Und sie suchen das Wort

Ende des Sommers soll unser Heidenkind getauft werden, der Termin steht, die Paten sind gewählt und haben zugesagt, nun suchen wir einen Taufspruch. Dies ist erwartungsgemäß kein ganz einfaches Unterfangen. Welches Wort sollen wir dem Söhnchen mitgeben? Was soll ihn leiten, begleiten, sollen wir ihm etwas wünschen oder weise Worte zuraunen?
Wie so oft hilft auch hier die Musik. Am Wochenende probten wir Mendelssohns doppelchörige Motetten op. 78, und in Nr. 1 dachte ich schon, einen hübschen Taufspruch gefunden zu haben, nämlich Psalm 2, 12:
„Küsset den Sohn!“
Allerdings, dachte ich dann, ist diese Aufforderung vielleicht ein wenig zu stark von Mutterstolz geprägt. Überdies geht es nicht allzu versöhnlich weiter: „Küsset den Sohn, dass er nicht zürne und ihr umkommt auf dem Wege; denn sein Zorn wird bald entbrennen. Aber wohl allen, die auf ihn trauen!“ Hm. So einen kleinen Jähzornigen sollten wir uns vielleicht nicht gezielt heranziehen.

Zum Glück geht aber Opus 78 noch weiter, und in Nr. 3 („Mein Gott, warum hast Du mich verlassen“), der Vertonung des 22. Psalms, wurde ich fündig. Psalm 22, 21. Das ist es:
„Hilf mir aus dem Rachen des Löwen und errette mich von den Einhörnern.“
Perfekt. Die Patin meinte zwar, sie würde dann wohl vor Lachen das Kind ins Taufbecken fallen lassen und man könnte uns mangelnden biblischen Ernst vorwerfen. Ich aber denke, man sollte sich nicht so leicht verunsichern lassen. Errette mich von den Einhörnern!

Johannisbeeren und Zirkus Pauli

Die ersten fünf, fast sechs Jahre meines Lebens habe ich im Süden gelebt, meine Freunde sprachen Dialekt und haben mir das rollende R beigebracht, was für meinen heutigen Beruf nicht unwichtig ist. Eine Freundin hatte einen reimenden Namen (Julia Schmulia*), die anderen waren alle adelig, nämlich die Simone von Schmidts* und der Wolfi von Schumanns* und der Johannes von unten. Vor allem war da Johannes von unten, Johannes war mein bester Freund und meine erste Liebe, obwohl er später nicht mehr so viel mit mir gespielt hat, als er in die Schule ging und Jungensfreunde hatte und ich noch ein kleines Kindergartenmädchen war. Wir sahen aus wie Zwillinge, trugen beide Pilzkopf und große Knieschoner über den Rollschuhen, und unsere Schlümpfe konnten wir auseinanderhalten, weil meine einen schwarzen Punkt unter den Füßen hatten. Als ich als Protestantin vom Sternsingen ausgeschlossen war, ohne dass ich den Grund verstand, haben wir uns verkleidet und sind als die Heiligen zwei Könige durch das Haus gegangen und haben gesungen, bei seinen und bei meinen Eltern. An dem Tag, als ich Fahrradfahren lernte, hat er mich im Rennen gewinnen lassen mit meinem kleinen blauen Rad, und für mich war es ausgemachte Sache, dass wir zusammengehören. Als wir in den Norden zogen, galt mein heftiges Heimweh, das erst gegen Ende der Grundschule nachließ und nur bei fränkisch sprechenden Touristen an der Eisdiele wieder aufflackerte, vor allem ihm.
Meine neuen Freunde aus der neuen Nachbarschaft hat diese Fernliebe sicher irritiert, so wie mein geerbtes Dirndl, das ich genau einmal zusammen mit schwedischen Clogs trug und mir dabei entsetzlich verkleidet vorkam, oder mein nicht lupenreines Norddeutsch. „Kiasche, nicht Kürsche!“ Wenn wir nicht wussten, was wir spielen sollten (außer in der Sandkiste oder Hallihallo oder mit unseren Fahrrädern und Kettcars im Kreis fahren oder mit ganz von alleine kaputt gegangenen Tontopfscherben auf der Straße malen oder Kaulquappen aus dem Graben fischen oder auf Stelzen rückwärts laufen) und wir uns langweilten und keiner mehr Vorschläge machte, dann fragten sie mich, was wir denn gespielt hätten, dort im Süden, und ich konnte auch nicht genau sagen, was der Unterschied war, aber Langeweile konnte ich nicht erinnern. Doch wenn sie Johannisbeeren pflückten, habe ich geweint. Später wollte mich Christian heiraten, der einzige Südamerikaner der Schule, er hat mir erst einen Kaugummiautomatenring geschenkt und dann einen aus sieben Einzelringen bestehenden Silberring seiner großen Schwester (ich habe ihr dann in ihrem Heimatland einen ähnlichen gekauft, nachdem ich gut 20 Jahre später tatsächlich einen Mann von dort geheiratet hatte – und doch nicht meinen Johannes, mit dem ich nur zu Beginn des Studiums noch einmal einen halb gemalten, halb geschriebenen Briefwechsel geführt hatte und seitdem nie wieder Näheres gehört.)
Als ich mit fast sechs Jahren dazu kam, waren die meisten anderen Kinder schon zu zweit, und wir haben dann Dreierallianzen gebildet, ich habe mit MiriundSonja* gespielt und mit FraukeundDaniel. Aber FraukeundDaniel blieben immer mehr FraukeundDaniel als FraukeDanielundPercanta. Das konnte man daran erkenne, dass sie mich zum Beispiel beim Indianerspielen an die Birke bei Daniel im Garten fesselten und dann woanders spielen gingen, während ich als „Kleine Wolke“ am Marterpfahl den Mücken und dem langen Nachmittag ausgesetzt war. Aber Indianer kennen keinen Schmerz und ich habe mich nicht beschwert.
In einem Sommer aber haben wir zu dritt einen Zirkus gegründet, Zirkus Pauli war unser großes gemeinsames Projekt, so ähnlich wie Eva-Lotta und Anders und Kalle Blomquist, und wir haben geübt und Plakate gemalt und Handzettel in die Briefkästen gesteckt, wir haben Stühle in den Garten gestellt und einen Vorhang zwischen die Birken gespannt, wir haben 20 Pfennig Eintritt genommen und schließlich waren alle Nachbarn aus der Sackgasse in unseren Garten gekommen. Frauke, die eine Brille hatte und die Älteste war, war Zirkusdirektor, und ansonsten waren alle alles. Geturnt wurde am Klettergerüst, mit mörderischen Absprüngen von der Schaukel und vom oberen Balken der Leiter, zu den Akrobaten gehörte auch eine kompliziert choreographierte Übung mit mehreren auf dem Boden liegenden Reifen, bei der wir viele Brücken machten. Außerdem gab es eine schöne Tiernummer mit einem Pferd, das zwei Beine von Frauke und zwei von Daniel hatte und eine nach Stall riechende Decke und einen Steckenpferdkopf, und ich führte es mit einer Gerte und in den Reiterstiefeln meiner Mutter im Kreis herum. Das war bestimmt ganz famos, wie Eva-Lotta gesagt hätte. Da Frauke Sportgymnastin war, ich in jener Zeit beharrlich daran arbeitete, auf Händen so gut zu gehen wie auf Füßen, und sich Daniel mit dem verzweifelten Ehrgeiz des einzigen Jungen der Gruppe ins Radschlagen gestürzt hatte, war die Akrobatennummer vielleicht gar nicht so schlecht, nicht für Grundschüler jedenfalls. Legendär geworden sind aber die Zauberer, die keine Zeit und Geduld gehabt hatten, aus den Zauberbüchern Tricks vorzubereiten und sich darum auf die Präsentation eines Chapeau-claques beschränkten, und die sehr lustigen Clowns, die wahnsinnig komisch hinter dem Vorhang hervorstolperten, an ihren Kleidern, Perücken und Nasen zupften, die Fußspitzen nach innen drehten und dann unter dem, nun ja, donnernden Applaus wieder aus der Manege verschwanden.
Aufgrund des großen Erfolgs machte die Zirkuscompagnie ihre Drohung wahr und trat im folgenden Sommer wieder auf. Dieses Mal konnten die kleinen Brüder nicht mehr beide im Laufstall als wilde Raubkatzen präsentiert und dadurch aus den Proben herausgehalten werden, so dass Bruder #1 einen sensationellen Gastauftritt bekam: Mit einem roten Sturzhelm und meinen alten Rollschuhknieschonern drehte er wie der Blitz auf dem gelben Dreirad mit schwarz-weiß-kariertem Formel-1-Sattel eine Runde um die Manege. Niki Lauda im Zirkus! Das war wirklich unerhört.
Irgendwann nach dem Schlussapplaus hat sich auch die Verbindung zwischen uns dreien gelöst. Die Artistin und Zirkusdirektorin hat Sport studiert, der Zauberer hat heute zwei Kinder
und Niki Lauda neuerdings ein Motorrad. Johannisbeeren sind nicht mein Lieblingsgemüse, und ich denke bei ihrem sauren Geschmack zwar immer an das moosige Gartenstück hinter dem Haus, wo der Johannisbeerstrauch steht, weinen muss ich jedoch nicht mehr. Wenn wir aber eine dilettantische Moderation sehen, eine beschämend laienhafte Darbietung auf viel zu großer Bühne, ambitioniertes Schauspiel oder Musizieren Erwachsener mit wenig Talent aber Publikum, dann seufzen wir und sagen „Zirkus Pauli“.



*Name von der Redaktion geändert, aber baugleich.

Spätberufen

Am Abendbrottisch unterhalten wir uns über Omi, die gestorben ist, oder, wie Ju (3) es formuliert, die „fertig gelebt“ hat.
„Wo ist Omi jetzt“, fragt Ju, „ist sie im Himmel?“
„Ja, Omi ist jetzt im Himmel.“
„Und ist sie ein Engel geworden?“
„Omi ist ein Engel im Himmel, ja.“
„Mhm. Sie soll aber lieber ein Bauarbeiter werden…“

Wie wir heißen


Während sein großer Bruder Ju den ganzen Tag schnabbelt, beschränkt sich Jas Vokabular noch auf die wirklich wesentlichen Dinge: „Mami“ (= Mami), „Papi“ (= meist Papi), „Opapa“ (= Opapa), „Ju-u“ (= Justus) und „Japa“ (= Jasper), „Blubb“ (= Fisch) und „Ba“ oder „Da“ (= der Rest der Welt). Seit Bruno da ist, sagt er auch stahlend „Beeeebi“, und zwar mit großer Begeisterung zu Bruno, zum Kinderwagen und auch zu mir, wenn er mich nicht gerade „Papi“ nennt.
Bevor Ju begann, höchst eloquent die Welt zu erklären, nannte er seinen kleinen Bruder „Japser“, und wir folgten ihm darin. Von daher ist der neuste Name, den Ja für mich hat, augesprochen passend: „Fiepe“.
Guten Abend, unsere Namen sind Japser und Fiepe; wir kommen von den Anonymen Asthmatikern.

Geschwisterliebe

Mit meiner Mutter besuche ich Ju (noch keine 3) und mein Patenkind Ja (1 Jahr).
Ja übt laufen, während Ju seine Bauklötze auf dem Tisch sortiert, „ich baue ein Land“, erklärt er, und benennt die Klötze. „Jetzt ein Dreieck. Das ist ist gelb“, kommentiert er, „und hierhin kommt ein langer Kreis.“ „Ah, ein roter Würfel“, sage ich etwas später. „Nein“, meint er, „ein Klotz.“
Nach einer Weile entschließt er sich, die großen Bauklötze auf dem Tisch zu lassen und die kleinen auf den Boden zu legen.
„Die kleinen Klötze sind für das Baby“, erklärt er uns, während er sie ordentlich auf dem Parkett aufreiht. „Wir teilen nämlich. … Aber nicht gerne.“

Zimt und Nuss und Mandelkern (Geschichte ohne Pointe, aber mit Rezept)

Weihnachten ist eine lange Kette von Ritualen, von denen keines fehlen oder abgewandelt werden darf. Beim Karpfen blau machen staunen, am Weihnachtsbaum das kleine Körbchen suchen, das Engelchen vom Klavier auf die Krippe setzen.
Traditionell, das heißt bei den Eltern zu Hause und in den Adventspäckchen, gibt es im Advent auf jeden Fall auch Dresdner Christstollen (eines der Kriegsrezepte meiner Großmutter, Mutti hat ihr 1940er-Backbuch mal komplett durchprobiert, geblieben ist es glaube ich bei Omis Stollen 1943), Florentiner, Ausstecherle (unbedingte Lieblingsfiguren: das rennende Schwein, dann das Kamel, das Nashorn), Vanillekipferl und Berliner Brot. Dieses Jahr gab es statt Berliner Brot sehr gutes Spritzgebäck, und da ich endlich! einen Ofen habe, wollte ich die eigene Adventsbäckerei mit dem fehlenden Berliner Brot beginnen. Ausstecherle hatte ich schon mit dem Patenkindsbruder gemacht, was einige Tränen gab, weil er nicht den
ganzen Teig roh essen durfte, nicht alle Mandeln unter dem Tisch verteilen sollte und weil er sehr unentschlossen war, ob die krumpeligen Regenwürmer auch in den Ofen sollten oder nicht.Am Ende war er aber sehr glücklich und sehr stolz auf seine halben Herzen, die Schweinespuren und die letztendlich mitgebackene Wurmfamilie.Berliner Brot geht eigentlich schnell und einfach, dummerweise hatte ich Muttis Rezept nicht und Mutti war unterwegs, und Familienkekse nach außerfamiliären Rezepten sind natürlich so eine Sache. Ich habe also ein paar Rezepte so kombiniert, wie es mir am wahrscheinlichsten erschien, ganz wichtig sind viele Nüsse, viele Mandeln und große Stücke Blockschokolade. Noch wichtiger ist die hellblaue Schürze mit den weißen Streublüten von meiner Mimi. Die Schürze ist sehr zerschlissen, die Bänder bestehen fast nur noch aus Knoten, aber sobald ich die Enden zu einer kurzen Schleife binde, fühle ich mich transparent – so, als würden durch mich mit der Schürze erst meine Mutter hindurchscheinen und durch sie ihre Mutter, Mimi. Die Wirkung ist nicht mehr so unmittelbar wie zu Beginn, als ich die Schürze – noch mit einem Stückchen Bindfaden und einer Wäscheklammer in der Tasche – die ersten Male umgebunden hatte, aber immer noch spüre ich ganz deutlich die Generationen. Dieses Mal habe ich die Schürze über den Babybauch gewickelt, und Mimi hätte sich so über diese neue Generation gefreut, dachte ich dabei. Und sich bestimmt furchtbare Sorgen gemacht um mich und den ersten Urenkel.
200 g Mandeln standen im Rezept, aber erst als ich das Tütchen brauner Kerne ausgekippt hatte, fiel mir ein, was nicht dabeistand: Mandeln schnipsen! Das letzte Mal war bestimmt 15 Jahre her, oder noch länger, vielleicht hatte ich sogar noch auf dem roten Schemel gestanden, um besser an die Mandeln in der Blechtasse mit blauem Rand zu kommen. Sofort gegenwärtig war dann aber wieder das Gefühl der fast verbrühten Fingerspitzen – und vor allem das der ausgekühlten, feuchten Mandelhäutchen.
Dank dieser zwei Kilo Baby in mir bin ich gerade sowieso nie allein, und ein wenig Gewürzgeruch, Schürzenstoff, Bullerbüzitate oder feuchte Mandelhäutchen scheinen zu genügen, um mich vollends zur Mamuschka zu machen, um neben dem zappelnden Figürchen im Inneren auch immer wieder die Hüllen der vorigen Generationen bewusst zu machen.
Das Berliner Brot ist bei uns übrigens eigentlich ein Stippgebäck, hart wie Bundeswehrkekse. Das frei variierte Rezept führte zu merkwürdig lockerer Lebkuchenkonsistenz, die Kekse ließen sich nicht nur widerstandslos schneiden, sondern zerfallen beim Bewegen einfach. Und enthalten wohl etwas zu viel an Gewürz.
So hab ich sie gemacht, das Familien-Originalrezept wird möglicherweise nachgereicht.

* * *
400 g Margarine
500 g brauner Zucker (oder weniger Zucker, dafür aber noch Rübensirup)
4 Eier
2 EL Zimt
gemahlene Nelken, Cardamon, Orangenschale, Zitronenschale, Muskat, Koriander, Anis nach Gefühl (etwas weniger Gefühl tuts auch)
200 g Blockschokolade, teils gerieben, teils in Stückchen gebrochen
500 g Mehl
1 Pkt. Backpulver
200 g ganze Haselnüsse
200 g Mandeln

Puderzucker und Zitronensaft

Margarine, Zucker, Eier und Gewürze, Mehl und Backpulver gut mixen. Schokolade, Nüsse und Mandeln unterrühren.
Ein Backblech mit Backpapier auslegen, den Teig darauf verteilen und glattstreichen. Bei mir hat es für anderthalb Bleche gereicht, der Teig ging aber – für ein ganzes Paket Backpulver – erstaunlich wenig auf.
Ofen auf 180° vorheizen, etwa eine halbe Stunde backen.
Wenn die Masse ein wenig abgekühlt ist, mit Zuckerguss (mit einem Spritzer Zitrone) bestreichen (er sickert auf dem warmen Teig fast vollständig ein, am Ende bekommen die Kekse dadurch aber eine leichte Kruste) und in Rauten schneiden.

In einer Blechdose zwischen Schichten von Backpapier aufbewahren.

* * *
Probieren Sie es aus, bis es hier die nächste Folge vorweihnachtlichen Sentiments mit extra Zimt gibt.