Fünf Kinderbücher plus drei

Nachdem ich gestern meine „Fünf Bücher“ vorstellen durfte, wurde ich nach dem Verbleib einiger anderer Lieblingsbücher gefragt, die es nur oder nicht mal auf die Shortlist geschafft hatten (Kommentare dazu kommen noch), und ich wurde nach den Lieblingsbüchern von Nuno gefragt. Die Frage habe ich an ihn weitergeleitet, und anders als ich konnte er sich sehr schnell entscheiden. „Wir nehmen die fünf dicksten“, sagte er, er ist nämlich ein Vorlesetierchen und genießt es über alle Maßen, vorgelesen zu bekommen. Seine Großmutter liest ihm am Telefon stundenlang vor, während er wie eine Katze auf der Rücklehne des Sofas liegt. Zur Zeit fordert am Telefon Joppe von Gunnel Linde, aus dem Regal gezogen hat er andere – und dann doch nicht nur die dicksten, aber am Ende mehr als fünf. Wir lassen das jetzt so. Die Begründungen sind alle von Nuno, 4 Jahre und 5 Wochen alt. Ich habe nur protokolliert, das hat sich in diesem Blog ja bewährt.

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1. Otfried Preußler: Räuber Hotzenplotz 
Der Räuber Hotzenklotz! Weil der Seppl und der Kasper die Spur vom Sand gefunden haben. Und weil da ein Polizeimann vorgelesen war. Ich fande es gut, weil der Petrosilius Zwackelmann zaubern konnte.

2. Janosch: Ich mach dich gesund, sagte der Bär
Ich finde das gut, weil er dem kleinen Tiger geholfen hat. Und der Arzt! Und der hat gesagt, nächstes Mal werde ich aber krank, dabei weiß man gar nicht, wann man krank wird.

3. Otfried Preußler: Der kleine Wassermann
Weil der auf dem Karpfen Cyprinus schwimmen durfte. Und den Vater mag ich, weil der kleine Wassermann einmal draußen schwimmen durfte, als er ganz weit weg vom Ufer war.

4. Tomi Ungerer: Crictor, die gute Schlange
Weil da der Polizist dabei war, und die Schlange, weil die den Dieb gefesselt hat, und die Frau. Die heißt Madame Louise Bodot. Und dass die Schlange Zahlen machen kann. Können Schlangen so welche Zahlen?

5. Sven Nordqvist: Ein Feuerwerk für den Fuchs
Und bei Findus mag ich, dass der ein Gespenst war. Und das war alles.

plus 1. Astrid Lindgren: Lotta zieht um
Oh, dieses finde ich glaube ich nicht gut, weil die so böse ist. Aber ich finde es trotzdem gut.

plus 2. Astrid Lindgren: Weihnachten in Bullerbü
Den Großvater. Wir haben schon viele Bücher, aber das soll auch bleiben.

plus 3. A.A. Milne: Pu der Bär
Weil der Pu der Bär… ich finde nicht gut, dass der in die Dornen gefallen ist. Aber dass ihm vorgelesen wird, am Freitag. Das mag ich. Und ich will, dass wir das ganze dicke Buch jetzt lesen.

Ich wollt, ich wär…

… unter dem Meer, im Garten einer Krake möcht‘ ich sein!
Das haben wir im Kindergarten gesungen, eigentlich haben es die Kinder der Gelben Gruppe gesungen und uns anderen aus der Blauen oder Roten Gruppe den Mund verboten, sobald wir die ersten Takte anstimmten: Wegen des gelben U-Bootes gehörte dieses Lied ausschließlich den Kindern der Gelben Gruppe. Klar. „Unter dem Meer“ oder „Unter Wasser“ ist auch das Thema des diesjährigen Kita-Faschings bei Nuno im Kindergarten. Nuno ist in der Grünen Gruppe, aber da die Gelbe Gruppe in seiner Einrichtung die Krippen-Gruppe ist, hoffe ich, er kommt um die Revierkämpfe beim gelben U-Boot herum. Zu Hause trällert er themenbezogen jedoch vor allem „In einen Harung jung und schlank,/ zwo, drei, vier, sit-ta-taa, tirallala…“. Unter Wasser. Sie lesen den Kleinen Wassermann, sie singen Herings- und andere Wasserlieder, sie bereiten das alles prima vor. Und Donnerstag dürfen sie sich verkleiden. Wahrscheinlich hängt es mit seinem Geburtstag in der Faschingszeit zusammen, dass Nuno bereits mit gerade so – nämlich seit gestern – vier Jahren mehr Kostüme hat als ich je hatte. Er könnte als zwei verschiedene Ritter gehen, als Musketier und als Indianer, er kann Bauarbeiter sein oder Prinzessin, und Marienkäfer war er auch schon. Unter-Wasser-Ritter sind allerdings eine seltene Spezies, und Nunos Vorstellungen von seinem diesjährigen Faschingskostüm standen auch vom ersten Tag der Thema-Einführung fest: Er wollte Krake sein. Krake, klar. Kraken gibt es in den Kostümabteilungen der örtlichen Kaufhäuser natürlich nicht. Aber eine Krake ist für eine in Handarbeitsdingen total desinteressierte Mami selbstverständlich kein Thema. Du willst eine Krake sein? Du wirst eine Krake sein, Schatz.
(Um kurz zu erläutern, wie ich nähe: Der Marienkäfer trug eine rote Strumpfhose, ein rotes Shirt und ein symbolisches Punktetuch um den Hals geknotet. Den Punktestoff hatte ich aus dem Stoffladen, ich habe ihn zu einem ungefähren Quadrat geschnitten und den ausfransenden Rand mit Gardinenband meiner IKEA-Gardinen umgebügelt.)
„Das Internet“ spülte mir dann aber ein paar wunderbare Kraken-Kostüme an Bord (#1, #2), und Nuno und ich waren gleichermaßen angetan von der Kapuzenkrake. Die sollte es werden.
Aus einer blauen Kapuzenjacke (Kapuzenpullover gab es leider nicht einfarbig und ohne größere Motiv-Aufdrucke) in Schulkindgröße, einer halbierten Styroporkugel, Wackelaugen, silberweißer 3D-Stoffmalfarbe und Watte als Armfüllung habe ich nun also mit Nähunterstützung meiner Mutter (merci!) eine Krake genäht.

Und so sieht sie aus.

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IMG_6753Wir hatten noch darüber diskutiert, ob eine Krake sieben oder acht Arme oder Beine hat. Nuno schlägt immer wieder „sieben“ vor, und darum muss er gelegentlich nachzählen.

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Und wie viele Saugnäpfe?

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Egal. Passt schon! Und weggeschwommen, in einer blauen Tintenwolke.

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Ein hellblaues Radio mit Saiten

Zwei Stunden lang sitzt Nuno im Gitarrenladen auf einem Verstärker und spielt auf der selbstausgesuchten hellblauen Ukulele, während der Lieblingsitaliener größere und PS-stärkere Instrumente ausprobiert. Zwei Stunden Hingabe und danach der mit großem Augenaufschlag formulierte Wunsch, sich die „kleine Gitarre“ noch zum anstehenden Geburtstag wünschen zu dürfen. Wir nehmen das gute Stück gleich mit, und Nuno ist selig. Er spielt und singt seitdem fast ununterbrochen, und besonders freut er sich, dass es seine kleine Gitarre ist. Anders als bei den Instrumenten der Großen darf er hier nicht nur mal zupfen, sondern – solange er sie gut behandelt – auch alles andere. Einzeltöne („Unterschiede spielen“, wie er sagt), Schrammeln, die Ukulele ein- und auspacken, mit oder ohne Plektron spielen, mit oder ohne Gesang. Und das beste: Er darf auch an den sonst verbotenen Wirbeln drehen: „Das ist meine kleine Gitarre. Darum darf ich an den Schrauben drehen, bist ein neues Lied kommt.“

Heiteres Personenraten

Ein einfaches Rätsel. Sie erkennen gewiss, von welchen Personen der Zeitgeschichte Nuno (noch 3) spricht?

a) „Der Tadana, der spricht englisch, engländisch. Dann ist der ein Engländer. Das weiß ich schon, dass der ein Engländer ist! Und er hat Haare, aber die sind ganz kurz.“

b) „Das ist der Blödkönig von Italien! Der muss doch ins Gefängnis!“

Dinner for one, zum ersten Mal

Stolpert der über die Katze?
Ist das ein Tiger?
Ist die tot?
Warum ist die tot?
Warum ist der Kopf noch dran?
Warum liegt der da auf dem Fußboden?
Wo ist Pumuckl?
Warum stolpert er?
Wie sprechen die?
Ist das in England?
Wo ist England?
Stolpert der wieder?
Gleich?
Ist das ein Stolpermann?
Kann man das Lachen nicht sehen?
Aber warum kann man das Lachen nicht sehen?
Hat der Tiger ihn jetzt gebissen?
Warum trinkt der alles?
Was ist ein Diener?
Ist der alle Besuchs?
Stolpert der wieder!
Das ist ein Stolpermann!
Ha! Ha! [sehr künstliches Lachen]
Warum lachen die immer?
Die sollen nicht immer lachen.
Was heißt „Schneider“?
Wie heißt der Mann?
Der da stolpert?
Warum heißt der James?
Warum sagt sie nicht „James“, sondern „Schneider“?
Was hat der gemacht?
Was ist betrunken?
Hat der gerade eben gespuckt?
Warum bringt der alles weg?
Ist das Schwein?
Auf dem Teller, was er jetzt verloren hat?
War das Schwein?
Der ist die Treppe hochgegangen! Mit dem Essen!
[nun echtes Lachen]
Der nimmt immer Bier!
Gießt der falsch?
Wie gießt der?
Was macht der denn?
Das ist doch kein Pferd!
Warum springt der so?
Warum hat der falsch gegossen?
Der trinkt alles aus!
Und die Blumenvase gegessen!
Stolpert er wieder über die Katze?
Warum nimmt er sie hoch?
Ist das zu Ende?
Warum bringt er sie ins Bett?
Bringt sie ihn ins Bett?
Ist es zu Ende?

[Ja. Gutes neues Jahr!]

 

Weihnachten

Da Nuno sich seit Ostern intensiv mit der Kreuzigung beschäftigt, sucht er in jeder Krippe nach dem Kreuz, sucht im Anfang nach dem Ende und sieht das Weihnachtswunder stets durch den Kreuzestod getrübt – „aber kreuzigen, das darf man nicht.“ Die Auferstehung mag ihn nicht trösten, denn er sagt: „Ich glaube, wenn Jesus aufgestanden ist, war er gar nicht richtig tot.“
Der Weihnachtsmann spielt hier praktisch keine Rolle, er hat schon uns als Kindern nicht die Geschenke gebracht, die kamen nicht anonym, sondern von Verwandten, bei denen wir uns auch zu bedanken hatten. Die Entscheidung gegen den Weihnachtsmann fiel nicht bewusst, wir haben nur irgendwie versäumt, ihn einzuführen. Geheimnisvoller Geschenkbringer ist der Nikolaus (oder der Postbote: als kürzlich beim Heimkommen ein Amazon-Paket an der Tür lehnte, war Nuno entzückt: „Der Nikolaus war nochmal da!“) Durch den katholischen Kindergarten sind anstelle des Weihnachtsmannes aber die Fragen der Religion stets präsent, präsenter, als ich das gedacht hätte. Krippen sind das größte, und Nuno strahlt, wenn er das Jesuskind gefunden hat. Wie oben angedeutet, ist er aber ein kritischer Geist; und wenn man selbst in Bethlehem geboren ist, dann ist die Sache mit Weihnachten noch ein bisschen komplizierter als sowieso. So erzählte er glücklich, er habe das Haus gesehen, wo er geboren sei – „da drinnen ist aber Stroh, oder?“ Und fragt er uns, wo wir geboren seien, und wir antworten mit den Namen einer Stadt, hakt er sofort nach: „In einem Stall, oder?“
Und er fragt. Und fragt. Hier ein Auszug, etwa fünf Minuten gestern früh. Es war noch dunkel, die Antworten waren knapp, Sie ergänzen selbst:

„Ist Christus Jesus?
Warum?
Feiert er Weihnachten Geburtstag?
Aber kann man ihm Kuchen machen, wenn er im Himmel ist?
Was ist „aufgestanden“?
Aber jetzt ist er noch im Himmel, ne?
Aber aus dem Himmel kann man gar nicht wiederkommen?
Warum haben sie ihn gekreuzigt? Das darf man nicht.
Hattest Du Jesus im Herz?
Was heißt „Heiland“?
Was macht der heile?
Warum ist Jesus im Stall geboren?
Was ist eine Herberge?
Ist das auch in Italien?
Warum ist Jesus nachts geboren und ich abends?
War ich da ganz klein?
War ich in deinem Bauch?
Und Thore war bei seiner Mama im Bauch?
Und eine Mama, die kein Kind im Bauch hatte, wie heißt die?
Bist du auch im Stall geboren?
Aber warum in der Kliniko?
Und liegt da auch Stroh?
Und was ist im Überraschungsei?
Wo wohnt Dornröschen?
Können wir die besuchen?
Und James Bonds?
Und wie spricht der?
In welcher Nähe ist England?
Mami, du sollst antworten, nicht schreiben.
*
Jesus ist das Licht der Welt. Aber ich auch. Und Omi auch.“

Und Ihr auch. Frohe Weihnachten.

Geheimnisse

Ich bin ja ein Hamster und ein Schönfinder. Und trennen kann ich mich auch nicht. Darum hebe ich auch Schokolade erstmal auf, und besonders gut aussehende aka schön verpackte Schokolade hebe ich erst recht auf. Lange. Oder für immer. Das ist wohl erblich, meine Großmutter hat uns manchmal Schokoladenosterhasen in die Weihnachtspost gelegt, so war sie die aufgehobenen Schätze elegant und für unsere Verhältniss auch noch zeitnah los – und wir saßen da mit eigentlich ungenießbarem Süßkram, der aber Augen hatte und darum nicht weggeworfen werden konnte. Mein Vater sammelt prinzipiell ungefähr alles (und trägt meiner Mutter immer noch nach, dass sie irgendwann dieses eine Messer ohne Griff aus dem Keller weggeworfen hat, denn just in diesem Moment, nach kaum 15 Jahren im Keller, hätte es seine Funktion erfüllen können und wäre gebraucht worden! So ist das immer); außerdem ist er sparsam, auch und gerade mit Lebensmitteln. In den Dänemark-Urlaub haben wir früher die gesamte Verpflegung für eine fünfköpfige Familie mitgenommen. Vor Ort dazugekauft wurden nur Brot, Kammerjunkere (dänische trockene Kekse) und Blaubeermarmelade vom Brugsen. Der Rest kam von uns bzw. von Aldi und wurde geschmuggelt, Gouda im Reserverad und ansonsten viel Nudeln und Raguletto. Für sich selbst hatte er für jeden Tag exakt eine Dose Bier (es war ja Urlaub!), die Palette stand im Auto immer unter meinen Füßen. Und einmal gab es – für drei Wochen Urlaub und fünf Personen – eine Tüte gebrannte Mandeln. Um die haben wir abends gespielt, Stück für Stück, wer im Rommé gewann, bekam eine Mandel. Wer nicht gewann, nicht. Pech. Dann hält so ein Tütchen auch eine Weile. Die Sammlung von Schokolade mit Augen (unzählige Generationen Marienkäfer, Nikoläuse und Hasen) im Bücherregale neben seinem Bett wird uns dereinst in fernster Zukunft vor Probleme stellen; ich hoffe sehr, dass dann ein Volkskunde-Museum Interesse hat.
Entsprechend habe ich den Inhalt meines Nikolausstiefels immer mindestens bis Ostern gestreckt, was zu Frust bei meinen Brüdern geführt hat – wenn Du die Schokolade nicht isst, gib sie doch uns! Aber ich aß ja, alle paar Tage mal ein Stück, ganz langsam. Nikoläuse aß ich tatsächlich nicht, die guckten mich an, wie sollte ich das Papier abreißen. Heute weiß ich, sie schmecken meist auch nicht, aber diese Erfahrung muss man erstmal machen. (Vielleicht schmecken frische Nikoläuse ja auch, wer weiß.)
Mein Sohn hat im seinem Wesen durchaus einiges von mir, auf seinem „Schokoteller“ mit dem Inhalt des Nikolausstiefels wächst momentan auch die Zahl der kleinen Schokolädchen aus dem Kalender stetig an, denn er legt sie morgens „erstmal“ dorthin. Nun haben sie aber im Kindergarten einen Nikolaus im Stiefel gehabt, und zwar einen ganz besonders schönen, fair gehandelten und offenbar kirchentreuen Nikolaus, der nicht wie der Weihnachtsmann aussieht, sondern wie eben der Nikolaus, mit Mitra und Stab. Wir fuhren nach Hause, er trug den Schatz in der Hand und begann sehr bald, das Papier aufzureißen. „Willst Du den wirklich jetzt aufmachen“, fragte ich, ein bisschen auch um die Sitze besorgt, „warte doch bis zu Hause. Und sieh doch, wie schön er aussieht, der sieht wie ein richtiger Nikolaus aus, Du kannst ihn doch noch aufheben.“ Kaum war das Wort dem Mund entflohen, ärgerte ich mich ein bisschen über mich selbst – wollte ich eine Schoko-mit-Augen-Sammlung im Kinderzimmer anlegen, anschwellend an Umfang und sich mindernd an Qualität bis zum Tag seines Auszugs, um dann zu entscheiden, wohin mit all der in bunte Alufolie verpackten Schokolade, „nimm sie doch mit ins Studentenwohnheim“?
Aber Nuno sah das sowieso anders. „Der ist schön“, stimmt er zu, schaute mich dann aber verschwörerisch an, im Begriff, mir ein Geheimnis zu verraten: „Aber unter dem Papier ist Schokolade.“

*
Und zum Glauben lesen Sie bitte zunächst, bevor ich hier zu Stroh und Kreuzigungen komme, bei Herrn Buddenbohm weiter, der eine wunderschöne „Kleine Anmerkung zum Weihnachtsmann“ hat.

Wenn ich einmal groß bin

„Was willst Du werden?“, wird Nuno (3) gefragt. „Ein Schulkind“, sagt er dann oft, denn ein Schulkind sein ist das größte und gleichzeitig vielleicht irgendwie erreichbar. „Wenn ich ein Schulkind bin“, fängt er viele Sätze an, und wenn er ein Schulkind ist, das ist ganz klar, darf und kann er praktisch alles. „In der Schule“, erklärt er, „in der Schule spielen wir draußen Fußball, und dann gehen wir rein, essen was, schlafen und dann werden wir abgeholt.“ So ungefähr mag es sein in der Schule, jedenfalls gaukeln die Schulhöfe mit fußballspielenden Kindern den neidvoll hinüberschauenden Kindergartenkindern einen solchen Schulalltag vor.
Außer ein Schulkind zu werden hat er aber auch noch andere Berufswünsche, ganz oben rangieren abwechselnd Busfahrer (Linie 6 oder 9, das ist unentschieden, aber er wird mich immer mitnehmen) und Feuerwehrmann. Zum Feuerwehrmann stand er auch dann noch, als ein kleines Mädchen, das Prinzessin will und um deren Freundschaft Nuno heftig buhlt, ihn fragte, ob er ein Prinz – ihr Prinz gar! – werden wolle. Nein, lieber Feuerwehrmann.
Einmal verkündete er, „Singer“ werden zu wollen, aber nur mit zwei Liedern: Eu se tu pego und dem Imperial March, oder wie er sagt: Darth Vader. Dann kam er aber wieder auf den Feuerwehrmann zurück. Vor einigen Tagen nun ein Sinneswandel: „Ich weiß jetzt, was ich werden will“, sagte er. „Wenn ich zehn bin, werde ich Astronaut.“
Astronaut, okay. Aber erst mit zehn, das ist beruhigend.
Er dachte ein wenig nach, blickte sinnend in den Himmel. „Vielleicht“, sagte er dann, „vielleicht werde ich aber auch einfach ein ganz normaler Mensch.“

 

Heile Welt der Kinderlieder und Märchen: im Turm (5)

Ich weiß nicht, welche psychischen Deformationen dazu führen, dass ein Mann wie Fritzl seine Tochter fast ein Leben lang einsperrt, oder dass jemand ein fremdes Mädchen in einen Lieferwagen wirft und dann ihre ganze Jugend lang bei sich zu Hause gefangen hält, oder dazu, kleine Mädchen auf der Straße einzusammeln und sie dann in den Keller zu sperren, zu missbrauchen und zu töten. Sie kennen die Fälle und genug schauderhafte Details, aber die Gründe nachzuvollziehen ist für Laien vielleicht nicht möglich, vielleicht schrecken wir aber auch davor zurück, uns in diese Psyche hineinzufühlen, wie kann so ein Verhalten einem Menschen richtig oder nötig oder gar gut vorkommen, oder ihm einfach egal sein. Interesse an diesen Fällen ist da, die Faszination des Grauens, aber nachvollziehen können und wollen die meisten von uns das wohl nicht. Das Leid der Opfer kann man nicht ermessen, nur ahnen, wie so eine Erfahrung, so ein Leben ihre jungen Seelen verbeult; das Innenleben der Täter bleibt mindestens so dunkel, so unerklärlich wie abgründig.  Wie wird man so? Hat so ein Mensch als Kind schon Frösche aufblasen oder die kleine Schwester in den Kohlenkeller gesperrt, wurde er selbst im Bettkasten aufbewahrt oder zur Strafe an einen Stuhl gefesselt, oder war er ein liebes, ganz normales Kind? Ich weiß es nicht, und vielleicht will ich es aus psychohygienischen Gründen auch gar nicht so genau wissen. Aber ich beobachte hier etwas.
Wir sind mit den Wolfsmärchen noch nicht durch, der Wolf und die sieben Geißlein wird nach wie vor täglich thematisiert und nachgespielt, auch die Wölfe aus Rotkäppchen und Peter und der Wolf sind sehr präsent. Neben den Märchen mit Wolf-Content hat Nuno momentan aber besonderes Interesse an Märchen mit einem Gefangenen-Motiv. Die Märchen auf diese Art einzuteilen, wäre mir zunächst gar nicht eingefallen, aber gewisse Strukturprinzipien lassen sich nicht leugnen, und sie übertragen sich auf das kindliche Spiel. Außer mit Geschichten, die er vorgelesen, erzählt oder interaktiv nachgespielt haben möchte, beschäftigt sich Nuno nämlich zur Zeit am liebsten mit Lego. Er baut, baut um, baut auf, baut ab, wirft im Frust alles hin, baut aus den Trümmern etwas Neues. Er baut Flugzeuge, Züge, Schiffe (mit Dixieklo auf dem Rettungsboot), er baut Treppen, Brücken, Häuser, Türme. Und in diesen Bauwerken sind Hohlräume, in denen Legofiguren eingemauert worden sind. Genauer, das eine kleine Legomädchen. Dieses Legomädchen hat inzwischen eine beachtliche Karriere hinter sich. Angefangen hat es als Rapunzel in einem hohen Legoturm,dann wurde es als Dornröschen schlafend in einem Turmzimmer eingemauert. Nun ist dieser dreijährige Junge, der bei mir wohnt, ein in der Regel freundliches, liebevolles und extrem offenherziges Kind. Auch für seine Märchenfiguren hegt er große Sympathie, dass die Mutter ihre Tochter einfach der Hexe überlässt, hat ihn erschüttert, einen Turm ohne Ausgang hält er für ein Unding. Warum macht die Hexe das? Einfach, weil sie böse ist? „Das darf man doch nicht!“ Wird er aber zum Legobaumeister, sind die Hohlräume winzig, Rapunzel oder Dornröschen müssen sich hinlegen und einquetschen lassen, und sie werden hermetisch abgeriegelt. Nichts deutet an den fertigen Bauwerken darauf hin, dass in ihnen Mädchen eingeschlossen worden sind. „Drinnen ist stockfinstere Nacht“, sagt der Sohn. Und das für 100 Jahre Schlaf. („Wenn sie aufwacht, ist sie aber ganz schön alt“, gibt er zu bedenken.) Nach dem Rapunzelturm und dem Dornröschenschloss hat Nuno auch den Zug mit geheimen Hohlräumen für Rapunzel ausgestattet, auch auf dem Schiff gibt es ein Dornröschen-Verließ, selbst die komplizierte Ketchup-Maschine mit Rutsche hat eine verborgene Kammer, gerade groß genug für das Legomädchen. Dann baute er „Gefängnisse für böse Mädchen“, und schließlich mauerte er „ein liebes Mädchen im Keller vom Haus“ ein. Nein, sie habe nichts gemacht, aber sie müsse da jetzt rein. Dieser Fritzl-Moment gibt schon zu denken.
Beim abendlichen Vorlesen sind wir gerade mit Räuber Hotzenplotz  beschäftigt – wo Seppl in der Räuberhöhle angekettet ist und Kasperl beim großen Zauberer Petrosilius Zwackelmann den Bannkreis nicht überwinden kann. Der Gefangenenchor schwillt stetig an. Gestern sind wir in den finsteren Keller von Petrosilius Zwackelmann vorgestoßen, wo in einem schwarzen Wasserloch eine Unke seufzt, die eigentliche eine verzauberte Fee ist. Im Keller versteckt und verzaubert. Ich erwarte neue Bauvorhaben in der Legoecke, und das kleine Legomädchen sollte sich besser warm anziehen.