Lira. Da wusste ich schon, dass ich nicht fotografieren durfte, aber die Ähnlichkeit in der Haltung war zu verlockend…)
Im Muesum sind recht viele Leute, vor allem viele Familien mit kleinen Kindern, aber auch junge Pärchen oder Grüppchen Jugendlicher. Ich bin in Deutschland selbst sehr selten im Museum, wie ist das eigentlich bei uns? Sind sonntags viele Familien im Museum? Ich kann es nicht erinnern.
Danach eine große Runde durch die Stadt gedreht (leider habe ich die Handpuppenspieler, die mich vor 5 Jahren jeden Sonntag ins Zentrum zogen, dieses Jahr nicht finden können, vielleicht haben sie aufgehört) und so lange auf der sommerlichen Plaza de Armas gesessen, bis mich eine Taube erwischt hat – das soll, heißt es hier, Glück bringen.

Später auf der Runde habe ich zufällig – da hat diese Stadt 6 Millionen Einwohner und man begegnet sich doch zufällig, ich habe hier auf der Straße auch schon Leute aus meiner Heimatstadt in Deutschland getroffen – meinem Dichter begegnet, wir haben dann zusammen eine weitere Cueca-Darbietung angeguckt, dieses Mal volkstümlicher, die Männer in Sandalen, die Frauen weniger wie vom Land als wie aus „Poblaciones“ gekleidet. Die Stimmung ist noch besser als zu Anfang, zumal diese Gruppe das folkloristischer Drumherum auch intensiv betreibt, ein versauter Witz jagt den nächsten und das Publikum überschlägt sich. Diese Vorführung, sagt mein Dichter, und der weiß bei Folklore, wovon er spricht, sei „autentiquísimo“, so einen wahrhaften 18. September (darauf läuft all das hinaus) hätte in der Hauptstadt noch nicht erlebt, und am Ende lässt er sich sogar zum Tanzen hinreißen – und das, gesteht er mir atemlos, habe er seit der Diktatur und seinem Wegzug aus dem ländlichen Süden nicht mehr getan. Nach wenigen rein vorgeführten Cuecas werden nämlich wieder wir Zuschauer zum Teilnehmen aufgefordert, nicht nur Rhythmus solle man klatschen, sondern Taschentücher zücken und tanzen, und es wird getanzt. Für mich beeindruckt, dass die Jungen genauso mitmachen wie die Alten, die Turnschuhmädchen wie die Herren im Anzug, die blondierte Mami genauso wie der Herr, der über der feinen Hose einen Poncho trägt, und auch die coolen Jungs mit Rocker-T-Shirts, die mit Rastalocken oder Ohrringen wedeln mit Tempos, klatschen und tanzen kunstgerecht mit den als Landfrauen verkleideten älteren Damen.



12 Tage Santiago [vorgezogener Schluss]

Die Tage 11 und 12 bekommt Ihr noch, es war etwas schwierig mit Internet am Abend, und tagsüber hatte ich keine Lust, bei sommerlichem Sonnenschein drinnen vor dem Computer zu sitzen – außerdem musste ich ja für Euch Sachen erleben! Vielleicht morgen in Atlanta, wo ich 10 Stunden Zeit auf dem Flughafen habe… Bis dahin verabschiede ich mich, von Euch, von Santiago, von Chile.

Ciaocito, Chile. Cuídate.

12 Tage Santiago [9b und 10]


Valparaíso und Viña del mar.
Valparaíso ist die Hafenstadt, Containerhafen, Märkte, Tor zur Welt, auf steilen Hügeln gebaut, voller endloser Treppen, die zum Teil durch
Gebäude oder verborgene Durchgänge führen, dazu zur Entlastung der Fußgänger einzelne mit Seilwinden betriebene Aufzüge, die an den Hängen kleben. Auf den Straßen verkehren noch alte Trolleybusse, alle Hauswände sind besprüht, überall, wo nicht mit Fisch oder Zwiebeln gehandelt wird, gibt es Kunsthandwerk, man gibt sich hippiehaft und künstlerisch. Viña del mar liegt etwa 5 km weiter nördlich und teilt sich mit Valparaíso die Bucht, klettert ebenfalls die Hügel hoch, die allerdings hier ein wenig weiter weg von der Küstenlinie steil zu werden beginnen. Viña – Weinberg – ist das alte Strandbad und hat sich an einigen Stellen den alten Charme eines mondänen Badeortes bewahrt, es werden aber stets weniger Fassaden und Anblicke, die diesen Charme versprühen. Die Stadt ist kleiner, sauberer und in der Bevölkerungsstruktur deutlich älter als der Nachbarort. Die prachtvollsten Häuser wurden damals, Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem, an der aus Santiago kommenden und Modernität und Weltläufigkeit versprechenden Bahnlinie gebaut, dort sind noch einige Villen im Südstaatenstil zu finden.


Valparaíso, Zentrum.


Buchhandlung „Crisis“, Valparaíso.



Ein Junge lässt von einem Mirador aus einen Drachen s
teigen, der sich unmittelbar nach diesem Foto in einem Baum verfängt, der unerreichbar viel tiefer zwischen Wohnhäusern am Abhang klebt. Er und sein Cousin versuchen noch eine Weile, den Drachen zu retten, reißen dann den Faden durch und rennen schließlich zu ihrer Großmutter, um sie um Geld für einen neuen Drachen zu bitten.

Am Abend besuchen wir einen Bekannten des chilenischen Freundes, den ich hier besuche, ein Künstler, der eine Wohnung mit einem spektakulären Blick hat. Außer Farbe, einer Matratze, einigen Bildern und ein paar Büchern ist die Wohnung fast leer, er hat nicht mal einen Stuhl („läuft gerade nicht so gut mit dem Verkaufen“, sagt er, zeigt uns die „kommerziellen“ Bilder für den Handel und seine „anspruchsvolleren“ Bilder, wirklich überzeugend finde ich allerdings keine der Serien), bietet uns aber Kaffee an, den wir am Fenster stehend trinken, auf die Bucht schauend und leise seufzend.

Überhaupt, wenn diese Stadt neben Treppenstufen, die mir einen gründlichen Muskelkater beschert haben, über irgendetwas verfügt, dann über Blick. Das dritte Haus von Neruda, die „Sebastiana“, liegt sehr weit oben über der Stadt, und sie hat vor allem Blick – viel Glas und alle Räume des über 4 schmale Stockwerke konstruierten Hauses schauen Richtung Bucht. Direkt zum Wasser hin ist meist die ganze Front Glas, zu den Seiten, wo man vor allem über Häuser schaut, sind die Fenster dann ungewöhnlich geformt, im Treppenhaus fällt das Licht durch Bullaugen. Auf dem folgenden Foto ein weniger aufregender Blick aus der „Sebastiana“, dafür aber ein paar Exemplare aus Nerudas Altglassammlung. Am besten hat mir von Nerudas Häusern das in Isla Negra gefallen, dessen Architektur hintereinander aufgereihten Eisenbahnwaggons nachempfunden ist, hier gefiel mir aber wohl auch die Lage so besonders, auf einer Terrasse direkt an einem felsigen, wilden Strand.


Selbst die Toten haben in Valparaíso gute Aussicht, im Rücken des Engels und hinter mir liegt die Bucht, und in Blickrichtung gehen die zu Füßen des Engels liegenden grau-weißen Mausoleen des Friedhofs in die bunten Schachtelhäuser des Cerros über.
(Mehr Engel dann wieder auf Flickr, die hiesigen Engel sind anders als die vom Friedhof Recoleta aus Gips, und auffällig waren die vielen fe
hlenden Hände, die meisten wiesen mit Armstümpfen in den Himmel.)
Auf einem Grabstein stand auf Deutsch „Die Liebe höret nimmer auf“, daneben einige, die nur mit einem Namen, dann „und Frau und Kinder“ beschriftet waren, schließlich einer, auf dem stand: „Un hombre bueno“, ein guter Mann. Was will man mehr.

Dachschmuck, einer von vielen:

Einer der wenigen noch in Betrieb befindlichen Aufzüge, man bezahlt ein paar Hundert Peso und spart sich einige Dutzend Höhenmeter, sonst über Treppen oder weitläufige Serpentinen oder Straßen zurückzulegen, die so steil sind, dass man sich wundert, dass die Busse nicht einfach herunterfallen.

Auf einem der zentralen Plätze Valparaísos versammelten sich mittags Homosexuelle und Transvesisten sowie eine Vereinigung von „Müttern von Homosexuellen“, um in einer „Accion Gay“ für die Rechte von Schwulen und Lesben zu demonstrieren. Am beeindruckendsten war zwischen all den schrill verkleideten Männern – einer unterhielt sich am Rande mit uns und kommentierte, die Transvestitenverkleidung sei auch Schutz, denn morgen müsse er normal zur Arbeit gehen und sein Chef wisse von nichts, und das solle auch erst mal so bleiben – das Grüppchen junger Schulmädchen, die ihre dunkelblauen Schuluniformen noch anhatten und mit Buntpapier und Herzchen beklebte Plakate schwenkten, „Vivan los gay“. Ein Mädchen hatte ein Plakat „Ich liebe meinen Papi-Gay“ und fotografierte immer wieder einen mit langem Abendkleid und Krönchen gekleideten großen Mann. Während das Nachbarland Argentinien gerade die vollwertige gleichgeschlechtliche Ehe eingeführt hat – und damit deutlich über die deutsche Lebenspartnerschaft hinausgeht -, haben gerade männliche Homosexuelle in Chile noch einen schweren Stand. Frauenpärchen sieht man ab und zu, männliche Paare sind im normalen Straßenbild kaum anzutreffen.




Kreisel – eines der nun an jeder Ecke verkauften Symbole des chilenischen „mes de la patria“ September. Nur wegen meiner Doktorarbeit hier abgebildet.
Noch etwas Hafen Valparaíso:




Die letzten drei Bilder sind von der Promenade und dem Strand in Viña, die Seebrücke auf dem letzten Foto wird in meinem Reiseführer aus dem Jahr 2005 noch als „place to be“ angepriesen, als pintoresker Treffpunkt von Fischern, Einheimischen und Touristen, wo Delikatessen in Bleiglasvitrinen angeboten werden. Ich kann mich nicht erinnern, ob die im Reiseführer abgebildeten Holzhäuser auf der Seebrücke bei meinem letzten Besuch vor 5 Jahren noch da waren, ich glaube aber, es war damals schon der rostige Kran. Anderes ist erst kürzlich kaputtgegangen oder geschlossen worden.
Einige Häuser in Valparaíso sind ringsum mit den weiß-roten „PELIGRO“ und „Nicht betreten!“-Aufklebern gepflastert, in vielen Straßen wird renoviert, und in die eine der beiden großen Markthallen ist seit dem Erdbeben abgesperrt, Einsturzgefahr.
Am Strand lagern in der Frühlingssonne Familien und spielen Kinder, barfuß und in Winterjacken. (Das einzige Kind in Badehose wirft auf dem letzten Foto Sand ins Meer, im Wasser war niemand.) Ich habe einmal rituell die Füße in den Pazifik getaucht, eisig kalt, ich weiß nicht, wie die zahllosen kleinen Krebse, die sich zwischen den Wellen am Küstensaum ein- und ausgraben, das aushalten.





Ich bin etwas im Rückstand, den heutigen 10. Tag und „Día del patrimonio“ reiche ich im Laufe des Tages nach.