Wo die Butter liegt

Im Gang mit Kaffee, Knäckebrot und Müsli hocke ich vor dem Regal und inspiziere die Espresso-Sorten, als mich eine etwas wacklige alte Dame anspricht: „Können Sie mir vielleicht sagen, wo die Butter ist? Ich bin sonst nicht so vergesslich, aber ich kann mich nicht erinnern, wo die Butter ist.“
Wir gehen gemeinsam zum Kühlregal und versuchen, über die Butterstücke gebeugt, ihrer Erinnerung auf die Sprünge zu helfen; nein, sie weiß nicht mehr, welche Butter sie normalerweise kauft. „Eigentlich bin ich nicht so vergesslich, vielleicht das Wetter…“
Wir entscheiden uns für ein normales Stück „Deutsche Markenbutter“, sie steckt es in die Einkaufstasche, der rosa Pullover ist ein wenig fleckig, die Haare stehen am Hinterkopf ein bisschen wirr. „Ach wissen Sie“, seufzt sie, „ich werde nämlich nächste Woche 87. Und eigentlich ging es mir auch gut, aber seit mein Mann im Januar gestorben ist, da geht es bergab mit mir. Aber dass ich mich so schlecht erinnern kann wie heute. Mein Mann war 90, und er ist einfach umgefallen. Einfach im Büro umgefallen und war tot. Seitdem geht es mir nicht mehr so gut.“
Wir stehen an der Kühltheke, sprechen von ihrem Geburtstag, sie erzählt von ihren Kindern, die nächste Woche kommen werden, der Junge wohnt hier, ihre beiden Mädchen sieht sie selten, aber sie rufen jeden Abend an. Ihr Mann war bekannt in der Stadt, sagt sie, erst war er Busfahrer, dann hat er im Büro arbeiten können, mit den Buslinien, das war gut, und als er in Rente ging, hat sie auch aufgehört zu arbeiten. ‚Was sollst du arbeiten, wenn ich hier zu Hause bin‘ hat er gesagt, ‚das müssen wir doch nicht.‘ Sie kommt jeden Tag runter in die Stadt, zu Fuß eine Strecke von sicher 3 km, ihr Mann hat immer gesagt, dass sie sich bewegen soll, raus soll, so macht sie jeden Tag diesen Gang, geht einkaufen, bummeln, ein bisschen unter Leute, und fährt dann meist mit dem Bus wieder rauf.
Schlagsahne steht noch auf ihrem Zettel, die hatte sie schon gefunden, und Fleisch mit einem Fragezeichen.
„67 Jahre waren wir verheiratet“, sagt sie, und ich muss kurz rechnen, ob das sein kann, ja, es kann. Sie war 20 und evangelisch, er katholisch, und sie hatten sich kaum kennengelernt, da hat er gesagt, das ginge ja nicht, wenn sie mal Kinder hätten und die evangelisch wären und er katholisch, das machen wir lieber gleich richtig, und so ist er evangelisch geworden, obwohl sie ihm doch gesagt hatte, er könnte auch gerne weiter zu St. Michael gehen, in der Straße, wo auch ihre Eltern wohnten.
„67 Jahre verheiratet, und es war eine gute Ehe. Und im Januar ist er gestorben. Ich werde ja nächste Woche 87.“ „So lang, 67 Jahre, das ist wunderbar… Sie sagen, Sie waren glücklich?“
„Oh ja. Es war eine glückliche Ehe. Wir waren sehr glücklich, ja. Und wissen Sie, wenn ich jetzt nach Hause komme, ist da keiner mehr. Ich werde heute Abend Kreuzworträtsel lösen, ich mache jeden Abend Kreuzworträtesel, wenn nichts Gescheites im Fernsehen kommt, und das ist ja oft so. Im Haus wohnen nur noch drei Witwen, ja, ich bin jetzt auch eine Witwe, aber die Frau X gegenüber, die liegt nur auf dem Sofa und ist krank, da mag ich gar nicht mehr klingeln, immer ist sie krank und liegt nur auf ihrem Sofa. Ich sehe niemanden mehr, und ich spreche mit niemandem mehr, nur mit Ihnen jetzt, das ist so schön, das tut so gut, dass man mal was reden kann. Früher haben wir jeden Samstag mit dem Herrn Y und seiner Frau zu Abend gegessen, jeden Samstag zu Abend gegessen und dann Karten gespielt, das war ein fester Termin, der ging vor. Immer haben wir das gemacht. Aber die sind jetzt auch alle tot.“
Wir überlegen kurz, ob sie jetzt alles hat, und dass heute Abend ihre Töchter anrufen werden.
„Wissen Sie, ich kommen gleich nach Hause, und dann schließe ich die Tür auf und dann ist es jedes Mal so, dass ich ihn dort sitzen sehe in seinem Sessel, und dann sehe ich ihn, wie er immer auf mich zugekommen ist, wenn ich nach Hause kam, aus seinem Sessel aufgestanden und auf mich zu. Immer sehe ich das noch, wenn ich nach Hause komme, aber er ist ja nicht mehr da.“
Ich halte ihre Hand, oder sie meine, und sie sagt: „Aber heute, wenn ich nach Hause komme, werde ich weinen. Aber nicht, weil ich traurig bin, heute werde ich weinen, weil Sie so nett waren und mir zugehört haben. Vor Glück weinen.“
Ich schaffe es mit dem Weinen nicht bis nach Hause; schon im Gang mit dem Brot laufen die Tränen.

8 Gedanken zu „Wo die Butter liegt

  1. Solche Begegnungen und Geschichten hinterlassen bei mir ein sehr flaues Gefühl in der Magengegend und sie rücken das eigene kleine Weltbild zurecht und lassen einen dankbar dafür sein, dass man nicht allein ist.Den Partner kann nach so vielen Jahren niemand ersetzen. Diese Frau hat drei Kinder und sicher auch Enkel, aber allein ist sie trotzdem. In einem Mehr-Generationen-Haushalt wäre das etwas einfacher. ……Wenn es nicht schon so spät wäre, würde ich jetzt meine Oma anrufen.

  2. Leute, die Butter essen sind oft sympathisch. Aber diese Dame würde selbst als Margarine-Konsumentin noch Herzen erobern… beso, cha

  3. So anrührend, so traurig! Ob sie wohl noch lebt? Und wenn nicht, ist ihr Mann aufgestanden und auf sie zugekommen?
    (Und von Dir sehr anschaulich geschildert!)

    Mir kommt wieder in den Sinn, dass ich vor Jahren, als ich noch im Greifswalder Weg wohnte, eine wohl ebenso alte, aber noch wackligere Dame zwischen den parkenden Autos gefunden habe. Ich wollte gerade die Kofferraumklappe schließen, als ich weiter links ein Stück dunkelblauen Stoff zwischen den parkenden Autos sah, das nicht flach am Boden anlag. Eigentlich nicht glaubend, dass dort jemand läge, ging ich nachgucken und fand eine alte Frau auf dem Boden liegend, ganz still, die Augen geöffnet, aus einer Platzwunde am Kopf sickerte Blut. Sie war wohl durch einen falschen Tritt am Bordstein gestolpert, und, wie es aussah, spannungslos lang hingefallen. Ich habe sie vorsichtig auf die Beine gestellt, mit einem Papiertaschentuch das Blut aus den Gesicht gewischt und gefragt, wo sie wohne. Im Matthias-Claudius-Stift. Fest eingehakt sind wir dann mit ganz kleinen Schritten zurückgegangen. Gesprochen hat sie nicht viel, nur leicht gezittert.

    Und dann fällt mir noch ein Gedicht von Arno Holz ein:

    Liegt ein Dörflein mitten im Walde,
    überdeckt vom Sonnenschein,
    und vor dem letzten Haus an der Halde
    sitzt ein steinalt Mütterlein.
    Sie läßt den Faden gleiten
    und Spinnrad Spinnrad sein
    und denkt an die alten Zeiten
    und nickt und schlummert ein.

    Heimlich schleicht die Mittagsstille
    durch das flimmernde grüne Revier.
    Alles schläft; selbst Drossel und Grille
    und vorm Pflug der müde Stier.
    Da plötzlich kommt es gezogen
    blitzend den Wald entlang
    und vor ihm hergeflogen
    Trommel- und Pfeifenklang.

    Und in das Lied vom alten Blücher
    jauchzen die Dörfler: »Sie sind da!«
    Und die Mädels schwenken die Tücher
    und die Jungens rufen:»Hurra!«
    Gott schütze die goldenen Saaten,
    dazu die weite Welt;
    des Kaisers junge Soldaten
    ziehn wieder ins grüne Feld!

    Sieh, schon schwenken sie um die Halde,
    wo das letzte der Häuschen lacht.
    Schon verschwinden die ersten im Walde,
    und das Mütterchen ist erwacht.
    Versunken in tiefes Sinnen,
    wird ihr das Herz so schwer,
    und ihre Tränen rinnen:
    »So einer war auch Er!«

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