12 Tage Santiago [5]

Tokio, die zweite. Morgens vor neun ist der Berufsverkehr in der Metro noch viel lustiger, man steht in mehreren Reihen vor der Bahnsteigkante, selbst die gelbuniformierten Helfer halten sich raus, und wenn im Minutentakt die Züge kommen, werden tropfenweise einzelne Passagiere herausgequetscht und die Masse schiebt so lange, bis der Zug nach allgemeinem Verständnis ganz und gar voll ist. Das scheint meist ganz gut zu passen, etwa 3 Reihen vor mir hat allerdings eine Frau ihren Schuh verloren – der schwarze Stöckelschuh stand auf dem Bahnsteig, das Bein ruderte durch den Türspalt hilflos in der Luft, und ein Mann hing mit dem halben Anzug aus dem Zug, doch irgendwie hat man Schuh und Frau wieder zusammengebracht, bevor der Zug losfuhr. Wann die eigene Reihe dran ist, unterliegt der Schwarmintelligenz, irgendwann wirst Du in den Zug geschoben und es geht los. Ich bin dann heute früh etwa 1,5 Stunden U-Bahn gefahren, an der Umsteigestation im Berufsverkehr einsteigen zu wollen, dauert seine Zeit, dann musste ich nochmal umsteigen, von der roten in die blaue Linie. Dort war kaum was los, sehr angenehm. Ich musste dort noch etwas 7 Stationen fahren, bis „Grecia“ – der Zug hielt allerdings erst, schon oberirdisch, eine Station später. Ich war kurz irritiert, dachte dann, ich werde wohl die Station verpasst haben, stieg eins später aus, wechselte die Richtung und fuhr mit dem nächsten Zug zurück. Und auch dieser fuhr ungerührt durch meine Endstation hindurch, kaum verlangsamend, gewiss niemanden aussteigen lassend. Diesmal lag es nicht am meiner Müdigkeit, die Metro hatte definitiv gehalten, und man muss ja wohl in der U-Bahn nicht für „Haltewunsch“ einen Knopf drücken?! Ich habe die Metro-Karte nochmal studiert und mich entschlossen, nicht eine Station nach meiner Wunschstation auszusteigen um erneut die Richtung zu wechseln, sondern zwei Stationen später – denn offenbar liegen auf der blauen Linie 4 sowohl eine grüne als auch eine rote Sub-Linie. Manche Stationen der blauen Linie sind rot, manche grün, manche haben beide Farben – und um zu der Station zu gelangen, zu der ich wollte (grün auf blau) musste ich zunächst mal aus der roten Linie kommen, in der ich stand, und möglichst innerhalb der blauen Linie in einer grüne in Gegenrichtung wechseln. Dafür braucht man einen Doppelbahnhof, an dem die rote wie die grüne Sub-Linie halten. Alles klar? Das ganze hat etwas von einem Strategiespiel, man muss die richtigen Farben in der Hand haben und diese im richtigen Moment ausspielen, ich hatte leider nur „rote U-Bahn“ gezogen und fuhr darum seit 20 Minuten auf der blauen Linie hin und her, ohne je auf meiner grünen Zielstation aussteigen zu können. Nachdem ich schließlich eine rot-grüne Station erreicht hatte, musste ich noch herausgebekommen, woran ich erkenne, welcher Zug wo hält. Da ist nicht so schwierig, man muss es nur einmal kapiert haben: Die grünen oder roten Lichter über den Türen meinen nicht „einsteigen“ oder „nicht einsteigen“, sondern markierten die Sub-Linie, die innerhalb der blauen Linie bedient wird, sagen an, ob der Zug in „Grecia“ oder „Los Presidentes“ anhält. Ein Strategiespiel, ganz sicher, nur lösbar mit den richtigen Karten in der Hand und wenn man im Besitz der Geheiminformationen ist. (Bildungsproteste finden in der ganzen Welt die gleichen Ausdrucksformen.)

(Was unserem Campus in Deutschland fehlt: Tischtennisplatten, Bolzplätze, Schaukeln.)

Danach Kongress, der bisher relativ improvisiert wird, wir haben nicht mal Namensschildchen, und weil ich meine Pass-Nummer nicht auswendig weiß, konnte ich mich auch noch nicht einschreiben, teilgenommen hab ich aber doch und auch einige der bekannteren Namen getroffen und erkannt und Bücher ausgetauscht.


(Este mural para M.E.)

Nach 12 Stunden Vorträgen und Lesungen haben ich meinen Dichter überreden können, die Abendveranstaltung (Lesungen, wie originell) wenn nicht zu schwänzen, so doch abzukürzen, und nachdem in der Reihe vor uns schon Raul Zurita eingeschlafen war sind wir schließlich noch was essen und Wein trinken gegangen. Nach gut 14 Stunden mit der chilenischen Lyrik bin ich etwas angetrunken und habe eine überraschende Lebensbeichte im Gepäck. Morgen versuche ich es noch mal mit der Metro und dem Einschreiben. Gute Nacht.


(Alle Bilder Universidad de Chile. Campus in Ñunoa, Facultad de Filosofía y Humanidades.)