Tag 31, 18. März 2010: Kleine Demonstration auf der Av. Corrientes, Richtung Obelisk und dann Ministerio de Educación.
Fast jeden Tag wird hier irgendwo demonstriert, protestiert, eine Straße blockiert oder eine Brücke gesperrt. Gestern machten Anti-Kirchner-Demonstranten für eine oder mehr Stunden die Brücke Pueyrredón dicht, heute stolperte ich auf dem Heimweg in den eher kurzen Aufmarsch von Universitätsdozenten, die einen 48-stündigen Streik ankündigen, um gegen ihre schlechte Bezahlung zu protestieren.
Vielleicht sollte ich von meiner selbstaufgestellten Regel ablassen, dass das Foto im Blog immer vom gleichen Tag sein muss. Bevor ich ein vernünftiges Bild habe – ich renne mit B in der Karre und meinen roten Sandalen immer wieder an den sich stauenden Autos vorbei, um eine bessere Perspektive zu bekommen, aber die Demonstranten haben es eilig und hängen mich an jeder Kreuzung wieder ab – fängt es derart an zu regnen, dass ich umdrehen und B ins Trockene bringen muss. Ich renne also auf der etwas leereren Parallestraße zur Corrientes wieder zurück, zum Glück ist es nicht weit. Die ersten Mädchen, die mir entgegenkommen, kommentieren noch mitleidig „das arme Baby wird ganz nass“, an den erheiterten Gesichter der anderen Passanten kann ich dann erkennen, dass es B. gut geht. Er liebt Wasser, und durch strömenden Regen zu rennen findet er wahnsinnig komisch, er quietscht und lacht im Wagen und leckt sich die nassen Arme ab. Der Regen wächst sich dann, als wir zu Hause sind, zu einem heftigen Gewitter aus, erst jetzt, nach Mitternacht, lässt es nach.
Dass die Regenfälle zu so heftigen Überschwemmungen führen hat seinen Grund auch in der verfehlten Baupolitik. Die innerstädtischen Viertel, die beim großen Regen vor 4 Wochen am stärksten von Hochwasser betroffen waren, sind wie zum Beispiel Palermo Viertel, in denen in den letzten Jahren massiv die alten Baustruktur, nämlich traditionelle niedrige und wunderschöne Häuser mit Innenhöfen, niedergerissen und durch Hochhäuser ersetzt wurde. In den alten Häusern lebten wenige Familien, und nun wohnen statt zehn Familien in einer Cuadra, einem Straßenblock, hundert. Die Entwässerungssysteme sind aber für zehn Familen ausgerichtet, und da dies nicht nur an einer Ecke so ist, sondern überall, kollabiert die Kanalisation, sobald etwas mehr als die durchschnittliche Menge Regen fällt. Abgesehen davon ist es ein Jammer um die alten Häuser und das typische Straßenbild, das den Reiz dieser beliebtesten Viertel ausmacht, aber das mag jenseits der offensichtlichen Unvernunft ja Geschmacksache sein.
Vor der Demo und dem Regen waren B. und ich nochmal in ein paar Buchläden, Perlen suchen, allerdings ohne rechte Resultate, und ich war in einer Fotographie-Ausstellung im Centro Cultural San Martín. Es sind Bilder von Diego Aráoz, „Santa Lucía. Arqueología de la violencia“. Die Serie von ziemlich dunklen Schwarz-weiß-Fotos dokumentiert eine in der Diktatur als Gefängnis genutzte alte Fabrikanlage in der Provinz Tucumán. Einige der Bilder sind gut (und natürlich hadere ich gewaltig mit meiner heutigen Ausbeute), allerdings kann ich nur auf wenigen das erkennen, was sie ausdrücken sollen: Die Spuren der Gewalt, die auch nach 30 Jahren noch an den Gebäuden sichtbar sein sollen. Manches ist offensichtlich und eindrücklich, wie die in die Wände eingeritzten Initialen, andere Fotos überzeugen auch ganz ohne den Kontext, wie das einer heruntergekommenen Wand, auf der in Großbuchstaben „FELIZ DIA“ („glücklicher Tag“, auch im Sinne von „herzlichen Glückwunsch“) steht. Bei vielen sehe ich aber trotz Hintergrundinformation nicht mehr als alte Wände oder Bodenfliesen.
Was ich unabhängig von den oft sehr hochwertigen einzelnen Ausstellungen bemerkenswert finde, ist die meines Erachtens hier sehr niedrige Schwelle zu Kultur. Das ist sehr schön und wird, soweit ich das sehe, auch genutzt. Die vielen Kulturzentren bieten das meiste kostenlos an, auch beide Foto-Ausstellungen, die ich besucht habe, waren ohne Eintritt. Die heutige Ausstellung war in der Galerie des Theaters San Martín gehängt, und auch wenn die Vorstellungen erst spät am Abend sind, ist das Gebäude praktisch immer geöffnet. Neben den Ausstellungen bietet es etwa ein Café und eine kleine, wenige Regalbretter umfassende Spezialbuchhandlung für Theaterliteratur, von Hamlet-Ausgaben bis zu Texten über Handpuppen oder Kostümgeschichte. Außerdem kann man sich – auch das Teil der niedrigen Schwellen – für diverse Kurse rund um das Theater einschreiben. Ich kenne einige Leute, die diese Art von Kulturkursen sehr ernsthaft betreiben, der Sohn der Tante etwa arbeitet tagsüber in einem Lager und „studiert“ außerdem in dieser Form seit Jahren Theater, bringt auch Stücke auf die Bühne. Überhaupt habe ich hier eine große Ernsthaftigkeit in allem, was bei uns unter „Hobby“ oder „Freizeitbeschäftigung“ läuft. Vor Jahren habe ich ein junges Mädchen kennengelernt, das Ballett tanzte, und es stand völlig außer Frage, dass sie das natürlich beruflich machen würde, dass sie Tänzerin würde. Dafür lerne sie ja tanzen. Einige der Kulturkurse führen zu Berufsbezeichnungen, auch die schon bekannte Tante besucht etwa seit einem Jahr abends Folklore-Tanz-Kurse in einem Institut, und Endes dieses Jahres wird sie sich außer pensionierter Ärztin auch Folklore-Lehrerin nennen. Ich habe darum manchmal etwas Schwierigkeiten zu definieren, was ich so tue außerhalb meines Berufs im engeren Sinne, dass ich beispielsweise weder Chor noch Fotografie professionell betreibe, aber trotzdem konsequent zu den Proben gehe, und das seit vielen Jahren, ohne dafür einen Titel zu bekommen.
Heute Abend habe ich dann wieder einen Film gesehen, auf die Idee hätte ich auch zur eher kommen können. Das Blog könnte zur Zeit auch „Meine Woche mit Ricardo Darín“ heißen, ich habe den Oskar-Film „El secreto de sus ojos“ geschaut, wo er schon wieder die Hauptrolle spielt.
Der Film kommt für mich nicht an den gestrigen heran. Beides sind sicher kommerzielle Filme, aber „Secreto“ ist noch etwas glatter, hallt trotz der aufgeworfenen großen Fragen weniger nach.
„El secreto de sus ojos“ spielt auf zwei Zeitebenen, am Rande geht es auch hier um die Diktatur, allerdings nur für einige Passagen. Etwas störend fand ich, dass die zentralen Sätze, deren Korrespondenz ich durchaus auch alleine bemerkt hatte, in einer aus Rückblenden montierten Collage kurz vor Schluss noch einmal alle wiederholt werden, und dann, damit der Zuschauer sie auch ja bemerkt, die allerwichtigsten sogar noch einmal. Das Sentenzhafte mag ich ja nicht so, und die romantische Wendung am Ende schien mir zu optimistisch im Vergleich zum vorigen Verlauf und wenig überzeugend. Eigentlich schien es mir über weite Strecken ein Film über Sexismus, Hierarchien und Geschlechterverhältnis zu sein, auch das wird aber nicht durchgehalten oder bei den beiden Hauptfiguren ziemlich unmotiviert – nagut, wegen der Liebe, irgendwie – einfach aufgelöst. Die Statusdifferenzen werden im Original stark durch einen sehr argentinischen Sprachduktus gestützt, ich wüsste gerne, wie viel davon das Oskar-Kommitee eigentlich mitbekommen konnte.