O tempora

Wenn ich sagte, bei meinen Studentinnen und Studenten inzwischen kaum noch etwas vorauszusetzen, klänge das viel kulturpessimistischer als es gemeint wäre. Tatsächlich habe ich aber gelernt, dass meine Studenten und mich inzwischen fast eine Generation trennt, gefühlt zwei. Wenn ich nach Ereignissen vor der Wende frage (Rezeption eines politisch engagierten chilenischen Lyrikers beispielsweise, ob sich die ihrer Einschätzung nach in West- und Ost-Deutschland unterschieden haben könnte), dann muss mir klar sein, dass ich mich bei 1993 Geborenen damit auf reines Geschichtswissen beziehe. Die Vorwendezeit können sie beim besten Willen und größtem Engagement nicht erinnern. Entsprechend muss ich auch bei Lektüre-Erfahrungen einfach einen Schritt zurücktreten – die Voraussetzungen sind nun mal nicht (mehr) vergleichbar. Ich weiß nicht, ob sie weniger gelesen haben als wir Studienanfänger vor 15 Jahren, sicher aber anderes. (Ich freue mich trotzdem über jedes schon gelesene oder zum vom Hörensagen bekannte Buch.)
Dennoch. Da war dann diese Gruppe Studenten, eine junge Frau und zwei junge Männer, ich würde sie auf Mitte 20 schätzen, die uns im irgendwo zwischen Hannover und Nordsee im Zug Richtung Norden gegenüber saßen und viele Kilometer lang rätselten, wie die Vorwahl von Niedersachsen sei. Ein Gleichaltriger im gleichen Wagen schaltete sich irgendwann ein und erklärte, jede Stadt oder jeder Landkreis habe seine eigene Vorwahl, sie müssten also für die richtige Vorwahl schon mehr wissen als das Bundesland. Die anderen konnten das nicht glauben, in Hamburg aufgewachsen waren sie, so ihre Erklärung, stets davon ausgegangen, dass jedes Bundesland eine eigene Vorwahl habe. Und nur eine. Der Hilfsbereite nannte als Beispiel die Vorwahl von Emden. Da käme er her, das sei ganz sicher nicht die Vorwahl für das ganze Land. Die Blicke blieben skeptisch. Vielleicht, möglicherweise, eventuell in Niedersachsen; um den Einheimischen nicht zu verärgern wolle man das – für die Dauer der Fahrt, sagten die Blicke – akzeptieren. In Schleswig-Holstein sei das aber wie in Hamburg und Bremen. Da gebe es auch für das ganze Land nur eine Vorwahl. Eine 040 für alle. (Wie die Vorwahl von Schleswig-Holstein lautete, fiel ihnen nicht ein, aber wann muss man denn auch auf Festnetz ins Nachbarland telefonieren.)
Vorwahlen gehören nun wahrlich nicht zum erwarteten mitgebrachten Fachwissen meiner beruflichen Spezialisierung, auch früher nicht, und ich werde nie in die Verlegenheit kommen, Telefonnummern abzufragen. (Hoffe ich.) Und immerhin kannten die jungen Leute aus dem Stand gleich vier Bundesländer, da wäre möglicherweise auch noch mehr drin gewesen. Dennoch hinterließ mich diese Szene etwas ratlos. Ja, vielleicht doch ein Anflug von Kulturpessimismus.
Ratlos nicht zuletzt vielleicht, weil sie auf ihren Smartphones nach dem Prinzip von trial and error zwar verschiedene Vorwahlen zur vorhandenen Rufnummer einer Mitfahrgelegenheit ausprobierten, die aber eventuell auch eine Handynummer war, auch das war nicht sicher, jedoch keiner aus dieser Generation nach langem Zweifeln und Rätseln einfach mal googelte, wie sie denn nun wirklich sei, die gesuchte Vorwahl von Niedersachsen. Etwas auf dem mitgeführtem Smartphone googlen! Das sollte man doch als Kernkompetenz voraussetzen dürfen!
Ich setze nichts mehr voraus.
(Die Nummer der Auskunft ist 11880. Ohne Vorwahl.)

on my way

Ich mache keine Radtouren, ich fahre Rad, von A nach B. Wenn ich nicht Rad fahre, gehe ich zu Fuß oder fahre neuerdings manchmal mit dem Auto. Bei Schnee und Eis lässt mich der Lieblingsitaliener nicht mit dem Fahrrad los, vor allem nicht mit dem Kind im Kindersitz, und angesichts der Serpentinen, die unsere Waldwohnung mit der Stadt verbinden, hat er natürlich und wie immer vollkommen Recht. Nun liegt Schnee und Eis, und gar nicht wenig, also muss das Rad im Schuppen bleiben, und als Fahranfänger traue ich mich auch nicht mit dem Auto die Berge runter. Irgendwie muss Nuno aber in die Kita kommen, und ich zur Arbeit.  „Öffentliche“, denken jetzt alle großstädtischen Leser, aber mit den Öffentlichen ist das so eine Sache in der Kleinstadt. (Gemeinsame Wunschliste für unsere nächste Stadt: ernstzunehmendes Wasser, Uni, Straßenbahn, Bundesligaverein.) Die Öffentlichen beschränken sich hier auf genau ein Verkehrsmittel, auf den Bus. Zur Arbeit kann man sehr gut mit dem Bus fahren, die Verbindung ist geradezu sensationell gut. Die Kita liegt allerdings in einer anderen Ecke unserer kleinen Stadt. Wir wohnen auf Berg 1 im Osten, die Innenstadt liegt im Tal, die Arbeit nördliche angrenzend zur Innenstadt, die Kita liegt auf Berg 2 im Süden.
Ich weiß nicht, wie groß der Höhenunterschied zwischen unserem Berg und der Innenstadt in Metern ist, in Grad Celsius sind es 3°, und das ist momentan der Unterschied zwischen Schnee (oben) und Matsch (unten), und – mit dem Rad – jede Menge Muskelkater.
Nuno muss also in die Kita. Die Verbindung vom höheren Berg 1 zum niedrigeren Berg 2 ist möglich, ohne Wolfsschluchten zu überwinden. Mit dem Fahrrad fahre ich sehr idyllisch am Waldrand entlang, dann zwischen Park und Wald und durch ein wenig Villengegend, dann wieder Wald und Wohnviertel, außerdem geht es bergab und ich bin morgens, wenn die Zeit drängt, sehr schnell da. Der Rückweg ist mühsamer, aber am Ende der Saison machbar. Mit dem Auto führt die Strecke etwas weiter vom Wald weg, verläuft sonst ähnlich. Und mit dem Bus kann man das eigentlich vergessen. Der Bus fährt zwar direkt vor dem Haus ab, nimmt dann aber Irrwege, und Querverbindungen sind tabu. Dank Eis und Schnee habe ich gerade eine kleine Versuchsreihe laufen. Nehmen wir der Einfachheit halber den Weg Waldwohnung – Kita – Waldwohnung; gehe ich von der Kita zur Arbeit, geht dieses Streckenstück ein wenig schneller, aber nicht viel.
Fahrrad, wenn es das Klima zulässt: Hinweg: 10 Minuten, Rückweg etwa 25 Minuten (ohne zu schieben!)
Auto: Hinweg: 8 Minuten, Rückweg ebenfalls 8 Minuten.
Bus: Die Seite der Verkehrsbetriebe schlägt folgende Optionen vor:
a) 24 min Fußweg Richtung Zentrum – 6 min Bus – 16 min Fußweg. Macht 46 Minuten, einfacher Weg. Rückweg gucke ich gar nicht nach.
b) 6 min Bus Richtung Arbeit – 3 min Überlandbus – 2 min Fußweg – anderer Überlandbus Richtung Nachbarstadt – 6 min Fußweg. Gesamt, Hinweg: 35 Minuten. Und 3x Umsteigen und schwer kalkulierbare Kosten, da die Überlandbusse nicht zum Stadtverbund gehören.
c) 14 min Bus ins Zentrum – 10 min Umsteigezeit – 10 min Bus Richtung Kita (!) – 6 min Fußweg. Gesamt, nur Hinweg: 40 Minuten. Vorweggegriffen: Das ist die einzig sinnvolle Verbindung, wenn ich mit einem Dreijährigen unterwegs bin.
d) 23 min Fußweg Richtung Zentrum – 2 min (!) Bus – 18 min Fußweg.  Gesamt: 43 Minuten (nur Hinweg), und das nennt die Seite „direkt“.
Also, wenn ich mit Nuno fahre, muss ich c) nehmen – in die Stadt fahren, umsteigen, in die andere Richtung wieder hoch, und das gleiche dann zurück, ich bin dann insgesamt 90 Minuten unterwegs.
I’m on my way, won’t be back for many a day…
Option a) und d) haben mich aber darauf gebracht, doch vielleicht einfach direkt zu laufen – für 2 Minuten Busfahrt muss man ja weder einen Umweg gehen noch 2 Euro zahlen. Um Nuno abzuholen, bin ich also gestern zu Fuß los, wetterfest eingepackt, mit Weihnachtsoratorium auf den Ohren, leichtem Schneeregen und Stoppuhr: 30 bis 35 Minuten.  Und deutlich angenehmer als mit dem Bus. Den muss ich dann für den Weg mit Kind trotzdem nutzen, allein ist der zügige Spaziergang aber besser als alle anderen innerstädtischen Weltreisen. Ich gehe nicht spazieren, ich gehe hin. Zum Rodeln oder Schlittenziehen waren gestern die Wege zu stark gestreut und zu matschig, wenn es weiter schneit, können wir vielleicht auch den Schlitten nehmen, bergab geht es dann schnell, bergauf tu ich was für die Kondition. Fallt mit Danken, fallt mit Loben.

Zu verbessern gibt es aber bei der Variante Spaziergang zwei Dinge:
1. andere Schuhe, um nach 35 Minuten Fußmarsch nicht vier bis acht Stunden lang nasse Füße zu haben
2. Wohnungsschlüssel mitnehmen, um nach der Rückkehr nicht 90 Minuten im Treppenhaus zu sitzen.
Dann klappt es auch mit der Zeitersparnis.

Harzreise

Mir ist der Harz immer dunkel vorgekommen, dunkel und eng wie die grau verschindelten Häusergassen der Bergbaudörfer. Das ist sicher nicht fair dem Harz gegenüber, irgendjemand sagte mir mal, im Osten soll er teilweise ganz weit sein und von hellen Birken geprägt, fast skandinavisch. Wegen meines inzwischen kaum mehr provisorisch zu nennenden Wohnortes in Harzrandlage komme ich meist von Südwesten her in den Harz, vielleicht ist es der geographisch falsche Zugang. Vielleicht ist es auch der biographisch falsche Zugang. Er sollte bestens sein, sind doch sowohl mein geliebter Großvater als auch meine geliebte Mutter gebürtige Harzer. Oder „am-Harzer“, wie es in ihrem Geburtsort genau heißt. Doch vielleicht bin ich geprägt von meiner ebenfalls sehr geliebten Großmutter, der Mutter meiner Mutter und Ehefrau jenes Harzer Großvaters. Sie kommt aus einer ganz anderen Gegend, von der Ostsee. (Das ist meine Großmutter.) Ihr Ankommen im Harz war kein glückliches, sie war auf der Flucht und hochschwanger, bei sich hatte sie nichts als ein Kissen mit Säuglingsausstattung. Nachdem die Russen das Gasthaus ihrer Eltern übernommen hatten, kamen ihr Mann, der Kriegsheimkehrer, und sie erst einmal bei seinen Eltern unter. Das war ein Glück, ihrem Vater (und nicht nur ihm, natürlich) ist es nicht gut gegangen in der Sowjetischen Besatzungszone, wer weiß, was sie noch erlebt hätte – zusätzlich zu dem, was sie schon erlebt hatte und worüber sie nie offen sprach. Nur, dass der eine im Haus eigentlich sicher nett gewesen sei. Ihre Angst blieb aber spürbar bis weit nach der Wende. Dank ihrer weit fortgeschrittenen Schwangerschaft und weil sie Familie in der Nähe hatte, durfte sie nach der Flucht in überfüllten Zügen das Durchgangslager Friedland direkt wieder verlassen und zum Hof im Harz weiterreisen, doch bei den Schwiegereltern wurde sie mit ihrem neuen Status als mittelloses Flüchtlingsmädchen nicht mehr ganz so herzlich aufgenommen wie zuvor. Ihr kleines Mädchen, ihr erstes Töchterchen, für das die Erstlingsausstattung im Kissen war, ist kurz nach der Geburt gestorben. Davon hat sie mir viel später erzählt, und so habe ich zu dieser Geschichte meine ganz eigenen Bilder von ihr geerbt. Das also war der Anfang ihres neuen Lebens im Westen. Zwei Jahre später wurde ihre zweite Tochter geboren, meine Mutter, die Zwillingsmädchen kamen weitere zwei Jahre später in der nächsten Kreisstadt zur Welt. Da sind sie geblieben, meine Großeltern, und da wohne ich heute, ganz in der Nähe zu dieser Familiengeschichte also. Dennoch werde ich nicht warm mit dieser Gegend, und ganz und gar nicht mit dem Harz. Kann man Unbehagen erben? Kann man Prägungen über zwei Generationen annehmen? Oder bin ich einfach mit dem falschen Fuß zuerst in den Harz gegangen? Vor ein paar Jahren, meine Großmutter war schon tot und ich gerade schwanger, waren wir in ihrer alten Heimat, auf der Ostseeinsel. Als ich dort an der Seebrücke stand und über das weite Meer schaute, hinter uns Kiefern und Sand und landschaftliche Offenheit, habe ich mich so heimisch gefühlt. Das kann eigentlich auch nicht sein, denn dort bin ich ja nicht zu Hause und war es auch nie. Wenn überhaupt, bin ich ein Nordseekind. (Allerdings schwappte so ein Heimatgefühl auch in Dresden auf der Brücke über mich hinweg, da kommt die andere Familie her.) Aber ich stand dort am Strand, blickte auf die Seebrücke, dachte an die sepiafarbenen Bilder meiner Großmutter als junges Mädchen, wie sie so dort leicht und strahlend an dieser Brücke gestanden hatte, und versuchte diese Weite und dieses Meer mit dem Harz in Einklang zu bringen. Wie kann man mit Angst, Abschiedsschmerz und Ungewissheit über den Verbleib der Liebsten, aber auch mit viel Hoffnung im und unterm Herzen diese Reise antreten und dann dort – ich weiß nicht, was sie fühlte; ich fühlte mehr als 60 Jahre später vor allem Enge. (Buchenwald war noch enger, ja. Aber ich dachte in dem Moment nicht an Buchenwald, nur an diese Weite des Ostseestrandes, das Licht und die betörende Schönheit einer Insel, und an die Enge der Schindelgassen und die dunklen Tannen.) Das prägt mein Harzbild, und es ist ganz sicher ungerecht, ich habe dem Harz glaube ich nie eine Chance gegeben, sondern sehe ihn durch einen nicht gewussten, nur empfundenen Nachkriegsfilter. Wahrscheinlich ist auch der Harz ein heller Ort mit herrlicher Natur, wenn man nur bereit ist zu schauen.
Allerdings sind meine Mutter und ihre Schwestern gerade unterwegs im Harz, in ihrem Harz. Sie schrieben mir heute, wie sie gefahren sind: „Über Neinstedt, Totenrode, vorbei an der Datschensiedlung Abendruhe sind wie über Elend wieder in Sorge gelandet.“ Ein heiteres Fleckchen Erde also fürwahr.
(Sie schlagen als künftige Reiseziele Glücksburg und Freudenstadt vor. Ich möchte wieder an die Ostsee.)

Feliz cumpleaños, poeta.

Das war 2005. Morgens um 5 nach einer Fahrt durch das halbe lange Land, angekommen am Hafen von Puerto Montt und mit Blick nach Chiloé. 
Heute hat er Geburtstag, mein Dichter. Herzlichen Glückwunsch zum 75, Floridor! 
A un avión en la noche
Un
pirata
nos roba
las estrellas
y se las lleva al mar
sobre un
pez
volador.
(Floridor Pérez, sehnsuchtsvolles Kindergedicht aus Cielografía de Chile, 1973)


Flüsse

Vom kleinen Rinnsal, das man nicht Fluss nennen mag, aufgebrochen, in den südöstlichsten Winkel des Landes gefahren zu Donau, Inn und Ilz (letzteres auch eher Rinnsal), dazu dünnes Südbier und fleischlastiges Essen und ein Campus am Flussufer. Dann einmal an der Südgrenze entlang weiter in den südwestlichsten Winkel, zu Rhein, Bodensee und Seerhein. Ein Campus über dem See, angeblich mit Blick auf die Alpen, die sich trotz Sonnenschein im Dunst verbargen. Dort die uns beherbergenden Wähler angefeuert, die wild entschlossen aufbrachen, um „Mappus den Pflock ins Herz zu stoßen“. Aufgeregt die hin- und herrutschenden Prozente verfolgt, warum verschlechtern sich von Prognose bis zum Amtlichen Endergebnis eigentlich immer nur die Guten. Mit anderem dünnen Bier und gutem Wein und allerlei Seefisch unseren und des Ministerpräsidenten Abschied gefeiert, in einem paradiesischen Viertel mit über 50% Grün. Über Neckar und Main wieder Richtung Norden. Hier immer noch Schwarz-Gelb und kein nennenswerter Fluss, aber Sprühregen. „Bisscha Regen schön“, findet der Sohn auf dem Fahrrad.

12 Tage Santiago [11]

Sonntag, 5. September, „Día del Patrimonio Nacional“, eine Mischung aus Folklore-Festival, Tag des Offenen Denkmals und Langer Nacht der Museen. Ich bin wieder in Santiago und hatte sowieso vor, ins Museo Bellas Artes zu gehen, auf dem Weg dorthin durch den Parque Forstal gucke ich einer Weile einem Kinder-Duathlon zu, dann bleibe ich lange vor dem Museum, wo Livemusik gespielt wird und in Trachten Cueca, der chilenische Nationaltanz, getanzt wird. Zunächst von einer Gruppe in der feineren Trachten, die Stiefel und Ponchos sind Zeichen eines „huaso rico“, eher Großgrundbesitzer als kleine Bauern. Sie sind musikalisch wie tänzerisch ziemlich gut, am Ende fordern sie Leute aus dem Publikum zum Mittanzen auf, und keiner ziert sich, alle hüpfen mit und schwenken weiße Taschentücher. Wer keines hat, zückt zumindest ein Tempo.





Im Anschluss macht eine Folklore-Gruppe mit drei Sängerinnen Soundcheck, die identische geschnittene Minikleider in den Nationalfarben tragen, die erste Cueca ist aber so schrill und übersteuert, dass ich das Spektakel verlasse und ins Innere des Museums gehe. Im Museo Bellas Artes ist die Dauerausstellung bei freiem Eintritt geöffnet, thematisch (Portraits, Körper, Bestand der Gründungszeit des Museums vor exakt 100 Jahren) sortierte Säle mit feinem Parkett, das Gebäude selbst ist schon ein Schmuckstück. Leider darf man, wir mir vor dem letzten hier gezeigten Foto freundlich, aber bestimmt gesagt wird, keine Fotos machen…



(Letztes Bild: Ein Bild, was ich sowieso gerne mag, „La carta de amor“ vom chilenischen Maler Pedro Lira. Da wusste ich schon, dass ich nicht fotografieren durfte, aber die Ähnlichkeit in der Haltung war zu verlockend…)
Im Muesum sind recht viele Leute, vor allem viele Familien mit kleinen Kindern, aber auch junge Pärchen oder Grüppchen Jugendlicher. Ich bin in Deutschland selbst sehr selten im Museum, wie ist das eigentlich bei uns? Sind sonntags viele Familien im Museum? Ich kann es nicht erinnern.
Danach eine große Runde durch die Stadt gedreht (leider habe ich die Handpuppenspieler, die mich vor 5 Jahren jeden Sonntag ins Zentrum zogen, dieses Jahr nicht finden können, vielleicht haben sie aufgehört) und so lange auf der sommerlichen Plaza de Armas gesessen, bis mich eine Taube erwischt hat – das soll, heißt es hier, Glück bringen.

Später auf der Runde habe ich zufällig – da hat diese Stadt 6 Millionen Einwohner und man begegnet sich doch zufällig, ich habe hier auf der Straße auch schon Leute aus meiner Heimatstadt in Deutschland getroffen – meinem Dichter begegnet, wir haben dann zusammen eine weitere Cueca-Darbietung angeguckt, dieses Mal volkstümlicher, die Männer in Sandalen, die Frauen weniger wie vom Land als wie aus „Poblaciones“ gekleidet. Die Stimmung ist noch besser als zu Anfang, zumal diese Gruppe das folkloristischer Drumherum auch intensiv betreibt, ein versauter Witz jagt den nächsten und das Publikum überschlägt sich. Diese Vorführung, sagt mein Dichter, und der weiß bei Folklore, wovon er spricht, sei „autentiquísimo“, so einen wahrhaften 18. September (darauf läuft all das hinaus) hätte in der Hauptstadt noch nicht erlebt, und am Ende lässt er sich sogar zum Tanzen hinreißen – und das, gesteht er mir atemlos, habe er seit der Diktatur und seinem Wegzug aus dem ländlichen Süden nicht mehr getan. Nach wenigen rein vorgeführten Cuecas werden nämlich wieder wir Zuschauer zum Teilnehmen aufgefordert, nicht nur Rhythmus solle man klatschen, sondern Taschentücher zücken und tanzen, und es wird getanzt. Für mich beeindruckt, dass die Jungen genauso mitmachen wie die Alten, die Turnschuhmädchen wie die Herren im Anzug, die blondierte Mami genauso wie der Herr, der über der feinen Hose einen Poncho trägt, und auch die coolen Jungs mit Rocker-T-Shirts, die mit Rastalocken oder Ohrringen wedeln mit Tempos, klatschen und tanzen kunstgerecht mit den als Landfrauen verkleideten älteren Damen.



12 Tage Santiago [vorgezogener Schluss]

Die Tage 11 und 12 bekommt Ihr noch, es war etwas schwierig mit Internet am Abend, und tagsüber hatte ich keine Lust, bei sommerlichem Sonnenschein drinnen vor dem Computer zu sitzen – außerdem musste ich ja für Euch Sachen erleben! Vielleicht morgen in Atlanta, wo ich 10 Stunden Zeit auf dem Flughafen habe… Bis dahin verabschiede ich mich, von Euch, von Santiago, von Chile.

Ciaocito, Chile. Cuídate.

12 Tage Santiago [9b und 10]


Valparaíso und Viña del mar.
Valparaíso ist die Hafenstadt, Containerhafen, Märkte, Tor zur Welt, auf steilen Hügeln gebaut, voller endloser Treppen, die zum Teil durch
Gebäude oder verborgene Durchgänge führen, dazu zur Entlastung der Fußgänger einzelne mit Seilwinden betriebene Aufzüge, die an den Hängen kleben. Auf den Straßen verkehren noch alte Trolleybusse, alle Hauswände sind besprüht, überall, wo nicht mit Fisch oder Zwiebeln gehandelt wird, gibt es Kunsthandwerk, man gibt sich hippiehaft und künstlerisch. Viña del mar liegt etwa 5 km weiter nördlich und teilt sich mit Valparaíso die Bucht, klettert ebenfalls die Hügel hoch, die allerdings hier ein wenig weiter weg von der Küstenlinie steil zu werden beginnen. Viña – Weinberg – ist das alte Strandbad und hat sich an einigen Stellen den alten Charme eines mondänen Badeortes bewahrt, es werden aber stets weniger Fassaden und Anblicke, die diesen Charme versprühen. Die Stadt ist kleiner, sauberer und in der Bevölkerungsstruktur deutlich älter als der Nachbarort. Die prachtvollsten Häuser wurden damals, Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem, an der aus Santiago kommenden und Modernität und Weltläufigkeit versprechenden Bahnlinie gebaut, dort sind noch einige Villen im Südstaatenstil zu finden.


Valparaíso, Zentrum.


Buchhandlung „Crisis“, Valparaíso.



Ein Junge lässt von einem Mirador aus einen Drachen s
teigen, der sich unmittelbar nach diesem Foto in einem Baum verfängt, der unerreichbar viel tiefer zwischen Wohnhäusern am Abhang klebt. Er und sein Cousin versuchen noch eine Weile, den Drachen zu retten, reißen dann den Faden durch und rennen schließlich zu ihrer Großmutter, um sie um Geld für einen neuen Drachen zu bitten.

Am Abend besuchen wir einen Bekannten des chilenischen Freundes, den ich hier besuche, ein Künstler, der eine Wohnung mit einem spektakulären Blick hat. Außer Farbe, einer Matratze, einigen Bildern und ein paar Büchern ist die Wohnung fast leer, er hat nicht mal einen Stuhl („läuft gerade nicht so gut mit dem Verkaufen“, sagt er, zeigt uns die „kommerziellen“ Bilder für den Handel und seine „anspruchsvolleren“ Bilder, wirklich überzeugend finde ich allerdings keine der Serien), bietet uns aber Kaffee an, den wir am Fenster stehend trinken, auf die Bucht schauend und leise seufzend.

Überhaupt, wenn diese Stadt neben Treppenstufen, die mir einen gründlichen Muskelkater beschert haben, über irgendetwas verfügt, dann über Blick. Das dritte Haus von Neruda, die „Sebastiana“, liegt sehr weit oben über der Stadt, und sie hat vor allem Blick – viel Glas und alle Räume des über 4 schmale Stockwerke konstruierten Hauses schauen Richtung Bucht. Direkt zum Wasser hin ist meist die ganze Front Glas, zu den Seiten, wo man vor allem über Häuser schaut, sind die Fenster dann ungewöhnlich geformt, im Treppenhaus fällt das Licht durch Bullaugen. Auf dem folgenden Foto ein weniger aufregender Blick aus der „Sebastiana“, dafür aber ein paar Exemplare aus Nerudas Altglassammlung. Am besten hat mir von Nerudas Häusern das in Isla Negra gefallen, dessen Architektur hintereinander aufgereihten Eisenbahnwaggons nachempfunden ist, hier gefiel mir aber wohl auch die Lage so besonders, auf einer Terrasse direkt an einem felsigen, wilden Strand.


Selbst die Toten haben in Valparaíso gute Aussicht, im Rücken des Engels und hinter mir liegt die Bucht, und in Blickrichtung gehen die zu Füßen des Engels liegenden grau-weißen Mausoleen des Friedhofs in die bunten Schachtelhäuser des Cerros über.
(Mehr Engel dann wieder auf Flickr, die hiesigen Engel sind anders als die vom Friedhof Recoleta aus Gips, und auffällig waren die vielen fe
hlenden Hände, die meisten wiesen mit Armstümpfen in den Himmel.)
Auf einem Grabstein stand auf Deutsch „Die Liebe höret nimmer auf“, daneben einige, die nur mit einem Namen, dann „und Frau und Kinder“ beschriftet waren, schließlich einer, auf dem stand: „Un hombre bueno“, ein guter Mann. Was will man mehr.

Dachschmuck, einer von vielen:

Einer der wenigen noch in Betrieb befindlichen Aufzüge, man bezahlt ein paar Hundert Peso und spart sich einige Dutzend Höhenmeter, sonst über Treppen oder weitläufige Serpentinen oder Straßen zurückzulegen, die so steil sind, dass man sich wundert, dass die Busse nicht einfach herunterfallen.

Auf einem der zentralen Plätze Valparaísos versammelten sich mittags Homosexuelle und Transvesisten sowie eine Vereinigung von „Müttern von Homosexuellen“, um in einer „Accion Gay“ für die Rechte von Schwulen und Lesben zu demonstrieren. Am beeindruckendsten war zwischen all den schrill verkleideten Männern – einer unterhielt sich am Rande mit uns und kommentierte, die Transvestitenverkleidung sei auch Schutz, denn morgen müsse er normal zur Arbeit gehen und sein Chef wisse von nichts, und das solle auch erst mal so bleiben – das Grüppchen junger Schulmädchen, die ihre dunkelblauen Schuluniformen noch anhatten und mit Buntpapier und Herzchen beklebte Plakate schwenkten, „Vivan los gay“. Ein Mädchen hatte ein Plakat „Ich liebe meinen Papi-Gay“ und fotografierte immer wieder einen mit langem Abendkleid und Krönchen gekleideten großen Mann. Während das Nachbarland Argentinien gerade die vollwertige gleichgeschlechtliche Ehe eingeführt hat – und damit deutlich über die deutsche Lebenspartnerschaft hinausgeht -, haben gerade männliche Homosexuelle in Chile noch einen schweren Stand. Frauenpärchen sieht man ab und zu, männliche Paare sind im normalen Straßenbild kaum anzutreffen.




Kreisel – eines der nun an jeder Ecke verkauften Symbole des chilenischen „mes de la patria“ September. Nur wegen meiner Doktorarbeit hier abgebildet.
Noch etwas Hafen Valparaíso:




Die letzten drei Bilder sind von der Promenade und dem Strand in Viña, die Seebrücke auf dem letzten Foto wird in meinem Reiseführer aus dem Jahr 2005 noch als „place to be“ angepriesen, als pintoresker Treffpunkt von Fischern, Einheimischen und Touristen, wo Delikatessen in Bleiglasvitrinen angeboten werden. Ich kann mich nicht erinnern, ob die im Reiseführer abgebildeten Holzhäuser auf der Seebrücke bei meinem letzten Besuch vor 5 Jahren noch da waren, ich glaube aber, es war damals schon der rostige Kran. Anderes ist erst kürzlich kaputtgegangen oder geschlossen worden.
Einige Häuser in Valparaíso sind ringsum mit den weiß-roten „PELIGRO“ und „Nicht betreten!“-Aufklebern gepflastert, in vielen Straßen wird renoviert, und in die eine der beiden großen Markthallen ist seit dem Erdbeben abgesperrt, Einsturzgefahr.
Am Strand lagern in der Frühlingssonne Familien und spielen Kinder, barfuß und in Winterjacken. (Das einzige Kind in Badehose wirft auf dem letzten Foto Sand ins Meer, im Wasser war niemand.) Ich habe einmal rituell die Füße in den Pazifik getaucht, eisig kalt, ich weiß nicht, wie die zahllosen kleinen Krebse, die sich zwischen den Wellen am Küstensaum ein- und ausgraben, das aushalten.





Ich bin etwas im Rückstand, den heutigen 10. Tag und „Día del patrimonio“ reiche ich im Laufe des Tages nach.

12 Tage Santiago [9]

Kurz vor Mitternacht, zurück in Santiago. Hier wird gleich der Aufenthalt in den Gemeinschaftsräumen des Hostals beendet, was für mich bedeutet, dass ich dann kein Internet mehr habe. Morgen gibt es an dieser Stelle Fotos aus Valparaíso und Viña de Mar, noch zu sortierende Bilder vom Hafen, von Tauben, von Häusern, von Schiffen, von Treppen, von Aufzügen, von Fischen und von einer „Accion Gay“-Demonstration mit gewagten Outfits.