Kültür anfassen

Zunächst eine kleine Ausführung zum Kültür-Begriff von Gastkünstlerin Jule, Fotografin. Hier ein Auszug aus einem Ausstellungsbericht

[…] Es gab ja auch eine Performance. Die Kinder haben natürlich Bauklötze gestaunt, und warscheinlich haben sie gedacht: Die Erwachsenen sind doch alle nicht ganz dicht!!!
Greta hat jedenfalls schnell „Freundinnen“ gefunden, und die sind dann zusammen ganz aufgeregt durch alle Stockwerke geflitzt. Sehr süß. Einmal hab ich Greta allerdings dabei erwischt, wie sie einer Wachs-Skulptur an den Pimmel fasste. Ich hab den Mädels dann eingeschärft, daß sie hier zwar rumdüsen dürften, jedoch bitte die Skulpturen nicht anfassen sollten.
Hab dann belauscht, wie Greta zu ihren Freundinnen meinte: „Meine Mama hat erlaubt, daß wir die Treppe runterdürfen, wir sollen aber keine Kültür anfassen.“

Wir dürfen dagegen diese Woche so viel Kültür anfassen, dass ich mir schon vorkommen wie im Kulturspiegel, diesen Monat: „Percanta plant ihren Juni“.
Samstag war Perantos Konzert mit den beiden Eduardos, ein, wie uns später geschrieben wurde, „charmanter Abend“.
Sonntag habe ich selbst gesungen, Buxtehude und Bach, aber nur zur feierlichen Umrahmung einer Amtseinführung.
Dienstag waren Percanto und ich in Hamburg, seinen Pass „renovieren“, wie er meinte. Als alles geschafft war, ..
Wurm und Fotos…
Morgen (Donnerstag) gehe ich zu Kathrin Passig ins Literarische Zentrum und bin schon sehr gespannt. Wenn Meike Karten bekommt gehen wir schließlich am Sonntag in Kassel in die Oper, Rossini…

Einfach voll Vollkorn

Beim Bäcker. Ich packe mein Wechselgeld und das Brot ein. Der Kunde neben mir, ein bisher geduldiger und freundlicher Herr mit angegrauten Haaren, weist auf das Regal.
„Das Vollkornbrot, woraus ist das?“
Die junge und ebenfalls freundliche Verkäuferin zeigt auf das Krustenbrot, „das hier?“
Herr: „Nein, das darunter, das Vollkornbrot. Was ist da drin?“
Verkäuferin: „Das Vollkornbrot? Da ist nichts drin.“
Herr: „Aber woraus ist das?“
Verkäuferin: „Woraus das ist? Ganz normal, Vollkorn.“
Herr: „Ja, aber ist das ein Roggenbrot?“
Verkäuferin: „Nein, Vollkorn. Nicht Roggen“ [zum männlichen Kollegen:] „Haben wir Roggen, nee, oder?“ [Kollege schüttelt den Kopf]
Herr: „Aber woraus ist das gemacht?“
Verkäuferin: „Aus Vollkorn.“
Zweite Verkäuferin aus dem Hintergrund: „Im Vollkornbrot ist nur Vollkorn, sonst nichts.“
Herr: „Ja, aber woraus?“
Verkäuferin: „Ganz normal, aus Vollkorn.“
Herr: „Ja, aber was ist da drin?“
Verkäuferin: „Sonst nichts. Nur Vollkorn. [leicht verzweifelt] Aber wir haben hier auch eins mit Sonnenblume.“
Herr: „Aber das Vollkornbrot…“

Bevor die Verkäuferin und der Herr, der nicht in der Lage war, seine Frage umzuformulieren, in die Endlosschleife gingen, habe ich mich dann kurz eingeschaltet. Klugscheißen beim Bäcker: „Entschuldigung, die Frage ist glaube ich, aus welcher Art Getreide das Brot ist… Weizen, Roggen, Gerste, Hafer.“ [Mein Tipp: Weizen]
Herr: „Ja, genau, Danke.“
Verkäuferin: „?“

Was genau lernt man eigentlich in 3 Jahren Ausbildung zur Bäckereifachverkäuferin? Dass 2 Croissants plus ein Landbrot 4,40 € macht?
[Landbrot besteht übrigens aus Land, klar, und Weltmeisterbrötchen aus Italienern.]

Wo die Butter liegt

Im Gang mit Kaffee, Knäckebrot und Müsli hocke ich vor dem Regal und inspiziere die Espresso-Sorten, als mich eine etwas wacklige alte Dame anspricht: „Können Sie mir vielleicht sagen, wo die Butter ist? Ich bin sonst nicht so vergesslich, aber ich kann mich nicht erinnern, wo die Butter ist.“
Wir gehen gemeinsam zum Kühlregal und versuchen, über die Butterstücke gebeugt, ihrer Erinnerung auf die Sprünge zu helfen; nein, sie weiß nicht mehr, welche Butter sie normalerweise kauft. „Eigentlich bin ich nicht so vergesslich, vielleicht das Wetter…“
Wir entscheiden uns für ein normales Stück „Deutsche Markenbutter“, sie steckt es in die Einkaufstasche, der rosa Pullover ist ein wenig fleckig, die Haare stehen am Hinterkopf ein bisschen wirr. „Ach wissen Sie“, seufzt sie, „ich werde nämlich nächste Woche 87. Und eigentlich ging es mir auch gut, aber seit mein Mann im Januar gestorben ist, da geht es bergab mit mir. Aber dass ich mich so schlecht erinnern kann wie heute. Mein Mann war 90, und er ist einfach umgefallen. Einfach im Büro umgefallen und war tot. Seitdem geht es mir nicht mehr so gut.“
Wir stehen an der Kühltheke, sprechen von ihrem Geburtstag, sie erzählt von ihren Kindern, die nächste Woche kommen werden, der Junge wohnt hier, ihre beiden Mädchen sieht sie selten, aber sie rufen jeden Abend an. Ihr Mann war bekannt in der Stadt, sagt sie, erst war er Busfahrer, dann hat er im Büro arbeiten können, mit den Buslinien, das war gut, und als er in Rente ging, hat sie auch aufgehört zu arbeiten. ‚Was sollst du arbeiten, wenn ich hier zu Hause bin‘ hat er gesagt, ‚das müssen wir doch nicht.‘ Sie kommt jeden Tag runter in die Stadt, zu Fuß eine Strecke von sicher 3 km, ihr Mann hat immer gesagt, dass sie sich bewegen soll, raus soll, so macht sie jeden Tag diesen Gang, geht einkaufen, bummeln, ein bisschen unter Leute, und fährt dann meist mit dem Bus wieder rauf.
Schlagsahne steht noch auf ihrem Zettel, die hatte sie schon gefunden, und Fleisch mit einem Fragezeichen.
„67 Jahre waren wir verheiratet“, sagt sie, und ich muss kurz rechnen, ob das sein kann, ja, es kann. Sie war 20 und evangelisch, er katholisch, und sie hatten sich kaum kennengelernt, da hat er gesagt, das ginge ja nicht, wenn sie mal Kinder hätten und die evangelisch wären und er katholisch, das machen wir lieber gleich richtig, und so ist er evangelisch geworden, obwohl sie ihm doch gesagt hatte, er könnte auch gerne weiter zu St. Michael gehen, in der Straße, wo auch ihre Eltern wohnten.
„67 Jahre verheiratet, und es war eine gute Ehe. Und im Januar ist er gestorben. Ich werde ja nächste Woche 87.“ „So lang, 67 Jahre, das ist wunderbar… Sie sagen, Sie waren glücklich?“
„Oh ja. Es war eine glückliche Ehe. Wir waren sehr glücklich, ja. Und wissen Sie, wenn ich jetzt nach Hause komme, ist da keiner mehr. Ich werde heute Abend Kreuzworträtsel lösen, ich mache jeden Abend Kreuzworträtesel, wenn nichts Gescheites im Fernsehen kommt, und das ist ja oft so. Im Haus wohnen nur noch drei Witwen, ja, ich bin jetzt auch eine Witwe, aber die Frau X gegenüber, die liegt nur auf dem Sofa und ist krank, da mag ich gar nicht mehr klingeln, immer ist sie krank und liegt nur auf ihrem Sofa. Ich sehe niemanden mehr, und ich spreche mit niemandem mehr, nur mit Ihnen jetzt, das ist so schön, das tut so gut, dass man mal was reden kann. Früher haben wir jeden Samstag mit dem Herrn Y und seiner Frau zu Abend gegessen, jeden Samstag zu Abend gegessen und dann Karten gespielt, das war ein fester Termin, der ging vor. Immer haben wir das gemacht. Aber die sind jetzt auch alle tot.“
Wir überlegen kurz, ob sie jetzt alles hat, und dass heute Abend ihre Töchter anrufen werden.
„Wissen Sie, ich kommen gleich nach Hause, und dann schließe ich die Tür auf und dann ist es jedes Mal so, dass ich ihn dort sitzen sehe in seinem Sessel, und dann sehe ich ihn, wie er immer auf mich zugekommen ist, wenn ich nach Hause kam, aus seinem Sessel aufgestanden und auf mich zu. Immer sehe ich das noch, wenn ich nach Hause komme, aber er ist ja nicht mehr da.“
Ich halte ihre Hand, oder sie meine, und sie sagt: „Aber heute, wenn ich nach Hause komme, werde ich weinen. Aber nicht, weil ich traurig bin, heute werde ich weinen, weil Sie so nett waren und mir zugehört haben. Vor Glück weinen.“
Ich schaffe es mit dem Weinen nicht bis nach Hause; schon im Gang mit dem Brot laufen die Tränen.

Kongressgerede

Drei Satzschnipsel vom Romanisten-Kongress.
Fragwürdiges Fragment 1, mit dem Beamer an die Wand projiziert:

„Geschichtestudium in Cambridge.“


Fragment 2, vervorgelesen:

„Sekretärinnen und leidende Angestellte.“


Und zur Versöhnung mein Lieblingssatz der vier Tage, aus einer hitzigen Diskussion:

„Wissenschaft ist nicht durch einen direkten Zugriff auf die Wahrheit definiert.“


Danke, Ihr Philologen!

mude

Ich bin mude. So mude, dass ich die Striche uber dem u nicht mehr sprechen kann.
Sagte so oder so ähnlich mein Großvater. Und er hat recht.

National Geographic unterwegs

Als norddeutsche Protestantin schwachen Glaubens bei einer Erstkommunion im Ruhrgebiet. Ich habe mich gefühlt wie auf Exkursion.
Bei der Messe herrschte Fotografierverbot, was aus Konzentrations- und Andachtsgründen zu begrüßen, aus völkerkundlich-fotografischer Sicht allerdings bedauerlich ist. Der Pastor, der mich beim Textteil „manche Eltern kommen nach der Kommunion nie wieder her“ schon so böse fixiert hatte, sprach dieses Fotoverbot zu Beginn des Vorbereitungsgottesdienstes, am Ende des Vorbereitungsgottesdientes und zu Beginn des Gottesdienstes noch einmal aus: „Die Familien machen bitte während der Messe keine Fotos, ja“, und ich wollte mich eigentlich melden und sagen, dass ich Ethnologin aus Niedersachsen sei, oder dass ich von der GEO-Redaktion käme und darum auf jeden Fall fotografieren…, aber man soll ja nicht lügen, auch in der Kirche nicht. Am Nachmittag beim Dankgottesdienst (vor dem Erinnerungsgottesdienst am Montag bin ich abgereist) durfte man aber. Zwar nicht ganz explizit, aber nachdem vorne schon Gegenstände gesegnet wurden und die Kinder ihre Schau-Prozession um die Kirchenbänke beendet hatten, habe ich das Verbot für aufgehoben gehalten und bin nach vorne gegangen, die feine Contax am Auge und sofort ein Dutzend Väter hinter mir, die nur auf ein Zeichen zumm Knipsen und Filmen gewartet hatten. Schöne National-Geographic-Momente hatte ich schon verpasst, die Kerzenprozession, die Verwandlung von Brot in Hostien oder das Weihwasserspritzen und die Reaktion meines Patenkindes, das sich schüttelte und sich das Wasser mit dem ganzen Arm aus dem Gesicht rieb. Aber immerhin, ein wenig Pastor, Ministranten und weiße Kleidchen hatte ich noch.

Dass man sich fremd fühlt, wenn man als einzige aufsteht, wo die anderen knien, hatte ich erwartet, die Liturgie immer in die falsche Richtung zu singen ist auch völlig in Ordnung. Aber all diese kleinen Bräute, die kindgerechte Zerkleinerung aller Bedeutung in Verbindung mit dem Anspruch, das Taufversprechen nun, da sie alle groß und verständig seien, zu erneuern, die Verherrlichung von Dingen, das war schon sehr befremdlich.
Und warum müssen moderne Kirchen so hässlich sein, und warum dürfen sie statt mit Orgelbrausen nur mit modernen Anbetungsliedern gefüllt werden, diesen von Keyboard und Gitarre begleiteten Poesiealbum-Texten?
Selten so lutheranisch gefühlt.
 

Veröffentlicht unter Reisen

Auf der Suche nach Bekennerbriefen


Ach ja?


Hier bei Don Dahlmann
ein Kommentar dazu, den vorigen Eintrag gleich mitlesen.

Guter Grund

Gerade habe ich das erste Mal einen wirklich guten Grund für Socken in Männersandalen gesehen: die grünen, schartigen, nach oben gebogenen Fußnägel des älteren Herrn, der mir auf der Treppe von oben nach unten entgegegen kam.
Zehn gute und grüne Gründe, genaugenommen.
Urgs.