40 Tage Buenos Aires [6]

Tag 6, Samstag, 20. Februar 2010: Feria Plaza Francia, Recoleta.
Mein Lieblingsziel an Wochenenden ist die Feria auf der Plaza Francia in Recoleta, um das Kulturzentrum und den berühmten Friedhof Recoleta herum. Beim Tango in diesem Kulturzentrum habe ich vor neun Jahren Percanto kennengelernt, und jeden Samstag und Sonntag ist hier „Feria“, ein einmal rund um alle Wege des Parks aufgebauter Markt mit Hippiekram und Kunsthandwerk, dazu fliegende Händler mit „pan relleno“ (gefülltem Brot), Empanadas, Obstsalat oder Getränken. In der Nähe des Eingangs zum Kulturzentrum sammeln sich die Gaukler, Handleserinnen und Tarotkartenleger, lebende Statuen und dieser ziemlich traurige Clown, der gegen „eine Spende, wie sie euch angemessen erscheint“ Baby B einen orangefarbenen Luftballonhund überreicht hat.
Heute war nur die Hälfte der Stände belegt, von den übrigen hatten einige mit Wind und Regen zu kämpfen. Die Rasenflächen waren Matschfelder, so dass keine Studenten zum Mate-Trinken dort waren, nur unter den enormen Ästen der ausladenden Ombús standen Touristen und bolivianische Händler, um sich vor den Schauern zu schützen. Bei einer Peruanerin habe ich selbstgetrickte Fingerpüppchen gekauft (auch von ihr und ihrer Armada Strickpuppen gibt es Bilder, vielleicht an einem anderen, fotolosen Tag), so wie ich sie damals in Peru auch schon hatte, nur dass ich das Fingerpuppen-Kokodril dieses Mal direkt an ein tatsächlich existierendes Kind weitergegeben habe, der es freudig zerkaut hat. Den Händler von Fotografien von Buenos Aires habe ich beglückwünscht und beneidet (es muss irgendwo eine verlassene Bahnstation geben, die ein hervorragendes Motiv abgibt, und die Fotos von Leuten in Cafés! Hach!), wir haben zugeschaut und doch nicht ganz verstanden, wie man einen Gürtel flicht, dessen in fünf Streifen geschnittenes Lederband an beiden Enden geschlossen ist, haben dem Händler von relativ scheußlichen Halbedelsteininsekten beim Wiederaufbau seines vom Wind angehobenen Standes geholfen und mit dem Flötenverkäufer geplaudert, und B hat mit allen weiteren Kunsthandwerkern geflirtet, bis er vor Müdigkeit weinen musste. Mit dem von einem der wie immer plötzlich aus dem Nichts auftauchenden Schirmverkäufer erstandenen neuen Regenschirm sind wir dann auch halbwegs trocken wieder zu Hause angekommen, heute allerdings nur normaler Regen, leichter Wind und nun, um Mitternacht, etwas Abkühlung in Buenos Aires.

40 Tage Buenos Aires [5]


Tag 5, 19. Februar 2010: Regen.
Die Argentinier haben eine gewisse Neigung zum Übertreiben. Sie haben, wie Ihr gesehen habt, eindrucksvolle Buchhandlungen, sie haben in ihrem Land alle Klimazonen, sie haben die südlichste Stadt der Welt (Ushuaia), sie haben die längste innerstädtische Straße der Welt (sagen sie jedenfalls, Avenida Rivadavia, etwa 35km und Hausnummer 1 bis um die 14.000), und die breiteste Straße (Avenida 9 de Julio mit 21 Spuren, mitten in der Stadt) haben sie auch.
Heute hatte ich bereits mittags eine Reihe Fotos zur Auswahl, zum Beispiel Zeitungsstand, Schuhputzer, Graffiti – doch dann kam Wind auf, die Wolken verdichteten sich und es begann zu regnen. Wenn es hier regnet, kann man ungefähr bis 100 zählen, spätestens dann stehen an jeder Ecke junge Mädchen oder dicke Männer mit den Armen voller Regenschirmen: „Hay paraguas, hay paraguas, paraguas…“. So auch heute, ich hatte natürlich keinen Schirm dabei, dachte aber bei den ersten drei oder vier Händlern noch, so wild wird es schon nicht. Außerdem ist bei etwa 37° etwas Regen überaus erfrischend. Es donnerte fern, der Regen verdichtete sich, und schon ab dem fünften Händler brauchte ich keinen Schirm mehr, weil ich bereits vollkommen durchnässt war. Auf der Straße staute sich das Wasser und schäumte in Blasen auf, die Menschen stellten sich unter oder liefen wie ich gleich ohne jeden Schutz weiter, an den Kreuzungen standen die Leute in den Eingängen der Läden oder unter den Markisen, bis die Ampeln umsprangen und sprangen dann selbst über die breiter werdenden Ströme auf der Straße.
Einmal durchs Wasser gezogen kam ich in der Wohnung an, rettete die fortschwimmende Patientenliste vom offenen Fenster und zog mich um. Als ich mit Handtuch um den Kopf auf dem Sofa saß und Fotos sichtete, kam der Onkel nach Hause und stellte den Fernseher an. Mehr Regen. Unmengen von Regen im Fernsehen, zwei Viertel weiter: Die Straßen Flüsse, das Wasser ging den Leuten ohne Übertreibung bis zur Hüfte, sie wurden an über halbwegs sicheren Stellen gespannten Seilen über die Straßen geführt, damit die Strömung sie nicht mitreißt, Kinder wurden in Schlauchbooten über die Kreuzung gefahren, alte Damen von Feuerwehrmännern ans andere Ufer getragen. Schlauchboote auf der Avenida Santa Fe! Die Avenida Santa Fe ist zwei Straßenblöcke entfernt! Mein geheimer Journalisten-Geist erwachte, ich zog wieder meine nassen Kleider und Badelatschen an und zog nochmal mit der Kamera los. Leider ist die Avenida Santa Fe auch eine extrem lange Straße, und die Schlauchboote fuhren auf einem anderen, ziemlich weit entfernten und tiefer gelegenen Abschnitt, während bei uns langsam das Wasserfallrauschen in einen fast normalen Sommerregen überging. Inzwischen war in einigen Vierteln der Strom ausgefallen, die U-Bahnen, Züge und Busse fuhren nicht mehr und es war etwas spät, um noch zu Fuß bis nach Palermo und wieder zurück zu kommen, bevor Baby B ins Bett musste, also bin ich in einem weiteren Regenspaziergang in nassen Klamotten und der Kamera in zwei Plastiktüten nur noch einmal um den Block gegangen und habe meine Fotosafari abgebrochen. Sehr enttäuschend! Wenn es Wasser bis zur Hüfte gibt, ist ein bisschen Blasenregen ziemlich mau.
Die Wohnung ist inzwischen eine Art Rot-Kreuz-Camp, die Tochter des Onkels ist hier gestrandet und die Großmutter ist nach einer Odyssee mit Bussen mit Bugwelle und einem zwischenzeitlichen Asyl in einer Galerie, wo plötzlich das Wasser durch den Fußboden kam, auch bei uns geblieben. Ich habe für alle Spaghetti gekocht, und Percanto ist gerade nochmal mit Taucherbrille losgegangen, um Eis fürs ganze Lager zu holen. Wirklich abgekühlt hat es sich nämlich noch nicht.
Das verhältnismäßig harmlose Bild oben (menno) ist direkt vor unser Haustür aufgenommen, allerdings, was man nicht unbedingt denkt, mitten am Tag. Eine Serie von echten Überschwemmungsfotos gibt es bei der Zeitung El Clarín oder etwas eindrucksvoller im Moment bei La Nacion. (Die Zeitungen aktualisieren sich hier sehr schnell, möglicherweise stimmen die Links schon nicht mehr, wenn Ihr aufgestanden seid.)
Die Argentinier neigen zum Übertreiben. Buenos Aires ist für etwas 15ml Regen pro Stunde ausgelegt, aber heute haben sie es mit 80ml Regen pro Stunde geschafft, die Stadt im Handumdrehen in eine ausgedehnte Version von Venedig zu verwandeln, nur leider ohne Brücken.

Geographie

Zu Besuch bei meinem Patenkind Ja (2) und großem Bruder Ju (3, oder, wie er sagt: „ich bin drei und ich bin größer und stärker“). Ja lässt eine Legolok um den Teppich herum fahren, auch Ju spielt mit seiner Eisenbahn, schiebt Waggons und verlegt Schienen, „bis nach Südamerika!“ Wir staunen, das sei aber weit, und es sei ganz schön viel Wasser auf dem Weg nach Südamerika. Ach, das mache nichts, dafür würde er eine Brücke bauen, eine ganz lange Brücke, einfach. Aber wo noch mal Argentinien sei? Komm, wir suchen auf dem Ball.
Ich habe ihnen, da sie schon immer sehr interessiert an Ländern und deren Lage sind, einmal einen Ball geschenkt, der auch als schlichter Globus funktioniert, den nehmen wir uns vor und suchen. Das Gelbe hier ist Brasilien, und da unten, das lange grüne Land, das ist Argentinien. Wir fliegen über das Meer und an Afrika vorbei über Spanien zurück nach Deutschland, „wo ist Berlin?“
Ja kommt dazu, wirft sich über uns, „Tiefel! Wo ist der Tiefel?“, und wir suchen Italien, was aber von vielen Tritten furchtbar zerkratzt im Mittelmeer liegt und dessen markante Form kaum mehr zu erkennen ist. Ju schlägt vor, nochmal auf dem großen Weltkarten-Puzzle zu suchen. Das ist ziemlich großartig, die ganze Welt, politisch und beschriftet, auf einem großen Schaumstoff-Puzzle. Wir knien zu fünft vor der zerlegten Erde, Wasser, Wasser, Wasser, die Inseln gehören irgendwo in die asiatische Ecke, ich habe ein Stück Russland, Ju probiert sein wasserblaues Eckstück an allen Kontinenten aus, Argentinien ist dieses Mal rot, Ja legt Mitteleuropa in die Antarktis, gar nicht so einfach alles, wie sieht eigentlich Indonesien aus und auf welcher Höhe liegt es. Wir finden Spanien, da wart Ihr im Sommer, wir finden die USA, da wohnen sie bald, das sprechen wir lieber nicht an, wir finden endlich auch den Stiefel, gelb und prächtig und sehr stiefelig. „Aber wo“, fragt Ju, „wo ist denn eigentlich Lummerland?“
Ich bin nicht sicher, wo man die Heimat von Emma und Lukas suchen soll, der dazukommende Vater meint, in der Nähe von China könnte sein, denn da fahren sie ja hin, es muss irgendwie erreichbar sein mit einer alten Lok. Ja ist plötzlich ein „Halbdrache, böße, ganz böße“, der aber dennoch ganz friedlich weiter Mexiko in den Nahen Osten quetscht, nur Ju wird zunehmen unruhig, weil Lummerland einfach nicht zu finden ist. Schließlich liegt alles, wie wir Großen es für richtig halten, fast alles: Ein Teil fehlt. Im westlichen Pazifik fehlt ein Stück, liegt weder unter dem Teppich noch in der Spielzeugkiste, ist nicht in der Tüte und auch nicht unter dem Sofa. Ein Stück im Wasser, dort hinter China. Dann sind wir sicher: Das ist die Erklärung, warum wir zwischen all den anderen Ländern Lummerland nicht finden konnten, dort wird sie wohl liegen, im fernen Blau, die Insel mit zwei Bergen.

Wie lieblich


Wenn man früh morgens mit dem munteren Baby am Fenster steht, kann man sehen, wie die Stadt das Plakat für das Konzert am Abend nachstellt. Wie lieblich.

Hilfsbereit


Am Wochenende hatte ich Chorprobe in der Musikhochschule der Landeshauptstadt, genauer gesagt im separaten Kammermusiksaal der Musikhochschule, der in einem unauffälligen Gebäude mitten in einem ruhigen Wohngebiet untergebracht ist. Ich hatte die Adresse nicht, nur einen Stadtplan mit einem roten Kreis darauf – irgendwo an dieser Kreuzung musste der Saal liegen, nur wo? Im einzigen großen Gebäude schien die Polizei untergebracht (das erwies sich als eine Fehleinschätzung, die Polizei stand dort wegen des prominenten Bewohners des Reihenhauses an der Ecke gegenüber, jenes ehemaligen hochrangigen Politikers), alles andere war privat, und kein Mensch war auf der Straße zu sehen und nirgendwo Hinweisschilder. Nur Laub und Sonne und ich. Nach ein paar Runden um den Block traf ich dann doch eine Frau mit zwei kleinen Kindern, die ich ansprach: „Wissen Sie, wo die Musikhochschule ist? Der Kammermusiksaal der Musikhochschule, er müsste hier irgendwo…“, sie schüttelte heftig den Kopf, erklärte, sie könne das nicht sagen, sie wisse nicht. Sie griff nach meinem Pan und deutete dann auf die entsprechenden Straßen, „ist hier, ist hier“. Ja. Ich versuchte, in ihr Blickfeld zu kommen, aber sie guckte auf den Plan, drehte ihn so, dass er der Perspktive entsprach und zeigte auf die Straßennamen und die Straßen um uns herum. Wo der Saal war, wusste sie nicht, und dass meine Antworten sinnlos waren, war schnell klar, sie hatte die etwas flächige Aussprache einer Gehörlosen und reagierte folglich nicht auf meine Worte, die sie nicht sehen konnte. Als sie mir schließlich den Plan zurückgab, zeigten wir uns beide zuversichtlich, dass ich das schon finden werde, ich machte die Gebärde für „Danke“ und stand tatsächlich 20 m weiter vor dem Eingang zum Kammermusiksaal.

Das Problem war nicht die Kommunikation selbst, aber eine Gehörlose ausgerechnet nach einem kleinen Saal der Musikhochschule zu fragen, hat etwas von Volltreffer.

(Was mir dazu noch einfällt: Während der Paralympics habe ich die schwärmerische Anmoderation einer Partie Blindenfußball gehört. „Aber genug der Worte! Dieses Spiel müssen Sie einfach SEHEN! Und diese Spieler, eine echte Augenweide!“)

Jetzt:

Weg von den, nun ja, singenden Männern vor der Kneipe unten (13.20, und sie fangen nicht gerade erst an), raus aus dem komplett eingegipsten Treppenhaus, für einige Tage fort aus dem Binnenland. Jetzt:
Hamburg!
Veröffentlicht unter Reisen

Qualitätsverlust

Erstaunlich ist der plötzliche und massive Qualitätsverlust eines Reisebrotes bei Wiedereintritt in die heimische Sphäre.

Morgens vor Beginn der Reise ist es ziemlich okay, selbst wenn die zugeklappte Brotvariante nicht die favorisierte ist.
Während der Fahrt ist es großartig, lecker, verlockend, aber auch wert, gut eingeteilt und noch einige Stationen aufgehoben, um dann mit noch mehr Genuss auf dem Umsteigebahnhof oder der öden Strecke zwischen den großen Städten verzehrt zu werden.
Sobald aber das Ziel erreicht und die Wohnungstür durchschritten ist, verliert das Reisebrot mit sofortiger Wirkung und irreversibel Form, Konsistenz, Geschmack und überhaupt jeglichen Reiz.

Der abrupte Qualitätsverfall tritt auch ein, wenn man das Brot weder selbst belegt noch den Tag über begleitet hat. Meine Omi hatte immer ein oder zwei Reisebrote zu viel, und bei uns angekommen schlug sie dann vor, wir Kinder könnten ja zum Abendessen ihre ‚Hasenbrote‘ haben. Wir waren nicht begeistert.

Gleiches gilt auch für Bibliotheks-Abendbrot, das zu Hause vergessen und am Abend dort wiedergefunden wird. Aufgeklappt, mit mehr Käse belegt und im Ofen überbacken wird es akzeptabel. Leidlich.

2008: Jahr des Froschs

Am 1. Januar sind Percanto und ich nach Salamanca gefahren, die Stadt, in der ich mich damals nach der Schule, lang ist’s her, definitiv für das Spanisch-Studium entschieden hatte. In diesem Jahr soll die Doktorarbeit endlich abgeschlossen werden, wenn man zu Jahresbeginn also über das Kommende und das Gewesene nachdenken mag, liegt der Gedanke an einen sich schließenden Kreis nicht fern. Zumal wir zufällig direkt neben meiner alten Schule gewohnt haben.
Da auch Percanto dieses Jahr seinen Abschluss macht, hat er dem salamantinischen Brauch gemäß den Frosch auf dem Universitätsportol gesucht – und auch nach nur etwa einer Stunde gefunden:

Der Frosch misst vielleicht 7 – 10 cm, und ich werde jetzt hier kein Detailbild einstellen, um zukünftige Abschlüsse der Leser nicht zu gefährden: Wer den Frosch findet, besteht.

Nur ein Detail der Tür gebe ich preis, auch mit Frosch:


Salamanca ist natürlich sehr stolz auf dieses Detail und wirbt kräftig mit Fröschen in allen Formen, Lebensräumen und Geschmacklosigkeiten. Entsprechend enthusiastisch war ein Zeitungsartikel am 2. Januar: „2008 – año de la rana“, „2008 – Jahr des Froschs“. Ausführlich wird dort die Bedeutung des Froschs für Salamanca beschrieben und die glückliche Fügung besungen, im Jahr des Froschs Bewohner der Stadt mit Frosch zu sein. Alles werde gut, alles stehe unter einem guten Stern im beginnenden Froschjahr 2008!
Die Enttäuschung des Journalisten wird groß sein, wenn er entdeckt, dass er sich um einen Buchstaben verlesen hat. Nicht das chinesische Jahr der „RANA“ beginnt im Februar, sondern das der „RATA“. Mir gefiele das Froschjahr allerdings auch besser als das Jahr der Ratte, über das sich andere freuen mögen.

[Fotos: Percanto. Meine analogen sind noch im Entwickler… wie immer.]