August

Wenn die Tage kürzer werden, ist der Sommer nicht mehr lang. Nach meinem Geburtstag ist der Sommer fast vorbei. Und wenn die Brombeeren reif sind, ist der Sommer zu Ende.
Es gibt genau zwei gute Gründe, sich über das nahende Ende des Sommers zu freuen: Der eine sind meine Füße, die nach herrlichen Wochen des Barfußlaufens und der offenen Schuhe so kaputt sind, dass ich bei jedem Schritt an die kleine Meerjungfrau denke. Jeder Schritt ein Schritt in ein offenes Messer. Socken mit Creme werden eine Erleichterung sein und sehen mag diese nackten Füße, ruckediguh, Blut ist im Schuh, auch schon lange keiner mehr.
Der zweite Grund fällt mir gerade nicht ein.

Polarisiert

Dies war eine Woche, in der man gut dagegen sein konnte. Ich war diese Woche gegen ziemlich vieles. Gegen politikverdrossenes Handtuchwerfen, gegen den Hessen, dessen Namen wir nicht nennen wollen, gegen Bohrlöcher, gegen die Südspange (Göttinger! Geht zur Bürgerbefragung, geht gegen die Südspange stimmen!), gegen Blindgänger.
Im Nachklappern der Handtuchwerfer war ich auch noch gegen von der Leyen, gegen Schäuble, gegen den oben nicht genannten Hessen. Und auf einmal war da ein neuer Kandidat und die vorsichtige Möglichkeit, dafür zu sein. Man ist Dafürsein kaum noch gewohnt, für jemanden zu sein, schon gar in der Politik, hat einen verdächtigen Beigeschmack, man traut sich selbst und seiner Zustimmung kaum über den Weg. Aber aber je länger ich über Gauck als Kandidaten nachdenke, desto mehr ich dafür, für Gauck als Bundespräsidenten.
Und statt nur immer „Nein!“ zu sagen (und auf der Straße abstruse Diskussionen über Verkehrs(un)gerechtigkeit zu führen), sollte man vielleicht mal ein „Ja“ unterstützen. Das denke nicht nur ich, es gibt inzwischen einige Initiativen, die sich für Gaucks Kandidatur stark machen. Und man könnte das Dafürsein üben, indem man sich zum Beispiel dort einträgt.
Warum für Gauck?
Ich zitiere Nico Lumma:

Die beste Begründung für Joachim Gauck liefert Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrer Laudation zum 70. Geburtstag von Joachim Gauck:
“Weil wir immer wieder Debatten brauchen, weil wir uns immer wieder miteinander austauschen müssen, ist es so gut, dass wir Sie, Herr Gauck, haben. Denn Sie legen den Finger in die Wunde, wenn Sie eine Wunde sehen, aber Sie können auch Optimist sein und sagen: Es geht voran. Beides brauchen wir. Danke, dass es Sie gibt. Danke, dass Sie weiter da sind.”

Hier geht es weiter:
Grundsätzliches auf Wirres.net: Gauck is my president.
Unterstützung der Kandidatur Gaucks in der Facebookgruppe Joachim Gauck als Bundespräsident
Nico Lummas Initiative Wir fuer Gauck

Der Politikverdrossenheit von oben mit Politik von unten antworten?
Ich üb das jetzt, das Dafürsein. Der Anlass scheint mir ein guter zu sein.

(PS: Göttinger, stimmt trotzdem gegen die Südspange. Danke.)

Rosen, Tulpen, Nelken

Zwei Links mit hohem Heulfaktor. Via Feedreader und @PickiHH und @Kaltmamsell s Getwitter.

(Gebrauchsanweisung:
1. Taschentuch suchen
2. Kaltmamsells Blogeintrag lesen
3. bei Bedarf Taschentuch benutzen
4. Video schauen
5. (Reihenfolge nicht umdrehen!)
6. Taschentuch benutzen
7. seufzen
8. einem Herzmenschen Blumen schenken)

I. Kaltmamsells Rosentag

II. Fleurop

Ich bin Arbeiterin

1. Was machst du beruflich?

Ich bin zu Hause bei meinen drei Töchtern, und ich arbeite in einer Papierfabrik.

2. Was ist gut – was ist nicht so gut daran?

Meine Töchter sind wunderbar, und als Gastronomentochter verstehe ich es auch, einen Haushalt zu führen.

Die Arbeit in der Papierfabrik ist furchtbar. Meine Händen reißen blutig auf, ich atme Staub ein, muss ständig husten, was mir wegen meiner Tuberkulose, die ich einmal hatte und von der niemand wissen darf, denn das ist eine Armeleutekrankheit, immer wieder Sorgen macht. Die Mädchen neben mir kommen auch aus dem Osten, aber trotzdem haben wir uns nicht viel zu erzählen. Früher ist es uns gut gegangen, meine Mutter und ich trugen bis zum Krieg schöne Kleider vom Schneider aus Stralsund, wir haben hart gearbeitet, aber wir waren elegant. Mein Vater hat Geige gespielt und Samstag war Tanz.

Nun arbeite ich in der Papierfabrik, weil wir uns wieder etwas aufbauen möchten. Die Mädchen sollen in einem eigenen Haus aufwachsen, und wir möchten wieder ganz zu Hause sein.

3. Was wäre dein absoluter Traumberuf?
Ich wäre gerne Sportlehrerin geworden.

4. Warum gerade dieser?
In der Schule hatte ich eine Sportlehrerin, die ich sehr bewundert habe. Sie konnte turnen und laufen, aber auch segeln und vor allem leicht und elegant schwimmen. Ich habe immer gerne geturnt, obwohl ich groß für Mädchen war, war ich geschickt am Reck. Später konnte ich auch gut ruhig sitzen, nähen und stricken, aber in der Schule habe ich die Turnstunden geliebt. Am Strand sind wir Freundinnen immer auf dem Geländer der Seebrücke balanciert und haben Rad geschlagen. Und ich habe gerne den kleineren Mädchen beigebracht, wie man einen Stein weit in die Ostsee wirft, wie man ihn springen lässt bei ruhiger See, und wie man einen sicheren Kopfstand macht, konnte ich auch zeigen. Vor allem aber wollte ich vielleicht selber schwimmen lernen. Denn obwohl ich am Meer aufgewachsen bin, durfte ich nie schwimmen lernen. Als kleines Mädchen wäre ich einmal fast ertrunken, und dann wollten meine Eltern mich nie wieder im Wasser sehen.
Sie wollten mich auch schützen, als sie mich kurz vor dem Abitur vom Lyzeum nahmen. Man vermutete Rheuma bei mir, aber nach einem Jahr war es vorbei – und die Schule auch, unwiederbringlich. Ich habe später meinen W. geheiratet, der Soldat war, so blieb ich noch bei meinen Eltern und half ein bisschen im Restaurant, als die Russen da waren, mussten wir den Betrieb für sie aufrecht erhalten. Nach dem Krieg musste ich fort aus der Heimat und in den Westen fliehen. Als Flüchtlingsmädchen darf man dann keine Ansprüche mehr stellen, bei der Schwiegermutter nicht und auch sonst nicht im Leben. Ich konnte froh sein über die Wohnung auf dem Hof der Matratzenfabrik, denn groß genug war sie und wir hielten Hühner im Hof, und ich konnte wohl froh sein, dass ich als Ungelernte aus Vorpommern eine Arbeit hatte. Glücklich war ich nicht bei der Arbeit, glücklich war ich bei meinen Lieben.

(U.V., *1919. Meine Großmutter.)

Ich bin Laborantin

1. Was machst du beruflich?

Ich arbeite bei Carl Zeiss Jena im Labor.

2. Was ist gut – was ist nicht so gut daran?

An meinem Beruf mag ich, dass ich präzise arbeiten muss, dass ich optische Geräte von hoher Qualität herstelle. Zumindest bin ich daran beteiligt. In der Firma arbeite ich an einem sauberen Arbeitsplatz, den ich natürlich akkurat in Ordnung halte, ich muss sehr genau messen, all das liegt mir.
Leider darf ich nur das Handwerk ausüben, und das nicht einmal als gelernte Technikerin. Lieber würde ich selbst Geräte entwickeln, selbst die Brechungen der Gläser ausrechnen, selbst festlegen, wo und in welchem Winkel geschliffen werden muss. Lieber als Zahlen in Tabellen eintragen würde ich diese Zahlen definieren.

3. Was wäre dein absoluter Traumberuf? und 4. Warum gerade dieser?


Eigentlich wollte ich Naturwissenschaftlerin werden. Physik hätte mich interessiert, Mathematik, Chemie, aber auch Biologie. Ich war auf dem Lyzeum natürlich in allen Fächern gut, sehr gut war ich. Mir liegen nicht nur die Naturwissenschaften, ich liebe auch Gedichte, Musik und Sprachen. Auch war ich sportlich, mein größter Erfolg war die mitteldeutsche Meisterschaft im Speerwurf. Aber besonders interessiert mich doch die Natur der Dinge. Außerdem fühle ich mich wohl, wenn Zahlen stimmen. Zahlen haben eine eigene Ästhetik, Formeln ziehen mich in ihrer Eleganz an. Mathematik, Chemie, das ist eine exakte Wissenschaft, ich liebe die Genauigkeit, die Sicherheit, die Präzision in den Antworten.

Ich habe mir oft vorgestellt, an der Univsersität in Jena Chemie zu studieren oder Physik, eigentlich wollte ich vor allem studieren, um den Beruf, den ich dann ausüben würde, ging es nur in zweiter Linie. Studentin wollte ich sein! Ich wollte die Professoren hören, ihre Theorien lernen und dann im Labor experimentieren, wollte messen und wiegen und überlegen, was ich womit kombinieren könnte, um zu Lösungen zu kommen. Habe mir vorgestellt, immer tiefer in die Formeln zu dringen, alleine an meinem Schreibtisch immer komplexere Formeln aufzuschreiben, mir wie Beethoven, der nicht hören konnte und doch komponierte, in meinen Heften die Reaktionen von Elementen auszurechnen, auch wenn ich sie nicht vor mir hätte. Gerne hätte ich gespürt, wie mein Verstand immer schärfer wird und immer näher an die Lösungen von Problemen herankommt, bis schließlich das Ergebnis klar und sauber auf dem Papier steht.
Doch nach dem Abitur in Arnstadt – ich hatte das beste Abitur der Stadt – durfte ich nicht studieren. Mein Vater meinte, das sei nichts für Frauen, von den Auszeichnungen und meinem Fleiß ließ er sich nicht beeindrucken
. Die guten Noten, mein Erfolg in der Schule, dass ich seit langem jüngere Schüler in Mathematik unterrichtete, das war selbstverständlich – aber doch ein Privileg meiner Mädchenjahre. So ging ich im Labor arbeiten, so nah an meiner erträumten Zukunft wie möglich. Meine jüngeren Brüder durften studieren, der eine hat dann auch die geliebten Naturwissenschaften studierte, ist Chemiker geworden und Apotheker, der andere wurde Zahnarzt. Ich selbst durfte zwar nicht an die Universität, aber meine Töchter habe ich später genau wie den Sohn studieren geschickt.

(E.S., *1909. Meine Großmutter.)

 

(Fragebogen bei Isa mitgenommen)

Knieabwärts [Buenos Aires in Serie]

Von oben nach unten:

Ein Showtänzer auf Plaza Dorego, San Telmo, entdeckt im Publikum eine Freundin aus Frankreich und fordert sie spontan zum Tanz auf. Sie zieht sich nur schnell die Schuhe aus, dann tanzen sie Tango.

Die Farbe an den Beinen des gekreuzigten Jesus am Eingang der Kirche San Nicolás de Bari, Av. Santa Fe, sind von den vielen Händen derer, sie sich auf die Schienbeine und Füße stützen, während sie beten, abgeblättert, das Holz verfärbt und glatt.

Ein Aktionskünstler an der Ecke Defensa / Independencia, San Telmo.

Ausgediente Schaufensterpuppe auf den Mülltüten, die nachts abgeholt werden, Ecke Uruguay / Córdoba.

Noch ein Engel: Der auf der Säule an der Plaza Francia. Im Abflug.

?

(Nur 40 Fotos mit Bildunterschrift und eventuelle Textchen separat? Oder Bild-Text-Einheiten und für 40 Tage entsprechend auch Einheitsüberschriften? Oder total egal?
Andere wichtige Fragen kurz vor Mitternacht: Wohin ist das Anti-Juck-Zeug verschwunden, das ich dringend auf die schwellenden Mückenstiche an den Knöcheln, auf dem Handrücken und unter den Fußsohlen schmieren möchte? Warum niest die Frau auf der anderen Seite des Innenhofs dauernd und wann hört sie damit auf? Und könnten die Leute über und unter uns sich nicht ein wenig mit der Musik abstimmen?)

Halbes Schwein

Man merkt es Ju und Ja an, dass sie viel vorgelesen bekommen, viele Bücher angucken und dass ihre Eltern viel mit ihnen reden. Ihren Peter und der Wolf haben sie gut im Kopf, und auch die neuste Lektüre hinterlässt sichtbare Spuren, so zuletzt das wunderbare Bilderbuch Komm, Emil, wir gehn heim von Hans Traxler.
Beim Abendessen klärte mich Ju (3) auf: „Hühnchen kommt vom Huhn, die Wurst kommt vom Schwein und Fleisch kommt auch vom Schwein.“ Er dachte kurz nach. „Mami, essen wir auch Kühe?“ Seine Mutter erklärte, dass ja, dass Menschen Tiere und so auch Kühe essen, Steak zum Beispiel käme von der Kuh, das sei Rindfleisch.
Ju nickte und wendete sich wieder an mich, „Steak kommt von der Kuh“, informierte er mich. „Wir essen nämlich Tiere. Aber wenn wir ein Schwein essen, dann schneiden wir das vorher durch.“ Er dachte noch einmal nach. „Sonst quiekt das nämlich im Bauch.“