40 Tage Buenos Aires [16]

Tag 16, Dienstag, 2. März 2010: Der Kuss. Knutschendes Touristen-Pärchen vor der Casa Rosada auf der Plaza de Mayo.
(Apropos Knutschen als Tagestipp, nämlich.)
Auf dem Pflaster sieht man die weißen Logos der „Madres de la Plaza de Mayo“, die hier bis Anfang 2006 jeden Donnerstag ihre Protestrunden gedreht haben. Sie sind immer im Kreis gegangen, weil ihnen während der Diktatur verboten worden war, vor dem Präsidentensitz zu stehen und zu demonstrieren. Wenn man nicht stehen darf, muss man laufen, und so sind sie gelaufen, etwa drei Jahrzehnten lang jeden Donnerstag.

Wir sind heute umgezogen, die neue Wohnung ist klein, aber ordentlich, hell und unsere. Meine Küche! Mein Bad! Und mein Bett! Das ist nicht selbstverständlich, die letzten Nächte habe ich mit B auf einer Matratze im Sprechzimmer geschlafen und dieses dann morgens früh schnell wieder geräumt.
Die Wohnung liegt in einem Gebäude in der Av. Rodriguez Peña / Corrientes, also an der Ecke zu der Straße mit den vielen Buchläden, von der ich berichtet hatte. Buchläden, Theater, auch sonst jede Menge Kioske, Cafés und Läden. Kein Traumboulevard, aber sehr belebt und voller Kuriositäten. Wir sind nun etwa 5 Blocks vom Obelisken entfernt.
Wie das mit den Cuadras ist, habe ich ja schon mal erwähnt, und da die Stadt in den zentralen Viertel in sich fast rechtwinklig kreuzenden Avenidas gebaut ist, ist es üblich, außer dem Straßennamen immer auch die nächste Querstraße als Referenz anzugeben. Wir wohnen also Rodriguez Peña con Corrientes; da eigentlich alle die Reihenfolge der wichtigsten Querstraßen sowohl in West-Ost- als auch in Nord-Süd-Ausrichtung im Kopf hat, hilft diese zweite Angabe bei der Orientierung, man hat eine Vorstellung, auf welcher Höhe der meist sehr langen Straßen man sich befindet.
Percanto fand es in Deutschland immer amüsant, dass die meisten in zweistelligen Hausnummern wohnen, es gibt sogar einstellige! Da hier in jeder Cuadra ein neuer Hunderter beginnt (auch wenn das letzte Haus vorher keine -99 war), gelangt man natürlich recht schnell in Tausender-Nummern. Wie in den meisten Ländern stehen auch hier keine Namen an der Tür oder am Briefkasten, man muss also die Nummer des Apartments wissen: Stockwerk plus ein Buchstabe für die Wohnung. Wir sind 6to I, es geht bis P – mindestens 16 Wohnungen pro Stockwerk also, ich muss mal gucken, ob es eigentlich die Wohnung „Ñ“ gibt.
Das Gitternetz aus sich kreuzenden Längs- und Querstraßen wird an einigen Stellen wie am Obelisken und an der Plaza de Mayo noch von großen Diagonalen durchschnitten. Das macht die Kreuzung Corrientes / 9 de Julio etwas abenteuerlich, denn dort treffen die Straßen sternförmig auf eine große Verkehrsinsel, und allein die 9 de Julio ist ja schon 21-spurig. Die meisten der anderen Straßen sind Einbahnstraßen, was das Überqueren etwas einfacher macht, man muss nur gerade an Ecken mit Diagonalen gut gucken, wer von wo kommt. An den wenigen Straßen mit beiden Fahrtrichtungen stehen darum auch oft Leuchthinweise an den Kreuzungen, „beide Richtungen! Links und rechts gucken!“
(In Chile stand in den Bussen am Ausstieg immer „guck nach hinten!“ Ich hab lange nicht kapiert, warum ich mir über die Schulter gucken soll beim Aussteigen, nach hinten meinte aber natürlich
nicht „bitte im Bus Schulterblick„, sondern war die Erinnerung, auf der Straße Richtung Heck vom Bus zu schauen, von wo durchaus Verkehr kommen konnte, da die Busse nicht immer am Rand der Fahrbahn hielten.)
Um über die 21 Spuren der Av. 9 de Julio zu kommen, muss man übrigens nicht rennen, zügig gehen schon, aber es gibt zwischendurch mehrfach Inseln. Wenn ich schnell gehend loslaufe, wenn meine Ampel gerade grün wird (bzw. weiß, die Fußgänger haben eine weißes Männchen für „Grün“), schaffe ich es genau bis zur Mitte. Um abschätzen zu können, ob man noch losgehen kann oder ob die lauernden Haie hinter dem Zebrastreifen gleich losbrausen, blinken manche der Ampeln, kurz bevor sie umspringen. Andere Fußgängerampeln auf der 9 de Julio sind dreigeteilt: eine rote stehende Figur, eine weiße gehende, und als letztes ein runterzählender Countdown – noch 12 Sekunden, um rüberzukommen, noch 11, noch 10.
Es ist wahnsinnig viel Verkehr, wobei die meisten Wagen Taxen zu sein scheinen, aber die öffentlichen Verkehrsmittel werden auch viel genutzt. Und insgesamt ziemlich gut organisiert. Vor meiner ersten Reise nach Buenos Aires wurde ich vor den „wilden“ Fahrern gewarnt, aber nach einem Jahr Peru empfand ich es hier als sehr gesittet. Wahrscheinlich auch in diesem Punkt mit Italien vergleichbar. In peruanischen Großstädten dagegen brettern Busse auch mal über den Bürgersteig, wenn dort ein potentieller Passagier einzusammeln ist, Einbahnstraßen sind reine Kulanz und Taxen auch optisch überhaupt nicht von anderen Autos zu unterscheiden. Reine Vertrauenssache. Vorfahrt hatte der ältere oder der größere Wagen, das war stets eine Entscheidung von Millisekunden, die aber auch nicht immer gut ausging. Und ich habe dort z.B. erst nach mehreren Wochen herausgefunden, dass es in dem Kabelgewirr über der Straße ja auch Ampeln gibt, das war dem Verkehrsfluss nicht unbedingt anzumerken.
Ich ärger mich ja ein bisschen, dass ich in Peru nicht Auto gefahren bin (z.B. mit E.s altem Käfer, bei dem die Tür mit einer Plastiktüte festgebunden war und das Bodenblech fußgroße Löcher hatte. Nicht unpraktisch, denn so kann man die Schlaglochlage verfolgen und notfalls auch mal per Fuß bremsen. Ein normaler Mittelklassewagen dort.), denn wäre ich dort gefahren, könnte ich es jetzt. Allerdings würde ich dann wahrscheinlich auch bei jeder abschüssigen Strecke den Motor ausmachen und rollen lassen, um Benzin zu sparen, und das kommt in Deutschland ja meist nicht so gut an.
Buenos Aires hat die älteste U-Bahn Lateinamerikas (die „Subte“ für Subterraneo), Nostalgikern ist die hellblaue Linie A zu empfehlen, mit zweiteiligen Holzfenstern und Glaskugellampen in den Waggons. Ich bin dieses Mal allerdings noch nicht gefahren, für einen Kinderwagen sind es zu viele und zu enge Treppen. Aber unter dem Café an der Ecke hört man die rote Linie rumpeln.

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Sie haben mir heute den vollen Ticketpreis für meine Flüge nach Chile erstattet, Grund auf dem Beleg: „Ausfall wegen Erdbeben“.
Das war schon relativ knapp. Die Städte im Süden, wo die unsere Studenten im Auslandssemester sind, sind wohl recht wenig betroffen, hoffen wir das Beste.

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Die neue Wohnung hat Deckenventilatoren. Baby B stand vorhin fasziniert unter dem im Wohnzimmer, guckte nach oben, imitierte das Geräusch und ließ sein Strickkrokodil kreisen. „Ich wär halt ein Ventilator.“

Überhaupt wird er gerade zum Stadtkind, in jedem Fahrstuhl (die meisten älteren sind noch in besseren Zeiten aus Frankreich importiert und haben zwei Türen oder Schiebegitter, meist passt es knapp mit dem Wagen) strahlt er mich an, macht „wwwwwiiiii“ und zeigt auf die Knöpfe. Wwwwiiiii und hoch, bitte.

40 Tage Buenos Aires [15]


Tag 15, Montag, 1. März 2010: Pasaje San Lorenzo, San Telmo.
In dieser Gasse habe ich bei meinem ersten Aufenthalt hier gewohnt, im Studentenwohnheim. Das Haus mit dem Che-Grafitti war eine „casa tomada“
, am Ende der Straße ein Conventillo, eine Art Gemeinschaftshaus. Es gibt in San Telmo heute wohl eher mehr besetzte Häuser, auch die Gasse wirkt noch, als wären die Häuser teilweise wilde Kommunen. Die ebenso mies gelaunte wie mies gekämmte Frau auf dem Balkon meinem Fenster gegenüber sitzt immer noch auf ihrem Plastikstühlchen und trinkt Mate. Dieses Straßencafé ist neu, damals haben die Leute eher mit ihren Flaschen auf dem Bordstein gesessen, anstatt sie auf Tischen stehen zu lassen. Es riecht ziemlich nach Hasch. Außerdem schwappt der Kunsthandwerksmarkt bis hier hinein und sie haben versucht, die Höfe zu Artesanía-Galerien eher schlichter Art umzubauen. Ein Mädchen bietet mir etwa aus Plastikstielen und Walnusshälften gebastelte Löffel an, nun ja.

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Gute Nachrichten, endlich: Jorge hat, wie vorhin schon gemeldet, seine Kinder Flavio und Ramiro gefunden, es geht ihnen allen gut. Ich bin sehr, sehr erleichtert. Mein Dichter Floridor hat ebenfalls eine Nachricht schicken können: Es geht ihm und seiner Familie gut, es ist nichts kaputt gegangen „außer der blauen Glaskugel, die, wenn sie schon nie die Zukunft vorhergesagt hat, so doch wenigstens die Gegenwart des Erdbebens angezeigt hat“, wie er mir schreibt. Der Humor scheint auch noch intakt zu sein.

Und wir haben eine Wohnung. Etwas über unserem Preislimit, aber gute Lage, sieht nett aus, und: wir haben sie. Ab morgen Mittag, wenn wir bis dahin Dollars haben.
Weiteratmen.

(Und ein Erbeben in Neuquén im Süden Argentiniens. Aber nicht so stark, sonst noch nichts bekannt. Das läuft jetzt nicht unter gute Nachrichten, aber die Erleichterung nach ein paar sehr angespannten Tagen ist heute Abend groß.)

40 Tage Buenos Aires [14]


Tag 14, Sonntag, 28. Februar 2010: San Telmo. Die Händler auf Plaza Dorego packen gegen Abend ihre Sachen zusammen.

Wir suchen weiterhin eine Wohnung. Auch beim 8. Mal Südamerika unterlaufen einem noch Fehler in den Grundlagen, wenn als Ausrichtung „Norden“ angegeben ist, denke ich jedesmal, schade, etwas dunkel wird das sein. Ist natürlich auf der Südhalbkugel Blödsinn.

Trotzdem haben wir aber heute Nachmittag einen Ausflug nach San Telmo gemacht. Das alte Viertel platzt vor Touristen aus allen Nähten; der vor vier Jahren noch um die Plaza Dorego konzentrierte Antiquitätenmarkt wuchert nun als Kunsthandwerksmarkt bis zur Plaza de Mayo, und es sind wahnsinnig viele Menschen unterwegs. Ich habe ähnlich viele Fotos und eine viel zu große „engere Auswahl“, Glück gehabt mit Schmetterlingen auf alten Sifóns und ähnlichem, bin aber heute zu unkonzentriert und bedrückt, um sorgfältig auszusuchen. Vielleicht gibt es die Tage mal eine Auswahl Marktbilder.

In Chile den ganzen Tag über heftige Nachbeben, mehrere hatten über Stärke 6. Nach offiziellen Angaben inzwischen 708 Tote, in Concepción, der am stärksten betroffenen Stadt, sind Menschen unter Hochhäusern verschüttet, noch kann man sie hören. Von meinen Leuten bis zum Abend nichts gehört, jetzt erfahre ich indirekt zumindest von dem Freund etwas, den ich Mittwoch besuchen wollte. Auf Facebook scheinen sie in manchen Gegenden zugreifen zu können, auf Mails nicht und Telefon funktioniert auch nicht, also suche ich nach vielen vergeblichen Anrufen über Percantos Facebook-Account nach Jorge. Er hat heute eine Nachricht geschrieben, lebt also, das beruhigt mich, allerdings erschüttert mich seine kurze Nachricht selbst um so mehr. Es ist eigentlich ein Aufruf, er sucht seine beiden jüngsten Söhne, Flavio (6) und Ramiro (4), die mit ihrer Mutter in Concepción sind. Ausgerechnet in Concepción! Ich hoffe so sehr, dass es den Kindern gut geht, und bin sehr besorgt. Jorge muss im Moment durch die Hölle gehen.

40 Tage Buenos Aires [13]

Tag 13, Samstag, 27. Februar 2010. Fußball auf der Plaza „Las Heras“, Palermo.

Kein guter Tag, sehr unruhig in jeder Hinsicht. Wir suchen dringend eine neue Unterkunft, da es mit der verletzten Großmutter und dem psychisch instabilen jüngsten Sohn, der es schwer verkraftet, keinen eigenen Schlafplatz mehr zu haben, einfach zu eng ist in der Wohnung. Zwei Nächte im Dienstbotenzimmer reichen eigentlich auch, nur ist es nicht so einfach, am Wochenende eine möblierte und bezahlbare Wohnung für Drei in halbwegs vernünftiger (sicherer, nicht allzu ferner) Lage zu finden. Wir sollen morgen oder „notfalls auch Montag“ umziehen und sind jetzt erst mal beim mittleren Sohn, der übers Wochenende weg ist. Also den Tag im wesentlichen im Internet und am Telefon verbracht – und vor dem Fernseher, Nachrichten aus Chile gucken.
Es ist furchtbar, inzwischen liegen die offiziellen Zahlen bei 214 Todesopfern. Die Bilder wiederholen sich, die Nachbeben leider auch. Ein Seismologe meinte, das Beben sei 50 Mal so heftig gewesen wie das in Haiti. Die Angaben zur Stärke variieren von 8,3 bis 8,8, anscheinend differenzieren aber auch zwischen der Stärke in Santiago und beim Epizentrum. Beides ist unfassbar viel. (Das stärkste Erdbeben, was ich in Peru erlebt habe, lag bei 5,9,und dauerte keine ganze Minute, und das langte wirklich, um Angst zu haben.)
Von meinen Freunden und meinem Dichter weiß ich immer noch nichts, ich gehe aber gleich noch mal ins Locutorio, einen weiteren Anruf versuchen.

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Nachdem wir vorübergehend bei Andi eingezogen sind, waren wir mit dem ebenfalls unruhigen Baby B wenigstens noch schaukeln, auf der Plaza de Las Heras hier in Palermo entstand das Bild. Das ist der berühmte Straßenfußball, der Fußball „de las Plazas“. Im Hintergrund spielen hinter Maschendraht auf mehreren, wie Tennisplätzen nebeneinaner liegenden Feldern die Erwachsenen. Und am 3. März spielt Argentinien gegen Deutschland.

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In der Wohnung, wo wir zwischengelagert sind, wieder eine Katze. Mein Organismus wehrt sich heftig dagegen, Katze einzuatmen.

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Ich gehe nochmal telefonieren, hoffentlich geht es allen gut.

40 Tage Buenos Aires [12]

Tag 12, Freitag, 27. Februar 2010: Der zukünftige Präsident Argentiniens, Señor Presidente Pedro.

Ich darf Ihnen den zukünftigen Señor Presidente der Republik Argentinien vorstellen, bisher noch Pedro oder auch „der Verrückte von der Ecke“. Cada loco con su cuento. Jeder Verrückte mit seiner Geschichte. Das hohe Staatsamt kann man unschwer an der Präsidentenschärpe und einigen Medaillen erkennen, andere historische Vorbilder sind ebenfall in Haltung und Kopfbedeckung eindeutig. Das Cape rundet das Bild ab, unter dem Hut trägt Pedro ein Kopftuch wie das von Zorro, das auch den Zopf zusammenhält. Außerdem trägt er stilsicher Stiefel und eine gelb getönte Motorradbrille und sitzt auf seinem „caballo eléctrico“, elektrischem Pferd, auch „moto musical“ genannt, Musikmotorrad, denn auf dem Sozius ist eine kleine Musikanlage installiert, den Lautsprecher sehen Sie. Vollständig aber erst, wie er mir erklärte, mit Schirm. Voilà.

Diesen Herrn traf ich keine zwei Cuadras von der Tantenwohnung entfernt vor einem edlen Herrenausstatter, er zeigte mir, nachdem ich ihn angesprochen hatte, dort mit einem verschwörerisch auf die Lippen gelegten Zeigefinger und großen Gesten Lederschuhe und graue Anzüge und führte mir schließlich sein elektrisches Pferd vor.
Baby B lernte derweil von den Verkäufern viele Synonyme für „loco“.
Ich habe seinen Namen und Mail-Adresse, wegen der Präsidentschaft wisse ich ja nun bescheid, und wenn er mal nicht im Laden sei, wo er wohne, soll ich nach Viviana fragen. Das gilt auch für Sie.

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Auf Santa Fe steht ein älteres Ehepaar neben mir an der Ampel, der müde B ist gerade in der Karre eingeschlafen. Die Frau guckt mich an und sagt dabei in ziemlich vorwurfsvollen Ton zu ihrem Mann „guck, der schläft da“. Auf Deutsch. „Ja, und?“ sage ich, und die Frau lächelt mich an, spricht aber weiter mit ihrem Mann. „Guck Dir mal die Reifen an. Solche großen Räder haben die hier an ihren Kinderwagen.“ Ich lächele sie ebenfalls an und sage, weiterhin auf Deutsch: „Ja, große Räder, aber der Kinderwagen ist mitsamt Rädern aus Deutschland, der ist schneetauglich.“
Die Frau lächelt mich verbindlich an und schüttelt ein bisschen den Kopf. Irgendwie scheint sie bis zum Schluss nicht gemerkt zu haben, dass ich sie verstehe. Im Gedrängel auf der Santa Fe kommen wir an Ampeln oder engen Stellen immer wieder nebeneinander zu stehen, und sie guckt jedes Mal mit leichtem Vorwurf das schlafende Kind und dann stirnrunzelnd mich an. Cada loco con su cuento.

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Wir suchen eine Bleibe für die nächsten vier Wochen, sofort, ich versuche hier trotzdem tagesaktuell zu schreiben.

40 Tage Buenos Aires [11]

Tag 11, Donnerstag, 25. Februar 2010: Friedhof Recoleta.

Recoleta ist neben Chacarita der berühmteste Friedhof der Stadt, und es ist eine eigene kleine Stadt mitten im gutbürgerlichen Viertel Recoleta. Eine Stadt der Toten und der Engel, die Toten wohnen unten in den Mausoleen, die Engel oben auf den Dächern. In den Mausoleen stehen die Särge zum Teil im Keller, zum Teil auf Augenhöhe in Regalen, unter Altaren, unter Spitzendeckchen verborgen oder ganz offen der Gittertür. Manchmal stehen die großen Särge im Untergeschoss, und oben steht ein furchtbar kleiner. Außen an den Wänden sind die Namen der Familien eingemeißelt, der einzelnen Toten, und es sind Metall-Plaketten mit Liebesschwüren und Erinnerungen angebracht. Die meisten Mausoleen scheinen Tote aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu bergen, ihre Fotos zeigen sie bei ihren Hochzeiten, als steifes Portrait oder ihren Leichenzug. Manche Nischen sind verfallen und voller Müll, „Pax Eterna“ steht über einem Haufen Plastikflaschen hinter Gittern und zerbrochenen Scheiben. Einzelne Pflanzen haben sich den Weg gebahnt und umranken die Särge und Kruzifixe, die Vasten auf den kleinen Altären sind längst leer, andere Familiengruften sind auf Hochglanz poliert, an einem Mausoleum mit blitzenden Scheiben drehte sich eine Klimaanlage. Es gibt Mausoleen, wo die Türen aufgebrochen sind und man die Stufen zu den Särgen hinabsteigen könnte, in anderen liegen zwar welke, aber doch immerhin Blumen, andere werden von den Wächtern gepflegt, da dort Familien ruhen, die in den Reiseführen auftauchen und wo die Friedhofsführungen Halt machen. Auch Evita (um die Argentinien nicht weinen soll) liegt hier. In den Gassen sonnen sich Katzen, bei der Statue eines betenden Kindes, die von blühenden Sträuchern überwuchert war, stand auf einmal sirrend ein Kolibri im Licht. Einige Dachsimse tragen streng blickende Büsten der Verstorbenen, andere Kreuze oder steinere Flammen. Das schönste am Friedhof aber sind die Statuen, die zahllosen Engel und Madonnen auf den Dächern der Mausoleen. Sie sind ja wohl wegen der Toten da, aber auf ihren Kuppeln balancierend scheinen sie doch ganz in ihrer eigenen Welt zu bleiben, über die Sterblichen, auf deren letzten Häusern sie stehen, und über uns Touristen erhaben. Nach zwei Stunden unter Engeln frage ich mich, wann sie die Arme zu uns auf der Erde herabgesenkt haben und wann sie einen Arm, eine geöffnete Hand energisch in die Luft werfen, als wollten sie sagen, „heppa, hoch mit Dir, Toter, auf den Himmel, hopp…“. Einige ruhen aufgestützt, manche haben Hängeflügel, andere scheinen gerade von einer Wolke zu fallen. Einer weint schwarze Tränen, anderen wachsen Heiligenscheine aus Gras. Ein Engel hält eine Frauenfigur vor dem Bauch und zieht sie nach oben, ein bisschen erinnern die beiden mich an die Plakat-Szene aus „Titanic“. Meine Lieblingsstatue aber ist eine Figur ohne Flügel, eine weiße marmorne Jugenstilstatue am Mausoleum von „Rufina Cambaceres“, die ganz sanft die Tür aufschiebt (oder zuzieht?), wunderschön. Ich liebe sie schon lange und bin auch heute zuerst zu ihr gegangen.
Da ich mich zwischen all meinen Engeln heute nicht entscheiden konnte, gibt es die sanfte Jugendstildame und eine größere Auswahl weiterer Figuren auf Flickr, den Link setze ich morgen separat rein – heute habe ich einige Schwierigkeiten mit der Stromversorgung und kann keine Bilder mehr hochladen, auch keine geflügelten.

Es wird Zeit, dass ich das Thema wechsel, gestern die grausigen Fotos in der Ausstellung, vorgestern die Verschwunden, heute Friedhof. Zu viele Tote. Im realen Leben hier allerdings auch ein paar Schwierigkeiten, die Mutter der Tante ist gestern gestürzt und hat sich den Oberarm gebrochen. Zum Glück muss sie nicht operiert werden, aber schön ist das nicht mit 84 Jahren, zumal sie nach der Beerdigung ihrer Schwester am Freitag ziemlich angegriffen ist. Sie wohnt nun auch hier, in dem Zimmer, wo bisher wir untergebracht waren, wir sind erst mal zu dritt ins winzige alte Dienstbotenkabuff gezogen, wo nun wegen der Matratze auf dem Boden die Tür nicht mehr aufgeht, und der jüngste Sohn schläft im Sprechzimmer. Auf Dauer werden wir wohl eine andere Lösung finden müssen. Die „Abuelita Angelita“ (irgendwie passt dann doch immer alles zusammen) ist eine so reizende Person, tapfer und eigentlich ganz fröhlich und redselig. Neben den Schmerzen und der Sorge ärgert sie sich nun, dass sie die letzten Tage Freibad und das Abschlussfest ihrer Ferien-Kolonie mit ihren „Chicas“ verpasst. Aber die Chicas, ihre 70- bis 94-jährigen Freundinnen, werden sie nun hier besuchen kommen. Was natürlich nicht das gleiche ist wie ein Picknick im Freibad, aber sie ist, wie gesagt, sehr tapfer.

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Link zu Flickr: Engel


40 Tage Buenos Aires [10]

Tag 10, Mittwoch, 24. Februar 2010. „Torre de los ingleses“, Retiro.
Stadtrand zum Wasser hin: Hinter dem „Turm der Engländer“ sieht man Kräne des Hafens, links ist der alte Bahnhof Retiro, rechts runter eine Strecke Bürotürme bis zur Plaza de Mayo, im Rücken liegt die Plaza San Martin.
Heute leider nur ein Touristenfoto, viele Bilder, aber außer einer sehr, sehr langen Menschenschlagen unter einer argentinischen Fahne (sie standen anscheinend um einen kompletten Häuserblock herum bei einer Bank an, aber warum abends um halb 7?) nur Postkartenmotive. Postkartenmotive sind völlig in Ordnung, aber ein bisschen flach und frustrierend, wenn man gerade aus einer beeindruckenden, aufwühlenden Foto-Ausstellung kommt: „Laberinto de Miradas. Fricciones y conflictos en Iberoamerica.“ Dokumentarische Fotografien aus diversen lateinamerikanischen Ländern, ich stand ziemlich fassungslos vor einem Foto von Patricia Arijidis, eine schwarz-weiß Aufnahme aus einem Frauengefängnis in Paraguay, auf welchem die Gefangene durch die Gitterstäbe hindurch ihr in einem Hochstühlchen außerhalb der Zelle sitzendes Kleinkind füttert. Auf andere Art grausam die Bilder von Sandra Sebastián aus Guatemala, nackte Gewalt, Blut, Kinderturnschuhe unter Laken. Die Ansätze waren sehr vielfältig, neben Slums und Gefängnissen, Friedhöfen und Treibjagd zum Beispiel eine Dokumentation von Gittern im Alltag (sich selbst hinter Schutzgittern einsperrende Leute in Argentinien von Sebastián Friedman), eine Hexe in Mexiko (Maya Goded) oder die Suche nach Verschwundenen (Miguel Dewever). Ich bin immer noch beeindruckt, ähnlich wie bei der Ausstellung zum World-Press-Award. Der Link zeigt unter „Exposiciones“ und dann im mittleren Ausstellungsfeld alle oder die meisten der heute gesehenen Fotos, man kann sie auch großklicken.
Am Ende aller drei Ausstellungen soll ein auch in Europa erhältlicher Katalog erscheinen. Merk ich mir vor. Gerade sehe ich, dass es ein Begleitseminar zur Ausstellung gab, Praxis der Dokumentarfotografie. Vorbei, schade!

Apropos verpasst: Mein Tourifoto wäre 3 Minuten eher immerhin deutlich besser geworden, aber ich hatte die Kamera noch in der Tasche, als die Boeing in einer Landeschleife unmittelbar hinter dem Turm vorbeikurvte. (Tipp #1 für die Dokumentarfotografie: Nicht auf die Leute hören, die sagen, bloß nicht mit sichtbarer Kamera herumlaufen. Immer griffbereit halten!) Schade, zudem wäre das noch eine Überleitung zum anderen Thema geworden: Ich habe heute Flugtickets nach Chile gekauft, nächsten Mittwoch gehts mit Baby B für eine Woche ans Meer. Wie ich das dann hier mache, werde ich noch sehen, vielleicht gibt es ein paar Tage argentinische Konserven und dafür zusätzlich chilenischen Frischfisch.

40 Tage Buenos Aires [9]

Tag 9, 23. Februar 2010: „Magic“. Drei parallele Welten, horizontal. Avenida Santa Fe.

Heute bin ich stundenlang herumgelaufen, erst auf dem Spielplatz mit einem laufenlernenden Kind, dann auf der Suche nach einem neuen UV-Filter für die Kamera erst in die falsche Richtung gegangen, dann – nach Erfolg in einem echten Geheimtipp, der Laden in einem Wohnhaus versteckt, auf Anfrage wurde ich vom Portier hingerbacht – einen sehr großen Spazierrundgang mit der Karre gemacht. Und gut 150 Fotos. Heute sah es lange nach einem Fleischfoto aus, denn wir waren mittags mit Baby Bs Großmutter an einer Parrilla, einem Grill also, große Stücke Rind mit Ensalada Rusa essen.
Die Mädchen in der mittleren Etage des Bildes trinken übrigens Mate, dazu wird es nochmal einen extra Eintrag geben. Und an den schwarz-gelben Taxis erkennt man, dass wir in Buenos Aires sind.
Nachdem ich vorhin über meine Erlebnisse mit Demonstrationen in Buenos Aires schrieb, bin ich prompt in eine kleinere geraten, auf der Straße war vor allem die Vereinigung der Prostituierten und Frauenrechtler, die in erster Linie Freiheit für ein junges Mädchen forderten, Romina Tejerina. Sie wurde fast noch als Kind vergewaltigt, wurde schwanger, bekam das Kind alleine zu Hause und brachte es direkt nach der Geburt um, sie ist heute etwa 17 Jahre alt und sitzt noch im Gefängnis. Außer Freiheit für Romina forderten die Demonstrantinnen vor allem, soweit ich das auf den Schildern und aus den Gesängen erkennen konnte, das Recht auf Abtreibung.
Keine zwei Ecken weiter sprach mich ein Herr in Anzug und Krawatte auf Baby B an, wie freundlich, wie niedlich, wir unterhielten uns auf dem Weg über die Straße, dann kam die übliche Frage, wo ich herkomme. Aus Deutschland, der Herr war dann sehr interessiert und fragte mich direkt nach Möglichkeiten, ein Kind aus Deutschland zu adoptieren. Er und seine Frau wollten ein Kind adoptieren, aber das sei hier schwierig, sie hätten nun Deutschland ins Auge gefasst, vielleicht Polen. Wir haben uns dann für ein oder zwei weitere Cuadras (Straßenzüge, manzanas, Häuserblöcke, die Längeneinheit schlechthin innerhalb von Städten) über das Adoptionsrecht und unterschiedliche Chancen und Bedingungen unterhalten. Ich habe ihm keine Hoffnung für ein deutsches Baby gemacht, er bat mich trotzdem, mir seine Visitenkarte und Mail geben zu dürfen, falls ich mal von einer Familie höre, die ein Kind zur Adoption freigeben wollten. Er klang ein bisschen verzweifelt.
Zufällig hatten wir ein ähnliches Gespräch gestern Abend hier zu Hause, so dass ich ein bisschen über das argentinische Recht informiert bin. Wegen der Vorfälle während der Militärdikatur ist hier inzwischen offene Adoption Pflicht, die Namen aller Beteiligten sind immer bekannt, und es sei auch üblich, die Kinder von vornherein über ihren Status zu informieren.
In meiner Generation war das anders, und die Offenheit heute ist wichtig: Während der Diktatur verschwanden etwa 30.000 Menschen, und die Wunden sind noch offen. Die weltweit bekannten Mütter der Plaza de Mayo setzten sich zunächst dafür ein, dass die Verschwundenen lebend wieder auftauchen sollten. Bald 30 Jahre nach Ende der Diktatur haben sich die Forderungen (vereinfacht gesagt) dahin verschoben, dass man zumindest wissen möchte, was mit den Entführten und Getöteten passiert ist und wo die Leichen zu finden sind. Außerdem gibt es die Suche der Abuelas, der Großmütter, nach den Enkeln – und die korrespondierende Vereinigung Hijos (Kinder / Söhne). Diese beiden gründen sich auf einem der für mich furchbarsten Aspekte innerhalb der sowieso schon unfassbaren Mord- und Foltergeschichte dieses Militärregimes. Mütter von kleinen Kindern wurden oft mit ihren Kindern zusammen mitgenommen und inhaftiert, und schwangere Frauen haben ihre Babys in den Foltergefängnissen bekommen. Die Frauen (und die dazugehörenden Männer und Väter) wurden meist umgebracht, und die Kinder und Neugeborenen wurden von Militärs oder von Paaren, die den Militärs nahestanden, die regimekonform waren und die um diese Möglichkeit wussten, was schon genug sagt, adoptiert. Die Kinder wuchsen also bei den Mördern ihrer Eltern auf und hielten diese für ihre eigentliche Familie.

Die Abuelas haben eine DNA-Datenbank angelegt, wo sich junge Menschen, die den Verdacht haben, auf diese Art adoptiert worden zu sein, testen lassen können. Das Wissen um die Existenz dieser Zwangsadoptionen hat in meiner Generation auch zur Folge gehabt, dass die meisten irgendwann ernsthaft hinterfragt haben, ob sie wirklich die Kinder ihrer Eltern sind. Selbst in unserer Familie hier, die politisch verfolgt wurde und als Teil des Widerstands sogar in den heutigen Geschichtsbüchern auftaucht, haben die älteren Söhnen diese Zweifel eine Zeit lang gehegt und mit ihren Eltern ausdiskutiert. Es reichte, dass es von der Schwangerschaft kein Foto gab, um in eine existentielle Krise zu stürzen. Die Folgen bei den Adoptivkindern, bei denen sich der Verdacht bewahrheitet, sind sehr unterschiedlich. Es gibt die glückliche Wiedervereinigung mit der Herkunftsfamilie (bei der natürlich immer ein Teil, die Kinder der Alten und die Eltern der nun jungen Erwachsenen, fehlt), die Annahme des eigentlichen, des alten Namens, die Versuche, mit der neuen Identität eins zu werden. Nicht alle können oder wollen diesen durch die neue Identität implizierten Bruch mit dem alten Leben und mit den als solche erlebten Eltern vollziehen, und so gibt es auch einige Fälle, wo die Kinder sich letztlich weigern, diese neue Wahrheit als ihre anzunehmen, und die ganz in ihrem bisherigen Leben bleiben, nicht die Familie und das politische Lager mit dem Namen wechseln. Sie sind ja mit einer politischen Ideologie aufgewachsen und sollen plötzlich zu den anderen, zu den Gegnern und Opfern gehören. Und natürlich gibt es auch Mittelwege, junge Menschen, die zwar ihre gewohnten Namen behalten, aber doch Kontakt mit den wiedergefundenen Großeltern, Tanten, Cousins pflegen. (Ich glaube, es gab in Deutschland mal eine Geo-Reportage über zwei junge Frauen in so einer Situation.)
Eine Situation, bei der mich schon der Versuch, mich in die Lage dieser Menschen zu denken, schier zerreißt.

Heute Abend kam dann zufällig in den Nachrichten ein Beitrag über einen jungen Mann, der als 101. „hijo“ von den Großmütter der Plaza de Mayo identifiziert wurde und der nun, mit Mitte 30, von seiner alternativen Lebensgeschichte und seinen eigentlichen Eltern – deren Namen in den Nachrichten genannt wurden – erfahren hat. Heute hat er seinen Großvater kennengelernt. Die Filmaufnahmen zeigten einen schmalen Mann, der breit lächelnd, aber ziemlich gefasst im Büro der Madres durch die Menge der anderen Mütter und Großmütter geschoben wurde, alle streichelten ihn, klopften ihm auf die Schultern, reichten ihn sicher in Gedanken an ihre vermissten Kinder und Enkel weiter, bis er in der Mitte des Raumes bei seinem Großvater ankam, der ihn umarmte und dann seine Hand wie die eines Box-Sieger hochriss. Sie haben alle nicht geweint, ich dagegen Rotz und Wasser.

40 Tage Buenos Aires [7]

Tag 7, Sonntag, 21. Februar 2010: Confitería „El Olmo“ (Die Ulme), Ecke Av. Santa Fe und Av. Pueyrredón.
Sonntag mit gelegentlichem Nieselregen und leichtem Wind, 23°. Baby B und ich stehen auf, als Percanto vom Tango nach Hause kommt, der Rest der Wohnung schläft, der Rest des Viertels schläft, der Rest der Stadt schläft. Nicht die ganze, aber als wir am frühen Vormittag das Haus zu einem ausgedehnten Spaziergang verlassen, sind die noch feuchten Straßen fast leer, manchmal kommt ein Taxi vorbei, manchmal ein Bus, einzelne Leute mit Hunden oder Tüten vom Bäcker, und in einigen Hauseingängen schlafen Obdachlose. Die gab es kaum, als ich 2001 das erste Mal in Buenos Aires war, mit der großen Krise Ende 2001 / 2002 ist die Armut gewaltig gewachsen und wurde sichtbar. Kaum eine der vielen Bars und Cafés in den Seitenstraßen ist am frühen Sonntagvormittag geöffnet, aber nach gegen 11 werden sie Straßen belebter und wir nehmen die Confitería El Olmo an der großen Avenida Santa Fe als Wendepunkt unseres Spaziergangs. Es ist eines der Cafés, die noch nach altem Porteño-Stil eingerichtet sind und den Kaffee auf traditionelle Art und Weise servieren. Die Kellner tragen alle weiße Hemden, schwarze Hosen, schwarze Westen und schwarze Fliege, wahrscheinlich werden sie – wie von der Besitzerin des Traditions-Cafés „La Giralda“ – auch beim Nachnamen gerufen. Das Café ist mit kleinen Tischen für zwei oder drei Personen vollgestellt, der Haupteingang ist wie bei den vielen Ecklokalen hier an der abgeflachten Ecke. Die breiten Fenster gehen bis auf Tischhöhe und sind zweigeteilt, jetzt im Sommer ist die untere Scheibe herausgenommen oder hochgeschoben, so dass man direkt am Bürgersteig sitzt. Zum Klassiker „Café con leche con medialunas“ – „medilunas“, Halbmonde, sind kleine, etwas kompaktere und süße Croissants, normalerweise „de manteca“, also mit Butter gebacken, in der dünnen Variante „de grasa“ mit Öl – gibt es ein Kännchen Wasser, Zucker und auf einem separaten Tellerchen einen Keks oder ein, zwei Bonbons oder beides. Die heiße Milch für den Kaffee wird am Tisch aus einem etwas größeren Metallkännchen eingeschenkt, der Gast bestimmt die Menge. Da die größte Einwanderergruppe in Argentinien Italiener waren, prägten sie einen guten Teil der Ess-und Café-Kultur, diese mischt sich allerdings mit den spanischen Gepflogenheiten und denen der anderen Einwanderer aus Osteuropa, dem Mittelmeerraum, arabischen Ländern. In manchen Cafés wird außer den genannten Utensilien (und Servietten und Zahnstochern) auch Zimt zum Kaffee gereicht, so steht schnell das ganze Tischchen voll, wenn man „café“ bestellt. Man kombiniert, was sich in den Herkunftskulturen bewährt hat ,und pflegt es.
Hier in der Tantenfamilie – unmittelbare Herkunftsländer mehrfach Italien, dazu Kroatien, Polen, Ukraine – wird allerdings keine besondere Esskultur gepflegt, jeder muss eine andere Diät halten (zwei ohne Salz, einer ohne Carbohydrate, außerdem muss man natürlich auf die Figur achten) und die Tante hat es nicht so mit Gewürzen. Auch mit dem Kaffee, den alle trinken, geben sie sich zu Hause nicht zu viel Mühe: Knappe zwei Liter werden direkt in einer orangefarbenen Plastikwanne angesetzt, wo der Kaffee vor sich hinziehend stehenbleibt, bis ihn jemand durch ein Teesieb in eine Kanne gießt. Diese Kanne kann man sich dann auf dem Gasherd erwärmen oder, noch profaner, becherweise in der Mikrowelle erhitzen. Und dann mit Unmengen flüssigem Süßstoff versetzt trinken, und das zählt wegen der H-Milch für die meisten Familienmitglieder hier als ein vollwertige Mahlzeit. Sie finden es etwas irritierend, dass ich – auch noch als Frau – zum Frühstück auch etwas außer Milch essen will. Vor allem aber will ich, wenn ich hier bin, in die Cafés gehen und die dortige Kaffee-Zeremonie genießen.