Lesen

Und zwar vor.
Auf einmal werde ich gebucht, und zwar für gleich mehrere Lesungen nacheinander. Einige Argentinier kommen bald wegen der Buchmesse nach Deutschland, werden herumgereicht, und irgendwann setze ich mich mit ihnen in diversen Städten auf eine Bühne und erzähle etwas über sie und dann lesen sie und wir unterhalten uns darüber, was ich dann wiederum dem Publikum übersetze. Ich freu mich, es sind alles gute Autoren an schönen Orten, und ich musste nicht mal für mich werben. Ich freu mich sogar sehr.
Heute telefonierte mit der Organisatorin der einen Lesung, sie fragte, ob wir eigentlich schon ein Honorar vereinbart hätten. Ja, meinte ich, und nannte die Summe, die sie mir ursprünglich angeboten hatte. Sie schwieg einen Moment und ich war schon kurz verunsichert, dann sagte sie: „Nein, eigentlich sollen Sie 100 Euro mehr bekommen.“
Gut, hochhandeln lasse ich mich gerne.
Was ist eigentlich gerade los?
*
Bei Lesungen ausländischer Autoren sitzen meist etwas mehr Leute auf der Bühne, der Autor selbst, daneben jemand wie ich, der dolmetscht und moderiert – das können natürlich auch zwei verschiedene Personen sein -, und dann wird manchmal noch jemand Drittes bzw. Viertes gebucht, der die deutschen Texte liest. Der Autor liest das Original, und irgendjemand die Übersetzung. Für einen der anstehenden Abende wurde ich gefragt, ob ich dafür jemanden empfehlen könne, bevorzugt einen Schauspieler. Nun liest man ja nicht ohne Nachhall über Übersetzer und ihre Arbeit und hat auch seine eigenen Erfahrungen als Übersetzer nicht umsonst gemacht und erinnert gut das Gefühl, wenn der eigene Autor nach Deutschland eingeladen wird und irgendjemand, der gut sprechen kann, seine Texte auf Deutsch lesen soll – seine Texte, die auf Deutsch ja die des Übersetzers sind. Keiner kennt die deutsche Version so gut wie der Übersetzer, logisch, und kaum einer kennt auch das Original so gut wie er. Und manche Übersetzer können sicher auch lesen, einzelne sogar vor. Und wenn man noch weiter gehen wollte, könnten sie sicher auch im Gespräch Spannendes beisteuern.
Die Organisatorin stimmte sofort zu, das sehe sie genauso, außerdem seien die Übersetzer im Literaturbetrieb grundsätzlich unterrepräsentiert. Nur sprengt es in diesem Fall wohl das Budget, den nicht ortsansässigen Übersetzer auch noch anreisen zu lassen. Aber vielleicht kann man, ohne Schauspieler arbeitslos machen zu wollen, den Gedanken ja langsam weiterverbreiten: Wer den Text geschrieben hat, könnte ihn eigentlich auch vorlesen.

Philologen unter sich

1.
Baby B: „da! Baill, Baill!“ Kollegen: „Kind, Du vokalisierst zu stark.“ Unterwegs mit Philologen.

2.
Baby B. sagt zu Wasser aller Arten „Wawa“, zu Tee und anderen Flüssigkeiten in Bechern „Te“ (und „heissss“). Als ich ihm erstmals kühlen Pfefferminztee anbiete, findet er den schmackhaft und denkt länger nach.
Schließlich zeigt er auf die Tasse: „Tewa?“
Ich finde das ziemlich sensationell.

3.
Und wenn uns jemand fragt, was wir sonst so für Hobbys haben, dann sagen wir: „Wir sammeln Komposita.“

40 Tage Buenos Aires [24]

Tag 24, Mittwoch, 10. März 2010: Zwei Farben Lila.
Am Nachbartisch, Paseo de la Plaza, zwischen Corrientes und Sarmiento.

Am Morgen Regen in Buenos Aires, und statt auf den Spielplatz gehen B und ich erst mal in die Badewanne, das machen wir hier manchmal mehrmals am Tag, mit eher kühlem Wasser. B versucht seit ein paar Tagen allein einzusteigen, er hält sich am Rand fest und schmeißt sein eines Bein hoch, so hoch, dass er mit den Zehen an den (niedrigen) Wannenrand kommt, aber dann gehts nicht weiter. Dafür kann er Treppen steigen und rutschen und küssen. Mmmmmm-bah! Und er kann schlafen! Das Kind schläft! Tagsüber und nachts, oft sogar durch. Auf einmal gehts, in der Hitze nackt unter dem brummenden Ventilator.
Percanto ist vormittags bei einem Tanzkurs, danach und nach Bs erster Siesta (er macht seit ein paar Tagen mehrere!) gehen wir zusammen los, die Sonne ist wieder da und es ist warm und feucht. Wir gehen nach langer Zeit mal wieder in die Parrilla, zum Grill. Ich esse Milanesa, das ist ein dünnes Schnitzel mit – wenn es gut ist- Kräutern zwischen Panade und Fleisch.
Dass die Küche hier italienisch beeinflusst ist, hatte ich ja beim Kaffee schon erwähnt, auch das Essen ist neben dem vielen puren Fleisch recht italienisch, wenn auch deutlich weniger raffiniert. Pizza und Pasta, Ravioli und Gnocchi („Ñoqui„) sind Standardgerichte. Gnocchi gilt als das klassische Monats-End-Essen, wenn das Geld ausgeht und die Lebensmittel billig sein müssen. Zwar würde hier niemand ein Schnitzel als italienisches Essen bezeichnen, es ist – natürlich – so argentinisch wie der Asado und die Empanadas, aber der Name verweist darauf: Milanesa enspricht dem Adjektiv milanés (m.) / milanesa (f.), „mailändisch“. Es gibt auch milanesa napolitana oder einfacher milanesa napo, dann wird sie mit Schinken, Tomaten und Oregano zubereitet.
„Mailänder Napolitaner Art“ ist natürlich schon hübsch.

Hinterher waren wir Espresso trinken (bzw. Cortado, Espresso mit einem Schuss Milchschaum) und dann ausführlich auf dem Spielplatz. Deswegen gab es heute eigentlich eine ganze Serie Bank-Bilder, Tauben vor Bänken und ein reizendes Zufallspaar auf einer Bank, eine junge wildlockige Frau im gepunkteten Kleid und ein alter weißhaariger Herr mit Stock, die sich gestenreich irgendwelche Dinge erzählten. Gegen Abend sind wir dann mit einem schon wieder sandig in der Karre schlafenden Kind Obst kaufen gegangen (frische, reife Mangos! und winzige süße Bananen und eine Schale voller Kirschen) und nochmal in den Paseo de la Plaza für Eis und mehr Kaffee. Die Passage ist wirklich eine Oase direkt an der wuseligen Ameisenstraße Corrientes, es ist trotz vieler kleiner Läden, Cafés und Theater ganz still, man hört nicht mal den steten Verkehr, der in unmittelbarer Nähe vorbeirauscht. Und man kann im Café draußen sitzen.
Ich habe dann das erste Mal die Lifeview-Funktion der Kamera ausprobiert, um die beiden Tischnachbarn auf obigem Bild nicht zu stören und etwas diskreter vor dem Bauch zu fotografieren. Er hörte über Kopfhörer laut klassische Musik, rauchte, sie lernte aus vielen Ringheften und langen Ordnern. Was man nicht sieht: Auf der anderen Seite der Kamera trage ich ebenfalls ein lila Trägerhemd, allerdings etwas dunkler als die Oberteile meiner heimlichen Modelle an den Nachbartischen, wie auch mein Rock etwas dunkler ist als das Blaugrün der Wand.

Assa [Das Kind als Studienobjekt]

Baby B. wird, das ist das einzig Natürliche in dieser Familienkonstruktion, zweisprachig erzogen. Von den ersten Lautäußerungen an wurden wir darum gefragt, was er bisher spräche – Spanisch? Deutsch? Beides?
Anfangs schien die Sache noch klar: Sein fröhlich gegurrtes „A-grrrr“ war mit dem Rachen-R doch deutlich deutsch, das gerollte Zungen-R haben wir nicht vernommen, auch wenn der Vater den Säugling stets „A-gRRRR“ korrigierte, mit vorbildlich flatternder Zungenspitze.
Inzwischen kristallisiert sich aus einzelnen, international gebräuchlichen Silben wie „Pa“ und „Ba“ so etwas wie ein Wortschatz heraus. Der Schwerpunkt scheint bisher eher auf deutschen, nun ja, Worten zu liegen, „Papa“ ist dabei naheliegend und wird gerne verwendet, „Mama“ dagegen nur sehr, sehr selten. Dafür aber dann mit Nachdruck und von Herzen (ha!). Beides ist in der Betonung noch sehr ausgewogen und darum in der Sprachenzuordnung unentschieden. Ob aus „Pa!-Pa!“ mal ein deutscher „Papa“ oder ein spanischer „Papá“ wird, ist offen. Vielleicht übernimmt er ja auch „Papi“. Auch „Opa“ sagt er, wenn er dabei auch manchmal fälschlich auf die Coverfotos italienischer Autoren zeigt.

Was kann er noch sagen? Wie bereits berichtet, sagt er manchmal Dinge wie „eng“ oder „albern„. Außerdem mit Unterstützung eines lang ausgestreckten, kleinen Zeigefingers „da!“, da! Fenster, da! Küche, da! Bücher. Er versteckt sich auch, wenn wir „Kuckuck“ sagen, beziehungsweise hält sich sinnigerweise die Ohren zu und ruft dabei selbst strahlend „da!“. Zum Ball sagt er „Ba“, zum Auto etwas ähnliches wie „Auto“ (es ist alles genetisch, Autos, Bälle, Autos, brrrrummmm). „Auto“ kann man neben „coche“ oder „carro“ auch im Spanischen so verwenden, auch „brrrmmmm“ ist überregional; ruft der Sohn allerdings begeistert „Ba!“, während er an der Hand laufend gegen seinen kleinen Ball tritt, verbessert sein Vater zuverlässig in „sí, la pelota“.
Sieht er Kerzen oder Lampen, pustet er (international einwandfrei zu verstehen) oder sagt entweder „Ape“ oder „Mpe“. „Lampe“ und „lámpara“ sind einander wie „Banane“ und „banana“ – das allerwichtigste Element seines Wortschatzes überhaut, Nanane, Nanane, Nanane! DA! NANANE! – auf Deutsch und Spanisch so ähnlich, dass hier zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Unterscheidbarkeit besteht.
Dann wird es aber über alle in diesem Stellvertreterkrieg Ehe geführten bilateralen Konflikte zum Grenzverlauf zwischen Argentinien und Deutschland hinaus interessant. Wenn seine Eltern den ganzen Tag in zwei verschiedenen Sprachen auf ihn einreden, kann das Kinderhirn vielleicht irgendwann eine Sprache als Mutter-, die andere als Vatersprache identifizieren. Das Kind kann möglicherweise auch aus dem es umwabernden Angebot diejenigen Vokabeln und Strukturen wählen, die ihm zunächst leichter von der Zunge gehen. Oder es kann die Verdopplung der Sprachen nutzen, um feine Unterschiede zu machen. Genau das kann man hier im Moment beobachten, meinen jedenfalls wir vollkommen objektiven Eltern: So gerne Baby B. isst, manchmal trinkt er auch, und fast ausschließlich Leitungswasser. Sein eifriger Zeigefinger deutet millimetergenau auf das, was er jetzt (jetzt!) vom Tisch möchte, das Brot von meinem Teller, den nächsten Löffel Haferbrei von seinem – oder eben auf etwas zu trinken. Wasser bekommt er normalerweise entweder in einem grünen Trinklernbecher oder aber mit dem Löffel aus einer blauen Tasse. Gestern zeigte er beim Essen auf die Tasse und rief „Assa!“, ich versuchte es mit seinem mir näher stehenden Becher vermeintlich gleichen Inhalts, doch den stieß er mit empört zusammengekniffenen Augen weg. „Assa!“ Aus der blauen Tasse wollte er trinken, alles andere war indiskutabel. Etwas später zeigte er ebenso entschlossen auf seinen Becher und forderte „A-ua“, „Agua“. So wie all die vielzitierten Wörter der Inuit für Schnee auf Differenzen hinweisen, die wir nicht wahrnehmen, so scheint auch für Baby B. ein entscheidender Unterschied zwischen Wasser aus der Tasse, „Assa“, und Wasser im Becher, „A-ua“, zu bestehen, und er nutzt die ihm angebotenen alternativen Vokabeln zur Diversifizierung. Als Philologe ist man da natürlich begeistert, wie Sie verstehen werden.
Sollte er allerdings irgendwann zu großen blauen Bällen „Ball“ und zu kleinen roten Bällen „pelota“ sagen und einen Wutanfall bekommen, wenn man über seine feinen Unterschiede hinweggeht, dann sollten wir ihm für den Kindergarten vielleicht von vornherein ein zweisprachiges Glossar als Gebrauchsanweisung mitgeben.

Die verbreitete Angst vor Satzzeichen

Kleine schriftliche Diskussion über Waldorfkindergärten. Eine der beteiligten Damen äußert sich unter anderem so:

Mehr weiss ich nicht über die Robert Steiner Schulen (hat das was mit Waldorf zu tun?) und den Lehren die sich daraus entwickelt haben… Apostrophobiker oder so ähnlich, haben ihre eigenen Ansichten zu Medizin und Medikamenten […]

Apostrophobiker! Ich bin auch Apostrophobiker! Vor allem habe ich große Angst vor Deppen-Apostrophen wie in „dienstag’s“ oder „Frühstück’s“ und vor eigenen Ansichten zur Zeichensetzung.

[Danke, Kathi!]

Männergespräche

Der Babysohn produziert mit nun neun Monaten Laute vielerlei Art, die sich trefflich zum Interpretieren eignen. So war das Taufkleid seiner Meinung nach „eng!“und wer die Treppe hochkam war natürlich und völlig richtig „Opa“. Gestern hörte ich aus dem Wohnzimmer, wo Mann und Sohn spielten, diesen Dialog:

Baby B [klar und deutlich]: „albern.“
Percanto [entrüstet]: „Was? Du sagst, ich wäre albern?!“
Baby B: „Naaaa! Mamam.“

Alles klar, Jungs.

Sprachkenntnisse

Mein Chef ist ein von Haus aus vielsprachiger Schweizer, der auch weitere Fremdsprachen fließend beherrscht und außerdem eine binationale – und zweisprachige – Ehe führt. Zu seinem Hausstand gehört außer dem Ehepaar auch ein großer Amazonaspapagei. Wir sprachen heute kurz darüber, ob sich nach ihrem Umzug nach Deutschland inzwischen alle gut eingelebt hätten und, scherzhaft, ob der Papagei eigentlich Hochdeutsch spreche. Und welche Sprachen er überhaupt beherrsche?
Der Papagei ist natürlich zweisprachig aufgewachsen, er spricht Schweizerdeutsch und Spanisch. Hochdeutsch bisher nicht, und mein Chef habe es auch eine Zeitlang mit Portugiesisch versucht, aber er lerne es nicht richtig. Dabei sei es doch seine Muttersprache. Die des Papageis.