Veranstaltungshinweis: Alissa Walser und Pablo de Santis

Morgen Abend, also Montag, 27. September 2010, unterhalte ich mich ab 20 Uhr im Literaturhaus Frankfurt mit der deutschen Autorin Alissa Walser und dem argentinischen Schriftsteller Pablo de Santis. Wir werden sicher über ihre Bücher und besonders ihre neusten Romane sprechen, Am Anfang war die Nacht Musik bzw. El Enigma de París / Das Geheimnis von Paris, vor allem soll es aber um die Erfahrungen der beiden als Stadtschreiber im jeweils anderen Land gehen. Im Rahmen des Programms Rayuela war Alissa Walser für einen knappen Monat in Misiones in Nordargentinien, Pablo de Santis ist noch in Frankfurt. Ich bin gespannt, was (sich) die beiden zu erzählen haben.
Das Literaturhaus sieht sehr imposant aus und hört sich bei den von dort übertragenen Veranstaltungen auch so an.
Es gibt bestimmt noch Karten.

Veranstaltungshinweis: Alan Pauls

Veranstaltungshinweis für morgen!
Am Dienstag, 14. September, liest der argentinische Autor Alan Pauls aus seinem Roman „Historia del llanto“, deutsch (in Übersetzung von Christian Hansen) „Geschichte der Tränen“., Klett-Cotta 2010. Eine Kindheit in der Diktatur, doch die Diktatur sickert nur an den Rändern und eher im Rückblick in die Geschichte, und ein merkwürdiges Ich, zu dessen besonderen Begabungen zählt, intensiv zuhören und sofort oder gar nicht weinen zu können. „[E]ine Empfindsamkeit, die nur Augen für den Schmerz hat und absolut, unheilbar blind ist für alles, was nicht Schmerz ist.“ (S. 18.)
Eine knappe, aber schwierige Erzählung, es wird sicher spannend. Vielleicht reden wir auch ein bisschen über Alan Pauls‘ monumentalen Roman „El pasado“ („Die Vergangenheit“).
Die zweisprachige Lesung findet um 20 Uhr im Heinrich-Heine-Haus in Lüneburg statt. Ich bin auch dabei und moderiere und übersetze.

12 Tage Santiago [11]

Sonntag, 5. September, „Día del Patrimonio Nacional“, eine Mischung aus Folklore-Festival, Tag des Offenen Denkmals und Langer Nacht der Museen. Ich bin wieder in Santiago und hatte sowieso vor, ins Museo Bellas Artes zu gehen, auf dem Weg dorthin durch den Parque Forstal gucke ich einer Weile einem Kinder-Duathlon zu, dann bleibe ich lange vor dem Museum, wo Livemusik gespielt wird und in Trachten Cueca, der chilenische Nationaltanz, getanzt wird. Zunächst von einer Gruppe in der feineren Trachten, die Stiefel und Ponchos sind Zeichen eines „huaso rico“, eher Großgrundbesitzer als kleine Bauern. Sie sind musikalisch wie tänzerisch ziemlich gut, am Ende fordern sie Leute aus dem Publikum zum Mittanzen auf, und keiner ziert sich, alle hüpfen mit und schwenken weiße Taschentücher. Wer keines hat, zückt zumindest ein Tempo.





Im Anschluss macht eine Folklore-Gruppe mit drei Sängerinnen Soundcheck, die identische geschnittene Minikleider in den Nationalfarben tragen, die erste Cueca ist aber so schrill und übersteuert, dass ich das Spektakel verlasse und ins Innere des Museums gehe. Im Museo Bellas Artes ist die Dauerausstellung bei freiem Eintritt geöffnet, thematisch (Portraits, Körper, Bestand der Gründungszeit des Museums vor exakt 100 Jahren) sortierte Säle mit feinem Parkett, das Gebäude selbst ist schon ein Schmuckstück. Leider darf man, wir mir vor dem letzten hier gezeigten Foto freundlich, aber bestimmt gesagt wird, keine Fotos machen…



(Letztes Bild: Ein Bild, was ich sowieso gerne mag, „La carta de amor“ vom chilenischen Maler Pedro Lira. Da wusste ich schon, dass ich nicht fotografieren durfte, aber die Ähnlichkeit in der Haltung war zu verlockend…)
Im Muesum sind recht viele Leute, vor allem viele Familien mit kleinen Kindern, aber auch junge Pärchen oder Grüppchen Jugendlicher. Ich bin in Deutschland selbst sehr selten im Museum, wie ist das eigentlich bei uns? Sind sonntags viele Familien im Museum? Ich kann es nicht erinnern.
Danach eine große Runde durch die Stadt gedreht (leider habe ich die Handpuppenspieler, die mich vor 5 Jahren jeden Sonntag ins Zentrum zogen, dieses Jahr nicht finden können, vielleicht haben sie aufgehört) und so lange auf der sommerlichen Plaza de Armas gesessen, bis mich eine Taube erwischt hat – das soll, heißt es hier, Glück bringen.

Später auf der Runde habe ich zufällig – da hat diese Stadt 6 Millionen Einwohner und man begegnet sich doch zufällig, ich habe hier auf der Straße auch schon Leute aus meiner Heimatstadt in Deutschland getroffen – meinem Dichter begegnet, wir haben dann zusammen eine weitere Cueca-Darbietung angeguckt, dieses Mal volkstümlicher, die Männer in Sandalen, die Frauen weniger wie vom Land als wie aus „Poblaciones“ gekleidet. Die Stimmung ist noch besser als zu Anfang, zumal diese Gruppe das folkloristischer Drumherum auch intensiv betreibt, ein versauter Witz jagt den nächsten und das Publikum überschlägt sich. Diese Vorführung, sagt mein Dichter, und der weiß bei Folklore, wovon er spricht, sei „autentiquísimo“, so einen wahrhaften 18. September (darauf läuft all das hinaus) hätte in der Hauptstadt noch nicht erlebt, und am Ende lässt er sich sogar zum Tanzen hinreißen – und das, gesteht er mir atemlos, habe er seit der Diktatur und seinem Wegzug aus dem ländlichen Süden nicht mehr getan. Nach wenigen rein vorgeführten Cuecas werden nämlich wieder wir Zuschauer zum Teilnehmen aufgefordert, nicht nur Rhythmus solle man klatschen, sondern Taschentücher zücken und tanzen, und es wird getanzt. Für mich beeindruckt, dass die Jungen genauso mitmachen wie die Alten, die Turnschuhmädchen wie die Herren im Anzug, die blondierte Mami genauso wie der Herr, der über der feinen Hose einen Poncho trägt, und auch die coolen Jungs mit Rocker-T-Shirts, die mit Rastalocken oder Ohrringen wedeln mit Tempos, klatschen und tanzen kunstgerecht mit den als Landfrauen verkleideten älteren Damen.



12 Tage Santiago [vorgezogener Schluss]

Die Tage 11 und 12 bekommt Ihr noch, es war etwas schwierig mit Internet am Abend, und tagsüber hatte ich keine Lust, bei sommerlichem Sonnenschein drinnen vor dem Computer zu sitzen – außerdem musste ich ja für Euch Sachen erleben! Vielleicht morgen in Atlanta, wo ich 10 Stunden Zeit auf dem Flughafen habe… Bis dahin verabschiede ich mich, von Euch, von Santiago, von Chile.

Ciaocito, Chile. Cuídate.

12 Tage Santiago [9b und 10]


Valparaíso und Viña del mar.
Valparaíso ist die Hafenstadt, Containerhafen, Märkte, Tor zur Welt, auf steilen Hügeln gebaut, voller endloser Treppen, die zum Teil durch
Gebäude oder verborgene Durchgänge führen, dazu zur Entlastung der Fußgänger einzelne mit Seilwinden betriebene Aufzüge, die an den Hängen kleben. Auf den Straßen verkehren noch alte Trolleybusse, alle Hauswände sind besprüht, überall, wo nicht mit Fisch oder Zwiebeln gehandelt wird, gibt es Kunsthandwerk, man gibt sich hippiehaft und künstlerisch. Viña del mar liegt etwa 5 km weiter nördlich und teilt sich mit Valparaíso die Bucht, klettert ebenfalls die Hügel hoch, die allerdings hier ein wenig weiter weg von der Küstenlinie steil zu werden beginnen. Viña – Weinberg – ist das alte Strandbad und hat sich an einigen Stellen den alten Charme eines mondänen Badeortes bewahrt, es werden aber stets weniger Fassaden und Anblicke, die diesen Charme versprühen. Die Stadt ist kleiner, sauberer und in der Bevölkerungsstruktur deutlich älter als der Nachbarort. Die prachtvollsten Häuser wurden damals, Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem, an der aus Santiago kommenden und Modernität und Weltläufigkeit versprechenden Bahnlinie gebaut, dort sind noch einige Villen im Südstaatenstil zu finden.


Valparaíso, Zentrum.


Buchhandlung „Crisis“, Valparaíso.



Ein Junge lässt von einem Mirador aus einen Drachen s
teigen, der sich unmittelbar nach diesem Foto in einem Baum verfängt, der unerreichbar viel tiefer zwischen Wohnhäusern am Abhang klebt. Er und sein Cousin versuchen noch eine Weile, den Drachen zu retten, reißen dann den Faden durch und rennen schließlich zu ihrer Großmutter, um sie um Geld für einen neuen Drachen zu bitten.

Am Abend besuchen wir einen Bekannten des chilenischen Freundes, den ich hier besuche, ein Künstler, der eine Wohnung mit einem spektakulären Blick hat. Außer Farbe, einer Matratze, einigen Bildern und ein paar Büchern ist die Wohnung fast leer, er hat nicht mal einen Stuhl („läuft gerade nicht so gut mit dem Verkaufen“, sagt er, zeigt uns die „kommerziellen“ Bilder für den Handel und seine „anspruchsvolleren“ Bilder, wirklich überzeugend finde ich allerdings keine der Serien), bietet uns aber Kaffee an, den wir am Fenster stehend trinken, auf die Bucht schauend und leise seufzend.

Überhaupt, wenn diese Stadt neben Treppenstufen, die mir einen gründlichen Muskelkater beschert haben, über irgendetwas verfügt, dann über Blick. Das dritte Haus von Neruda, die „Sebastiana“, liegt sehr weit oben über der Stadt, und sie hat vor allem Blick – viel Glas und alle Räume des über 4 schmale Stockwerke konstruierten Hauses schauen Richtung Bucht. Direkt zum Wasser hin ist meist die ganze Front Glas, zu den Seiten, wo man vor allem über Häuser schaut, sind die Fenster dann ungewöhnlich geformt, im Treppenhaus fällt das Licht durch Bullaugen. Auf dem folgenden Foto ein weniger aufregender Blick aus der „Sebastiana“, dafür aber ein paar Exemplare aus Nerudas Altglassammlung. Am besten hat mir von Nerudas Häusern das in Isla Negra gefallen, dessen Architektur hintereinander aufgereihten Eisenbahnwaggons nachempfunden ist, hier gefiel mir aber wohl auch die Lage so besonders, auf einer Terrasse direkt an einem felsigen, wilden Strand.


Selbst die Toten haben in Valparaíso gute Aussicht, im Rücken des Engels und hinter mir liegt die Bucht, und in Blickrichtung gehen die zu Füßen des Engels liegenden grau-weißen Mausoleen des Friedhofs in die bunten Schachtelhäuser des Cerros über.
(Mehr Engel dann wieder auf Flickr, die hiesigen Engel sind anders als die vom Friedhof Recoleta aus Gips, und auffällig waren die vielen fe
hlenden Hände, die meisten wiesen mit Armstümpfen in den Himmel.)
Auf einem Grabstein stand auf Deutsch „Die Liebe höret nimmer auf“, daneben einige, die nur mit einem Namen, dann „und Frau und Kinder“ beschriftet waren, schließlich einer, auf dem stand: „Un hombre bueno“, ein guter Mann. Was will man mehr.

Dachschmuck, einer von vielen:

Einer der wenigen noch in Betrieb befindlichen Aufzüge, man bezahlt ein paar Hundert Peso und spart sich einige Dutzend Höhenmeter, sonst über Treppen oder weitläufige Serpentinen oder Straßen zurückzulegen, die so steil sind, dass man sich wundert, dass die Busse nicht einfach herunterfallen.

Auf einem der zentralen Plätze Valparaísos versammelten sich mittags Homosexuelle und Transvesisten sowie eine Vereinigung von „Müttern von Homosexuellen“, um in einer „Accion Gay“ für die Rechte von Schwulen und Lesben zu demonstrieren. Am beeindruckendsten war zwischen all den schrill verkleideten Männern – einer unterhielt sich am Rande mit uns und kommentierte, die Transvestitenverkleidung sei auch Schutz, denn morgen müsse er normal zur Arbeit gehen und sein Chef wisse von nichts, und das solle auch erst mal so bleiben – das Grüppchen junger Schulmädchen, die ihre dunkelblauen Schuluniformen noch anhatten und mit Buntpapier und Herzchen beklebte Plakate schwenkten, „Vivan los gay“. Ein Mädchen hatte ein Plakat „Ich liebe meinen Papi-Gay“ und fotografierte immer wieder einen mit langem Abendkleid und Krönchen gekleideten großen Mann. Während das Nachbarland Argentinien gerade die vollwertige gleichgeschlechtliche Ehe eingeführt hat – und damit deutlich über die deutsche Lebenspartnerschaft hinausgeht -, haben gerade männliche Homosexuelle in Chile noch einen schweren Stand. Frauenpärchen sieht man ab und zu, männliche Paare sind im normalen Straßenbild kaum anzutreffen.




Kreisel – eines der nun an jeder Ecke verkauften Symbole des chilenischen „mes de la patria“ September. Nur wegen meiner Doktorarbeit hier abgebildet.
Noch etwas Hafen Valparaíso:




Die letzten drei Bilder sind von der Promenade und dem Strand in Viña, die Seebrücke auf dem letzten Foto wird in meinem Reiseführer aus dem Jahr 2005 noch als „place to be“ angepriesen, als pintoresker Treffpunkt von Fischern, Einheimischen und Touristen, wo Delikatessen in Bleiglasvitrinen angeboten werden. Ich kann mich nicht erinnern, ob die im Reiseführer abgebildeten Holzhäuser auf der Seebrücke bei meinem letzten Besuch vor 5 Jahren noch da waren, ich glaube aber, es war damals schon der rostige Kran. Anderes ist erst kürzlich kaputtgegangen oder geschlossen worden.
Einige Häuser in Valparaíso sind ringsum mit den weiß-roten „PELIGRO“ und „Nicht betreten!“-Aufklebern gepflastert, in vielen Straßen wird renoviert, und in die eine der beiden großen Markthallen ist seit dem Erdbeben abgesperrt, Einsturzgefahr.
Am Strand lagern in der Frühlingssonne Familien und spielen Kinder, barfuß und in Winterjacken. (Das einzige Kind in Badehose wirft auf dem letzten Foto Sand ins Meer, im Wasser war niemand.) Ich habe einmal rituell die Füße in den Pazifik getaucht, eisig kalt, ich weiß nicht, wie die zahllosen kleinen Krebse, die sich zwischen den Wellen am Küstensaum ein- und ausgraben, das aushalten.





Ich bin etwas im Rückstand, den heutigen 10. Tag und „Día del patrimonio“ reiche ich im Laufe des Tages nach.

12 Tage Santiago [9]

Kurz vor Mitternacht, zurück in Santiago. Hier wird gleich der Aufenthalt in den Gemeinschaftsräumen des Hostals beendet, was für mich bedeutet, dass ich dann kein Internet mehr habe. Morgen gibt es an dieser Stelle Fotos aus Valparaíso und Viña de Mar, noch zu sortierende Bilder vom Hafen, von Tauben, von Häusern, von Schiffen, von Treppen, von Aufzügen, von Fischen und von einer „Accion Gay“-Demonstration mit gewagten Outfits.

12 Tage Santiago [8]

Valparaíso – schon jetzt hunderte von Fotos, der Eintrag wird nachgereicht, wenn ich wieder in Santiago bin. Morgen Abend wahrscheinlich.
Auf meinem Flickr-Profil – in der rechten Spalte verlinkt – gibt es im (duennen) Album „Cono Sur“ ein paar 5 Jahre alte Bilder aus Valparaíso, wenn jemand einen Vorgeschmack will. Das Bild im Header ist auch aus Valparaíso, die Blechornamente auf einem Dach.
Bleibt mir treu!

12 Tage Santiago [7]



90 Minuten Zeit für 5 Vorträge à 20 Minuten und eine gemeinsame Diskussion ansetzen (bitte nachrechnen), dann den Raum wechseln und wieder zurückwechseln, die angemeldete Technik nicht parat haben, schließlich 20 Minuten später anfangen und dann von den Vortragenden verlangen, dass einfach jeder nur 10 bis 15 Minuten redet – der Beginn der Sektion ist flexibel, das Ende aber fest, denn im Anschluss gibt es „andere Aktivitäten“ und Kaffee – und dann trotz vieler Meldungen jegliche Diskussion nach dem letzten gehetzten Vortrag unterbinden, weil keine Zeit, auf Drängen einer Vortragenden dann zwar doch Fragen erlauben, aber als Moderator bei der ersten Frage den Raum verlassen und die zweite unterbrechen, nun sei Schluss, definitiv, da kann man sich, nachdem man für diesen Vortrag von 20 Minuten Tausende von Kilometern zurückgelegt hat, sein Leben daheim umständlich umorganisiert und auf hilfreiche Schultern verteilt und eine bitte nie nachzuzählende Summe Geld ausgegeben hat, da kann man sich schon etwas verarscht vorkommen.

Und die kokettierend und achselzuckend vorgebrachte Erklärung „Eso es Chile“ stellt nicht zufrieden, sondern macht erst recht zornig, denn was hat Respektlosigkeit mit einem schlechten Image zu tun, was in Wirklichkeit ja nicht einmal zutrifft, und die Grundrechenarten funktionieren hier, in diesem neoliberalen Wirtschaftsland, doch sonst auch ganz gut.

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Studenten der gastgebenden Uni schämen sich nach eigener Aussage für die (Des-)Organisation, die Kommunikation und den Ablauf innerhalb der „mesas“, andere Vortragende loben den Kongress als „una maravilla, hermosísimo“. Irgendwo dazwischen wird es sein.

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Und dann Studentenproteste auf dem Campus – wogegen, spricht sich nicht rum – und Katz- und Maus-Spiel mit der Polizei, Tränengas und Steine und Wasserwerfer. Stundenlang belagert sich ein kleines Grüppchen Studenten, am Ende alle pitschnass, mit den im gepanzerten Wasserwerfer verschanzten Carabineros, nur manchmal kommen drei oder vier aus dem Panzer geklettert, mit Helmen und Schilden und immer dicht beieinander bleibend. Die übrigen Studenten, Dichter und Kongressteilnehmer gehen mittlerweile nach Hause oder warten bis abends ab, was passiert. Nichts.

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Über Umwege wird mir heute ein Buch überreicht, in das mir Antonio Skármeta eine ziemliche Widmung geschrieben hat, „amigo“ steht drin und „admirador“, und das Datum: 27.4.2007. Einige Dinge brauchen ihre Zeit, bis sie ankommen.

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Und dann mit den verbliebenen Dichtern noch mehr Lesungen, und eine Gruppe junger Poeten will wild sein und wirft Klopapierrollen durch den Raum und muss selbst etwas lachen, und irgendwann wickelt einer die chilenische Fahne, die neben der Tafel aufgebaut ist, in Klopapier. Der neben mir sitzende Wissenschaftler aus New York flüstert mir zu, dass das in den USA nicht möglich gewesen wäre, die Jungs wären sofort festgenommen worden. Ich flüstere zurück, dass das in Deutschland auch nicht möglich gewesen wäre, sie hätten zwischen den Weltmeisterschaften wahrscheinlich keine Fahne gefunden.

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Eine Gruppe müder und durchgefrorener und etwas desorientierter Wissenschaftler beschließt, nach der letzten Lesung – und irgendeine Lesung wird schließlich die letzte sein – noch was trinken zu gehen.

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Morgen Valparaíso.

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(Bürgersteig, Ñuñoa. Per te.)

12 Tage Santiago [6]

Endlich konnte man die Cordillera sehen! Berge, riesige, ausgewachsene Berge direkt hinter den Häusern, und was ist? Ich stehe im 4. Stock der Fakultät und meine Kamera behauptet, keine Akkuleistung mehr zu haben. Das kann mir sie zwar noch den ganzen Tag mitteilen, aber auslösen kann sie nicht mehr. Nachmittags, als die Kamera aufgeladen ist, sind die Anden allerdings wieder hinter der üblichen Suppe aus Nebel, Wolken und Smog verschwunden, und dann fängt es auch noch an zu regnen. Eine maue Erlebnis- und Foto-Ausbeute heute.


Zum Kongress bin ich zu spät gekommen, weil die U-Bahn immer wieder im Stau stand, wir haben mehr in Tunnels gestanden als dass wir gefahren wären. Die Sektion, zu der ich morgens wollte, war dann aber offenbar sowieso ausgefallen oder nach unbekannt verlegt worden, der Raum war jedenfalls verwaist und keiner der Helfer wusste etwas. Dann wurde es besser. Bisher habe ich noch keinen Vortrag gehört, der duch Präsentationen irgendeiner Art (Folien, PowerPoint, Ausdruckstanz) oder Handouts unterstützt worden wäre. Ich habe für morgen PowerPoint und Handouts, wahrscheinlich denken sie, ich will einen Lückentext in Deutsch als Fremdsprache mit ihnen machen, wenn ich die Zettel austeile. Hoffentlich ist überhaupt noch jemand da, wenn ich vortrage, heute habe ich schon von vielen gehört, die morgen früh abreisen, und ich bin in der allerletzten Sektion „Wissenschaft“, dann gehört das Feld bis zum Abend wieder den Dichtern.

Das Land bereitet sich auf die Fiestas Patrias und das Bicentenario vor. Am 18.9. ist Nationalfeiertag (Doppelfeiertag mit dem 19.), und dieses Jahr wird die Zweihundertjahrfeier der Unabhängigkeit groß inszeniert. „Ah, Du fährst schon vor dem 18.“, das ist die übliche Reaktion auf mein Abreisedatum, das chilenische Jahr scheint sich in vor- und nach dem 18. September zu teilen. Weil die Feiertage dieses Jahr auf Samstag und Sonntag fallen, werden sie verlegt – das Datum des Nationalfeiertags ist zwar unverrückbar im kollektiven Gedächtnis verankert, und der 18. ist nunmal der Samstag, weil es aber unfair ist, wenn ein freier Tag auf ein Wochenende fällt, wurde beschlossen und gesetzlich festgelegt, dass dieses Jahr auch der Freitag davor und der Montag danach Feiertage zu sein haben. Flexible Ersatz- und Kompensationsfeiertage, der zu Ende gedache Brückentag. Nun, keine zwei Wochen vor den Feiertagen, ist das Land jeden Tag in Blau-Weiß-Rot gehüllt. Die Landesfarben scheinen mir sowieso und immer präsent zu sein, auch die Nationalhymne wird zu Gelegenheiten gesungen, wenn meines Erachtens Deutsche nie auf die Idee kämen, ausgerechnet die Hymne zu singen (zum Beispiel haben die verschütteten Minenarbeiter die Nationalhymne in die zu ihnen heruntergelassenen Mikrophone gesungen, und ihre Familien oberirdisch haben dann auch das rituelle „Chi Chi Chi Le Le Le“ intoniert). Aber jetzt schwappen die Landesfarben wirklich überall hin, alles ist voller blau-weiß-roter Girlanden, Windmühlen, Lufballons, Fähnchen, dazu andere landestypische Symbole wie die Strohhüte der Huasos (der chilenische Gegenpart zum argentinischen Gaucho). Ob die Sägespäne, die heute überall in Galerien und Eingängen von Läden gestreut waren, auch folkloristisch an das die nationale Identität prägende Landleben oder die Zeit der Nationengründung erinnern sollen, oder ob es eine unbemerkte Ölpest gab oder ein größerer Kälteeinbruch mit Blitzeis erwartet wird, vermag ich nicht zu sagen.
Das Fahnenmeer erinnert mich auch an die Pueblos Jovenes (Slums) in Peru. In Peru wie auch in Chile ist es zu nationalen Feiertagen Pflicht ist, eine Fahne zu hissen; wer nicht flaggt, muss Strafe zahlen, zumindest in Peru recht rigide. Da die meisten Menschen in den Pueblos Jovenes nicht sicher wussten, wann Feiertag war und wann sie also zu flaggen hatten, behielten sie, um Strafen zu entgehen, einfach die Fahne permanent auf dem improvisierten Dach, soweit vorhanden. So waren die prekärsten Wohngegegenden, wo diejenigen lebten, denen der Staat am wenigsten gab, paradoxer- und irritierenderweise diejenigen, die (bedingt freiwillig) am deutlichsten und dauerhaftesten Flagge zeigten.
El país se viste de fiesta, und manchmal schaut das aus wie bei Christo abgeschaut, manchmal eher nach Kindergeburtstag.

Und wenn ich sage, dass alles in Blau-Weiß-Rot getaucht ist, dann meine ich alles.
Die Qualität der Fotos bitte ich zu entschuldigen, besonders das folgende hat eine rein dokumentarische Funktion: