Geographie

— Huch, ein altes vergessenes Posting gefunden. Da es in einem Zug spielt, passt das mit der Verspätung aber, also geht es trotzdem noch online. [„Dieses Posting hat zur Zeit eine Verspätung von etwa einem Monat. Anschlusspostings werden nicht erreicht. Wir bitten um Ihr Verständnis. Thank you for travelling with Percanta.“] —

Im ICE von Stuttgart nach Hamburg, wir befinden uns einerseits zwischen Göttingen und Hannover, andererseits im Großraumwagen mit etwa 30 heftig (vor-)pubertierenden Kindern. Da es der Freitag des letzten Bundesligawochenendes ist, stimmen einige Kinder immer wieder „Deuuuutscher Meister!“ an, und ihr Dialekt kommt nicht aus dem Ruhrpott, weshalb sie Recht behalten werden. Wenn sie nicht gerade singen resp. grölen, fotografieren sie sich gegenseitig (mit oder ohne Baseballkäppi des großen Jungen) und sticheln und suchen Körperkontakt. Ebenfalls in Gruppen reisende Frührenter kommen durch den Waggon, singen und fotografieren sich gegenseitig (alle mit eigenen beigen Sonnenhüten) und fragen die Jungen: „Ah, Tokio Hotel?“ – Einstimmige Antwort: „Nein! Die sind doch voll bescheuert!“
Die nächsten zehn bis zwanzig Minuten imitieren die Jungs am Nachbartisch Tokio Hotel in den höchsten Tönen. Dann plötzlicher Themawechsel:
Junge 1: „In welchem Bundesland liegt eigentlich Thüringen?“
[tumultartige Szenen, Antworten irgendwo zwischen „bist du bescheuert“ und „wie, Bundesland, kann doch gar nicht.“]
Junge 1, geographisch verunsichert: „Und Hannover? Von welchem Bundesland ist das die Hauptstadt? Nordrhein-Westfalen, oder?“
[beifälliges Gemurmel. Man einigt sich auf „wahrscheinlich Nordrhein-Westfalen“.]
Junge 2: „Und Göttingen? In welchem Bundesland liegt das denn? Auch in Nordrhein-Westfalen oder in Hessen?“
Mädchen 1: „Oder Thüringen.“
[Sie kommen in der Diskussion nicht recht weiter, aber Rettung naht in Gestalt einer fülligen Schaffnerin.]
Schaffnerin: „Göttingen liegt in Niedersachsen.“
Junge 1: „Nie-der-sach-sen? Nee, das kann doch gar nicht.“
Schaffnerin: „Doch, Niedersachsen.“
[Schaffnerin ab.]
Junge 1: „Niedersachsen… die spinnt doch voll…“
Nach einiger Diskussion darüber, ob die Schaffnerin bei SOLCHEN Aussagen vertrauenswürdig sei, einigt man sich: Tokio Hotel ist voll peinlich.

Veröffentlicht unter Reisen

Point of no return


Unsere Mensa-Gruppe, die aus Lateinern, Altgriechen und mir besteht, war beim Latein-Professor (40, alleinstehend, keine Kinder) zum Grillen eingeladen. Ich hatte schon vermutet, dass er trotz seines Berufes wohl eher nicht klassizistisch, stilbewusst und kulturbeflissen eingerichtet wäre. In Ermangelung ausgeprägter anderer Interessen hatte ich auch kaum Schallplattensammlungen, Fußballposter oder sonstige gesichtgebende Details bei der Einrichtung des Reihenhauses erwartet. Höchstens vielleicht – selbstironisch – einen blinkenden Marienaltar, aber auch der fehlte. Der Eindruck des farblos Kleinbürgerlichen wäre nach dem Besuch des Bades auch mit viel Mühe nicht mehr zu relativieren gewesen, denn dort fand sich der geschmackliche point of no return: Er hatte tatsächlich Window-Colors-Bildchen unter dem Spiegel. Window-Colors.

¡Feliz día, hermanito!


Das ist nun ein Vierteljahrhundert her, und das Baby wird heute 25.
Herzlichen Glückwunsch, großer kleinster Bruder!

(Die Narbe auf meiner linken Hand ist demnach auch 25 Jahre alt, anders als Du aber mittlerweile ziemlich verblasst. Die einzige Narbe mit Datierung und eine kleine Erinnerung an den Tag, als wir Dich zum ersten Mal gesehen haben; Mutti stand – mit Dir im Arm, vermute ich, das Bild ist ein bisschen unscharf in der Erinnerung – am Haupteingang des Krankenhauses und ich bin winkend rückwärts gegangen und dabei über die Treppe an der Notaufnahme gefallen. Der vielleicht beste aller Orte für einen Unfall.)

„Der Schrei“, reloaded

„Paypal“ definiert im Vorfeld der 12. Documenta den Schrei neu.
Jetzt digitalisiert, animiert und nur im Internet:


Und, als wäre es des Leidens nicht genug, stecken sie dem armen Wesen auch noch den Finger in den Hals.

Austausch der Wimpel

Montagmorgen, Job #1, mir gegenüber sitzen ein etwas behäbiger Russe und sein Vater, der einen Deutschkurs besuchen soll. Er, der Vater, ist Jahrgang 1940, trägt einen dunkelblauen Anzug, Hemd und Krawatte; er ist sorgfältig rasiert und hat auffallend gepflegte Hände. Auf dem linken Glas der Lesebrille klebt ein weißer Aufkleber, „+2,00 „. Das Gespräch läuft weitgehend über seinen Sohn, der meine Erklärungen übersetzt, der Vater wirkt hochkonzentriert, fragt nach, nickt.
Irgendjemand hat alle zwölfundreißig VHS-Kugelschreiber aus meinem Büro entführt, also krame ich meinen eigenen Kugelschreiber aus dem Rucksack. Der Herr tut es mir nach, holt ebenfalls einen Kuli aus seinem kleinen Lederhandtäschchen und wir nehmen seine Daten auf.
Er ist Historiker, wir klären den Antrag auf einen Integrationskurs und stufen ihn für Grundstufe 1 ein. Die russischen Info-Blätter liest er genau durch und notiert sich die Namen der Lehrer, die auch russisch sprechen. Während ich die Formulare fertig mache, redet er längere Zeit auf seinen Sohn ein, wird immer leiser, am Ende guckt er mich fragend an.
Zeit für meinen einzigen russischen Satz:
„Я не говорю по-русски.
[= Ich spreche kein Russisch.]
Russischer Herr [mit aufblitzenden Augen]: „Ah. Sprechen Sie ein wenig Deutsch?“
Percanta [zeigt mit Zeigefinger und Daumen etwa 1cm auseinander]: „Ein wenig, ja.“
Wir lachen, er unterschreibt das letzte Formular, packt seine Sachen ein und verabschiedet sich. An der Tür dreht er um, legt mir seinen Kuli auf den Tisch, „Entschuldigung“.
„Nein, das war Ihrer“, ich schüttele den Kopf und gebe ihm seinen Stift zurück.
Er wehrt ab, nimmt meinen Kugelschreiber und legt seinen eigenen wieder vor mich. Seine Hände drehen sich umeinander, „Wechsel“.
Mein Kugelschreiber ist nichts besonderes, einer von zahllosen Werbekulis, allerdings einer der ganz wenigen, die wirklich gut schreiben – weshalb ich ihn eigentlich gerne behalten hätte. Wie aber nicht eingehen auf diese Geste? Gut, wir tauschen also Kugelschreiber. „Gauloise“ gegen „Quelle“, für die Deutsch-Russische-Freundschaft.
Cпаcибо.
пожалйста, не стоит.

Achtet auf das, was Ihr sagt!

Für meinen Bruder #1. Und seine Freundin. Und auch für meinen Vater, drei meiner Cousins ersten Grades, ungefähr alle meine Onkel, für Tante A und, wenn wir schon dabei sind, auch für den Kunscht-Cousin.


Cyanide and Happiness, a daily webcomic
Cyanide & Happiness @ Explosm.net

[Wenn ich jetzt wüsste, wieso das letzte Paneel nicht passt. Hmpf. Also: Klicken und alles wird sichtbar]
[Von
hier via.]