Nagelprobe

Als wir vor fast zwei Jahren das erste Mal die Fingernägel des Kindes schnitten, war das Kind noch ein sehr winziges Baby und seine Fingernägel die winzigsten der Welt. Wir brauchten vier Hände und jede Menge Mut, um die Schere anzusetzen.
Heute ist Nägelschneiden Routine, für mich jedenfalls. Das Kind empfindet es anscheinend als Eingriff in seine körperliche Integrität, nur selten sagt er sofort „ja“, wenn ich meine, wir sollten mal wieder Nägel schneiden. Manchmal hilft es, wenn er sich als autonom Entscheidender fühlt und selbst vorgibt, in welcher Reihenfolge geschnitten wird. Heute saß er auf meinem Schoß, wir hatten den von spitzen Nägelchen verursachten Kratzer auf dem Handrücken begutachtet („weh“) und waren eigentlich einig („besser“). Fast einig, denn zwar hatte ich die Schere schon in der Hand, das Kind aber hielt die Fäuste fest geschlossen, die Nägel gut versteckt („nein“).
„Sag mir mal, mit welchem Nagel wir anfangen, ja?“
“ – – – „
„Sag mal, Schätzchen. Welchen Nagel schneiden wir zuerst?“
Aus der geschlossenen linken Faust streckt sich zaghaft ein kleiner Zeigefinger, na also, geht doch.
„Den“, sagt er und tippt mit der Fingerspitze blitzschnell auf den Nagel des Mittelfingers. Auf den Nagel meines Mittelfingers.
Die kleinen Fäuste sind längst wieder geballt, und er nickt mir bekräftigend zu. „Den, Mami.“
Wir sind ja nicht aus Dummsdorf.

Mütterliche Kernkompetenz

Das Kind hat Haare. Zunächst ganz kurze, glatte, fast schwarze Babyhaare. Dann längere, glatte, mittelbraune Babyhaare, die sich um zwei imposante, gegenläufige Wirbel am Hinterkopf drehten. Dann längere, lockige, mittelbraune Babyhaare, die hinten die schönsten Kringel formten und vorne platt und unmotiviert in die Stirn hingen. Nach einem Jahr andächtigem Wachsen und zwei Tagen mit Haarspängchen, weil das Kind nichts mehr sah, traute ich mich und schnitt ihm zum ersten Mal beim Spielen mit der Nagelschere das Haar, er krabbelte herum, ich mit der Schere hinterher, fertig war der kleine Junge. Inzwischen haben wir das Haareschneiden auf die Badewanne verlegt, da kann er nicht fliehen und ist mit Schaum, Pinguinen und Eimer so beschäftigt, dass er fast stillhält. Etwa alle 6 Wochen wage ich es, wenn es vorne zu struppig und hinten zu vogelnestig wird, denn die Wirbel und Locken unter der Mütze neigen zum Filzen. Irgendjemand gab mir mal den Rat, die Haare immer nur so kurz zu schneiden, dass die beneidenswerten, herzigen Locken erhalten bleiben, damit wären wir aber – hinten Locken, überall Wellen, Pony glatt – schnell bei einem rastamäßig verfilzten Vokuhila. Ich glaube nicht.
Am Wochenende war es wieder soweit: Das Kind sitzt in der Wanne, macht Schaum, taucht Playmobilfiguren, lässt Wasser ab, trinkt Wasser, spuckt Wasser, sucht den Fisch und macht mit dem Waschlappen die Wanne sauber, die Mutter turnt am Wannenrand herum und versucht aus den erst trockenen, dann („Acung!“, und er kippt sich einen Eimer über dem Kopf aus) immer nasseren Haaren sowas wie eine Frisur zu machen und dabei nicht wie beim vorigen Mal auf den nassen Fliesen auszurutschen und mit der zum Dolch gewordenen Schere in der Hand neben dem Sohn in die Wanne zu stürzen. Das Kind ist nicht drehbar, er sitzt stets mit dem Kopf nach links, dort wo das Wasser und der Spaß herkommen. Geschnitten wird also teils in direkter Ansicht, teils über Kopf oder nach Gefühl auf der erdabgewandten Seite. Locken und Wellen sind gnädig und vertuschen zu schräge Schnitte, meist ist das Ergebnis entsprechend zufriedenstellend. Auch diesen Montag fragte die Erzieherin im Kindergarten – ohne jedes Anzeichen von Entsetzen – ob das Kind beim Frisör war. Die in Form gestutzte Haarpracht dürfte also, denke ich, als Frisur durchgehen.
Naja, was man halt so denkt. Am Abend skypen wir mit den liebenden Großeltern, das Kind strahlt und schäkert über den Bildschirm. „Oh“, sagt die Großmutter, „hat Baby B sich selbst die Haare geschnitten?“ Vielleicht muss ich die Schneidetechniken nochmal überdenken.

Nuno und die Kinna

Baby B. nennt mich neuerdings nicht mehr wie alle anderen Frauen „Mama“, sondern differenzierter „Mami“. Und nun hat er auf sich selbst gezeigt und nicht „meiner“ gesagt, sondern strahlend „Nuno“. Erkannt. Die Entwicklung macht Riesensprünge.
In der Kita hat er drei Erzieherinnen, die alle noch „Mama“ heißen, aber jeden Tag kann er einen neuen Namen von einem der Kinder. In seiner Gruppe sind außer Nuno selbst: Anna, Inna, Bin, Beca, Hiha, Klakla, Obi, Mahuhu und Unu. Und Kinna. (Bei Beca muss man sich übrigens auf den Kopf klopfen, weil sie immer mit einer Mütze in die Krippe kommt. Beca gehört zu den größeren Mädchen, die schon seit letztem Jahr in die Kita gehen, und sie ist die erste, von der er morgens nach dem Aufwachen spricht. „Beca!“ Große Liebe.) Wer erkennt die anderen, wer möchte lösen?

Raumfragen

Meine Wohnung und mein Arbeitsplatz liegen etwa 15 Fahrradminuten bergab auseinander, auf dem Rückweg oder mit Kind hinten drauf dauert es etwas länger. Der Weg ist machbar, aber ohne Radwege auf einer ampelreichen, sehr befahrenen Straße nicht wirklich schön. Baby B. geht nun in eine Krippe, die praktischerweise genau gegenüber liegt, wir müssen nur einmal über die stark befahrene Straße gehen und 100m bergauf stapfen, dann sind wir da. Und dann kann ich bergab zur Arbeit radeln und mittags wieder zu meinem sehr fröhlichen und müden Kindergartenkind.
Bald haben wir eine neue Wohnung, eine Traumwohnung, die ich von Freunden übernehmen kann. Eine Wohnung, wie ich sie mir immer gewünscht habe, Altbau mit Erker und Dielen und hohen Decken und einem traumhaften Garten mit Schaukel, Rosen, Obstbäumen und Beerensträuchern. Sie liegt direkt gegenüber von meiner Arbeit, exakt vis-à-vis und im gleichen Stockwerk, ich gucke mir also in Zukunft permanent selbst ins Fenster, vom Wohnzimmer ins Büro und vom Büro ins Wohnzimmer, aber ich werde mich dort nie sehen. Ich brauche dann von Tür zu Tür wohl etwa 40 Sekunden, wenn ich alle Treppen zu Fuß nehme oder einen Kollegen treffe oder noch am Briefkasten anhalte vielleicht etwas länger. Allerdings werde ich dann ja Baby B. erst mit dem Rad in die Kita bei der alten Wohnung bringen müssen, bevor ich dann quasi zu Hause wieder zur Arbeit kann. Und mittags das gleiche retour. Finden Sie den Fehler.
Nun liegt auch auf der anderen Seite meines Arbeitsplatzes eine Kita, die gut sein soll, damit hätten wir dann alles in einer auch für Kinderfüße (Größe 21-22) zu bewältigenden Distanz zueinander. Heute habe ich also dort angerufen, meine Situation geschildert und gefragt, wie es mit Plätzen oder einer Warteliste aussähe. Sie hätten eine lange Warteliste, könnten uns draufsetzen, aber nichts versprechen. Sie sei schon sehr lang, aber vielleicht würde es im August klappen.
Im August! Ich frohlockte ein bisschen, erklärte aber, dass es so eilig gar nicht sei, Oktober oder November oder sogar Dezember würde auch reichen, es wäre nur toll, wenn wir irgendwann wechseln könnten.
Die nette Kitaleiterin am anderen Ende prustete kurz. „Die Warteliste für August ZweitausendELF ist bereits sehr lang, meinte ich natürlich.“
“ I hab eigentlich bloß noch oi Problem: Raum und Zeit… aber des check i au no!

Philologen unter sich

1.
Baby B: „da! Baill, Baill!“ Kollegen: „Kind, Du vokalisierst zu stark.“ Unterwegs mit Philologen.

2.
Baby B. sagt zu Wasser aller Arten „Wawa“, zu Tee und anderen Flüssigkeiten in Bechern „Te“ (und „heissss“). Als ich ihm erstmals kühlen Pfefferminztee anbiete, findet er den schmackhaft und denkt länger nach.
Schließlich zeigt er auf die Tasse: „Tewa?“
Ich finde das ziemlich sensationell.

3.
Und wenn uns jemand fragt, was wir sonst so für Hobbys haben, dann sagen wir: „Wir sammeln Komposita.“

Der Ball ist rund

Dass man insgesamt zu müde ist und zu viel WM guckt, merkt man daran, dass man zur besten Zeit ab nachts um 4 für 90 Minuten ein waches, sich wälzendes Kind neben sich liegen hat und die ganze erste Halbzeit denkt, dass es die besten Szenen aus den Vorrundenspielen nachstellt. Aber bei Australien : Frankreich hab ich den Denkfehler bemerkt – die spielen ja gar nicht gegeneinander. Verrückt, was einem das Hirn vorgaukelt, ts, Australien : Frankreich, verrückt.

Auch so Momente

Wenn ich dem Kind ausnahmsweise statt Wasser verdünnten Blutorangensaft zu trinken gebe und dann durch das gekippte Glas hindurch hinter der rot glänzenden Flüssigkeit, die dem Kind sichtlich schmeckt, die Flasche Campari auf dem Küchenschrank sehe, ebenso rot. Kurz konzentriert nachgedacht. Alles ist gut. Aber man weiß ja manchmal nicht, was man so tut.

(Der letzte Satz klänge besser so: „Aber man weiß ja manchmal nicht, was man so tut im Suff.“ Aber was würden Sie dann von mir denken, endgültig.)