40 Tage Buenos Aires [36]

Tag 36, 22. März 2010. Junge Ärztin feiert ihr bestandenes Examen auf der Straße vor dem Krankenhaus, Ecke Av. Rodríguez Peña / Lavalle.

Initiationsrituale sind eine merkwürdige Sache, aber man kann sich das Prinzip ja erklären, der Neuling muss durch schwere Prüfungen, muss sich durch Scham an die neue Gruppe binden und mit Mutproben beweisen, dass er ihrer würdig ist. Und vielleicht kann man die Rituale, die einen Lebensabschnitt beenden, ja genauso verstehen, ist das Ende doch wiederum ein Anfang. Zu dem Verdoktorungsritual, das ich selbst mitgemacht habe, gehörte ebenfalls ein Moment des Zurschaustellens, eine leichte Form des Spotts, wenn der neue Doktor im Bollerwagen hockend durch die Stadt gezogen wird. Das Küssen der Figur auf dem zentralen Brunnen dann leitet sich wohl daraus ab, dass der ehrenwerte Akademiker, kaum in den höheren Stand gehoben, gleich mit einem Gesetz brechen soll, wohl um die neue Würde nicht allzu ernst zu nehmen. Das Erklimmen des Brunnens ist letztlich ganz aufregend und der Moment des Kusses ein besonderer. Man steht hoch über den applaudierenden Freunden, Verwandten und Kollegen samt Prüfern und drückt einer Metallfigur einen Kuss auf, vielleicht albern, aber dann erst zählt es wirklich, doch, das war unabhängig von den möglichen Ursprüngen des komischen Brauchs tatsächlich erhebend.
Hier wird das Ende des Studiums mit Ritualen begangen, die an Initiationsriten erinnern. Ich weiß von jungen argentinischen Ärzten, die nackt an Laternen auf der Hauptstraße gefesselt wurden, vor allem werden die jungen Akademiker allesamt nach der letzten Prüfung auf der Straße mit Ei und Mehl und anderen farbigen und klebrigen Lebensmittel beschmiert. Die erfolgreichen Absolventen der Universitäten erkennt man also daran, dass ihnen Ei aus den Haaren tropft und sie über und über mit Mehlkleister, Senf und Tomatensoße bedeckt sind. Sie werden direkt vor den Toren ihrer Institute von Kommilitonen und anderen Freunden solcherart geteert und gefedert und verbringen den restlichen Tag in diesem Aufzug. Bei der jungen Ärztin oben haben sie gerade erst angefangen, noch ginge das vielleicht als kleiner Küchenunfall durch, doch die Umstehenden waren mit Eiern und mehr Senf bewaffnet. Warum mit Lebensmitteln? Eine Theorie besagt, dass Ei und Mehl besonders gut kleben und nach einer Weile streng riechen, der Effekt also von Dauer ist. Die Eier-Mehl-Kruste scheint mir ja auch den Ausdruck „frisch gebacken“ zu versinnbildlichen, aber das ist natürlich eine Kurzschlussübersetzung aus dem Deutschen.

Heute Nachmittag war ich nach dem Spielplatz trotz der wenigen Tangos, die ich hier getanzt habe, neue Tangoschuhe kaufen. Meine alten Schuhe sind immer noch meine allerersten Tanzschuhe und sie werden nach 10 Jahren vor allem von gutem Willen zusammengehalten, und vielleicht ergibt sich ja doch nochmal die Gelegenheit, wieder länger Tango zu tanzen.
Ich habe – surprise – sehr lange gebraucht, um mich zu entscheiden, es aber noch vor Ladenschluss geschafft. Die Tangoleserinnen, von denen ich inzwischen weiß, werden nun eines wollen: Fotos! Leider lässt mich auf den letzten Metern dieser Reise die Technik im Stich, ich habe es zwar endlich geschafft, eines der beiden Bilder von gestern und die Absolventin oben hochzuladen, das zweite Foto will sich aber wieder nicht einstellen lassen. Die Fehlermeldung behauptet, es sei ein Serverproblem. Ich versuche es weiter und reiche Bilder nach, wollte sowieso noch eine Tangoserie posten.
Es gibt mit dem Tangoboom nicht wenig spezielle Tangoschuhgeschäfte, die besten scheinen aber sehr diskret zu sein. Für Percanto haben wir ja schon ganz zu Anfang im Laden Tango Brujo Trainingsschuhe gekauft, und dieser Laden verbarg sich in einer Privatwohnung im 10. Stock eines normalen Wohnhauses, kein Schild verriet draußen etwas von seiner Existenz. Heute fiel die Wahl auf den auf Damentangoschuhe spezialisierten Laden Comme il faut. (Link führt zu einem spärlichen Foto vom Innenraum und einem von der Passage.) Ein bisschen leichter als der erste Laden war er zu finden, denn in der Passage hing am 1. Stock ein kleines Hinweisschild mit nichts weiter als dem Namen. Der Laden besteht aus einem kleinen Raum, rechts geht es auf einen Balkon und in einen weiteren Raum, der Raum ist das Lager und auch auf dem Balkon stapeln sich die schlicht weißen Schuhkartons.
Das Parkett des Verkaufsraums ist mit einem quadratischen grauen Teppich fast vollständig abgedeckt, die probierenden Damen müssen auf dem Teppich bleiben und dürfen nicht aufs Parkett stöckeln. In U-Form stehen drei niedrige schwarze Bänke mit goldenen Beinchen im Rokoko-Schwung, an der vierten Seite ein großer Spiegel mit Goldrahmen. Der Raum ist voll, obwohl sich die meisten schneller entscheiden als ich, sind heute Nachmittag ständig vier bis zu zehn Frauen da, die Schuhe probieren, dazu Männer, die an der Wand neben der Eingangstür stehen und mehr oder weniger qualifizierte Kommentare abgeben, sowie die Verkäuferinnen, die uns betreuen. Alles ist wunderbar dekorativ und ein ziemliches Spektakel, leider hängen überall „Foto verboten“-Schilder, auf die ein begleitender Herr mit Canon um den Hals auch nachdrücklich hingewiesen wird. Auch mit dem Versprechen, damit Werbung zu posten, darf ich keine Bilder amachen, schade. Das Schuhekaufen selbst läuft wie folgt ab: Was man sucht, braucht man nicht zu erklären, es gibt ja nur Tangoschuhe. Ich werde nach meiner Schuhgröße gefragt, 39 oder 40, bekomme einen Platz auf der mittleren Bank zugewiesen und mir werden zwei Schuhe gebracht, um die Größe festzustellen. Welches Modell ist erst einmal egal, und ich kann sowieso nicht auf eines zeigen, was mir gefiele: Es sind überhaupt keine Schuhe ausgestellt, sie befinden sich alle entweder an den Füßen oder um die probierenden Kundinnen herum oder in Kartons nebenan. Es gibt kein Schaufenster, keine Regale, keine Ausstellung. Ich ziehe ein rot-schwarzes Paar in 39 an, die Verkäuferin findet es zu groß, nimmt das Paar in 40 gleich wieder mit und bringt mir 38. Ich wundere mich, 38 habe ich nun wirklich nie, aber probiere das nächste Beispielpaar in 38, blau-gold. Besser, stimmt. Ich stehe und gucke auf meine Zehen, die Inhaberin des Ladens wirft einen kritischen Blick auf meine Füße und ordert 37. Das ist albern, ich hatte mal 40/41 und inzwischen 39/40, aber 37? Doch ich spiele mit und bekomme sie an den Fuß, finde ihn aber zu eng und der Mittelzeh steht über, wenn ich das Gewicht auf das Bein lege. Die Inhaberin tendiert zu 37, ist aber auch mit 38 einverstanden. Dann kann es losgehen, Modelle in 38. Die Verkäuferin fragt auch weiterhin nicht nach meinen Vorstellungen, sondern kommt mit einem Stapel Kartons, öffnet einen nach dem anderen, zeigt und lässt mich probieren. Den rosa Schuh mit Rüsche und Schleife lasse ich ebenso unprobiert zurückgehen wie den mit dem Kilo Goldglitzer am Absatz, auch den orangefarbenen Lackschuh mit lila Riemen lasse ich aus. Ansonsten probier ich fast alles an, am liebsten mag ich ja immer schon die Tangoschuhe mit Mittelriemen oder gekreuzten Riemen, davon sind nicht viele dabei. Nach einer langen, langen Probierphase, in der ich auch mal auf einen Schuh einer anderen Kundin zeige – den? „Den gibts nur in 39“ – oder die anderen kkundigen Kundinnen klar Ablehnung oder Zustimmung formulieren – bei dem hier steht das eigentlich kaum vorhandene Überbein raus, der ist toll, der rote verlängert Dein Bein, der silber-blaue ist wunderschön, aber hast Du blaue Tangokleider? Der schwarze mit der echten Schleife verkürzt optisch, der blau-glitzernde ist mir selbst zu sehr Rummel, beim Lack-und-Silber-Schuh macht Percanto Halsabschneidegesten. Ich sortiere alle aus, die hinten offen sind, dafür sind meine Füße nicht gemacht, und alles was Pink oder Lila ist. Am Ende hab ich nur je einen mit gekreuzten Riemchen (rot-schwarz, normale Sandalenform, schwarzer Absatz mit rotem Ende) oder Mittelriemen (schwarz-gold), aber auch diese beiden werden es letztlich nicht, der mit den Kreuzriemen bietet nicht genug Halt für einen Tanzschuh und der andere fällt beim Publikum durch. Eine Venezolanerin probiert vor allem die Farben, die ich gleich aussortiere, und kauft schließlich gleich sieben Paar; eine ältere Argentinierin verlangt ein „schönes Paar“, weil sie morgen gefilmt wird; zwei Deutsche sind gemeinsam da, aber nur die eine probiert Schuhe, weil die andere bereits woanders Tangeschuhe gekauft hat, worüber sie sich nun ärgert; die graumelierte Argentinierin neben mir greift sich über die Ordnung der Verkäuferinnen hinweg immer meine Schuhe, findet dann aber die Absätze für ihr Alter zu hoch, „für Dich sind die toll, aber ich fall damit einmal hin und steh nie wieder auf“, lacht sie, ist jedoch offenbar eine sehr geübte Tänzerin; eine ganz in schwarz gekleidete Asiatin dreht sich wortlos auf metallfarbenen Absätzen vor dem Spiegel.
Schließlich verlasse ich den Laden mit zwei Paaren, beide sind vorne offen und aus Wildleder, der eine recht schlicht schwarz mit kupferfarbenen (huch! Kupfer! Sieht aber erstaunlich gut aus, und erstaunlich unauffällig) Riemen und Absatz, der andere ein klischeehafter Tangoschuh, schwarze Basis mit rotgeschwungenen Rändern und Riemen, der Absatz rot. Die Absätze sind sicher 2cm höher als die meiner alten Tangoschuhe, deren Absatz ich eigentlich immer für 7cm gehalten habe. Außerdem sind es Bleistiftabsätze statt des alten Barockabsatzes. Ich stehe sehr hoch auf wenig Grund. Vor der Tür fühle ich mich in meinen normalen flachen Straßensandalen klein und, trotz nettem Kleid, unelegant. Kleider machen Leute, Schuhe machen Tänzer.

Von der Symbolik des Raums

Bei der Arbeit wird, wie berichtet, gebaut. Ein glänzendes neues Zentrum für kleinere Geisteswissenschaften soll entstehen, in der Mitte zwischen den alten Gebäuden, hell, luftig, mit Bibliothek und Seminarräumen, mit Medienausstattung und Büros und an die alten Gemäuer angeschlossen. Für die Anschlusstelle wurde zunächst ein Teil unseres Gebäudes abgerissen und – zum Glück noch vorher – ein Teil der Mitarbeiter mitsamt ihrer Büros in andere Gegenden der Stadt ausgelagert.
Nun sollen die Kollegen ihre provisorischen Büros dort drüben wieder aufgeben, ein Teil soll in die alten, abgerissenen Trakte zurückkehren, ein anderer Teil die für uns bestimmten Räume im funkelnagelneuen Zentrum beziehen.

Das ist in vielerlei Hinsicht toll. Nicht zuletzt gibt es uns Geisteswissenschaftlern Gelegenheit nachzudenken, und dafür sind wir ja da. Nachdenken über den „spatial turn“, über Lotmans Raumtheorie, über Bourdieus Überlegungen zum symbolischen Raum. Wir können uns noch einmal die Annahme vergegenwärtigen, dass Raum nie einfach gegeben ist, sondern produziert wird. Räume sind kulturell konstituiert und symbolisch aufgeladen. Natürlich spricht der König vom Balkon aus zu den Unter-Gebenen, wer eine Grenze übertritt, verlässt einen Raum und wird ein anderer, von der Beletage aus kann man bequem auf den Pöbel hinabblicken und die Büros im Hauptflur strahlen Prestige aus, Hauptflur, Hauptperson, während wir unter dem Dach, die wir in den alten Schwesternzimmern hausen, den Habitus von Dienstboten nicht recht ablegen können. Über all dies sollte man wirklich dringend öfter nachdenken, und unser weiser Arbeitgeber gibts uns Gelegenheit dazu. Dafür sind wir zu Dank verpflichtet.
Die ausgelagerten Kollegen haben also umgehend ihre Ersatzbüros aufzugeben, sie sollen zum 1. März das neue Zentrum beziehen.
Vielleicht möchten Sie sich ein Bild vom Zentru
m machen (die Fotos sind von heute Nachmittag, 1. Februar), dieses neue Herzstück unseres Arbeitsplatzes befindet sich genau hier:



Es ist immer schön, wenn man sich darauf verlassen kann, dass in so einem großen Betrieb alle Handlungen und Anweisungen miteinander koordiniert sind, dass die eine Hand stets weiß, was die andere tut.
Und in puncto symbolischer Raum unterstreichen die neu geschaffenen Büros natürlich aufs Vortrefflichste die Bedeutung, die den Geisteswissenschaften in der Gesellschaft zugemessen wird.

Von den Alten lernen

Wenn man ein Überraschungsei geschenkt bekommt, dieses aber, da noch gute Lindt-Engel von Weihnachten übrig sind, ein paar Tage in der großen Umhängetasche herumträgt, macht das dem Ei erst mal nichts. Wenn man allerdings am dritten Tag auch das 1054 Seiten starke Sachwörterbuch der Literatur einpackt, dann gibt es in der Umhängetasche ein Problem. Ein Ei ist eine recht stabile Form, aber unter dem Druck von „Abbreviatur“ bis „Zynismus“ gibt auch ein tapferes Ei irgendwann nach. Die größten Schoko-Ei-Fragmente sind etwa fingernagelgroß: Ein klarer Sieg für das Lexikon. Doch muss man bei näherer Betrachtung den selbstzufriedenen Lexikon-Kraftprotz wohl an seine klassische Bildung erinnern, oder ihn an seine auf Antike oder Sprichwörter spezialisierten Fachkollegen verweisen: ein trügerischer Pyrrhus-Sieg! Das Ei ist hin, klare Sache, doch was hat das kluge Buch davon? Flecken. Die gehen doch nie mehr raus.
In Zukunft bitte etwas mehr Rücksichtnahme.

Kunst am Bau

Bei der Arbeit wird gebaut. Das gilt momentan auch, wenn man kein Maurer ist, bei uns Geisteswissenschaftlern wird jedenfalls gerade ein Gebäudeteil abgerissen und draußen wird planiert und ein anderes Gebäude zerbröselt und irgendwann soll dort ein neues Superdupergebäude entstehen, was an unseres angeschlossen wird.
Direkt hinter der provisorischen neuen Außenmauer aus weißen Ytong-Steinen sitzen Kollegen von mir in ihren Büros, so gut es geht nehmen sie die Baggerzähne hinter ihren Schreibtischen mit Humor. Manchmal fühlt es sich allerdings auch im dritten Stock nicht so an, als hätten die da draußen die Abrissbirne richtig justiert.

Von innen sieht der Gang, der an der Abrisskante endet, so aus – 9. November, ick hör Dir trappsen:


Zoom [Klicken aufs Foto vergrößert es jeweils noch mehr]:


Und plötzlich ist überall Kunst! Underground! Vor einem Fenster im Flur weiter vorne beispielsweise dies:


Nahaufnahme:


(Gut, der Kommentar „Anonyme Installation“, wenn kein Name dabei steht, ist ungefähr so sinn
voll wie der Untertitel „ohne Worte“ unter einem Cartoon ohne, nun ja, Worte.)
Nur wenig weiter den Flur runter geht es gleich weiter mit dieser Installation:


Was mag sie bedeuten? Das Schild verrät es gewiss:


Ok. Es ist doch nicht überall Kunst.

Sprachkenntnisse

Mein Chef ist ein von Haus aus vielsprachiger Schweizer, der auch weitere Fremdsprachen fließend beherrscht und außerdem eine binationale – und zweisprachige – Ehe führt. Zu seinem Hausstand gehört außer dem Ehepaar auch ein großer Amazonaspapagei. Wir sprachen heute kurz darüber, ob sich nach ihrem Umzug nach Deutschland inzwischen alle gut eingelebt hätten und, scherzhaft, ob der Papagei eigentlich Hochdeutsch spreche. Und welche Sprachen er überhaupt beherrsche?
Der Papagei ist natürlich zweisprachig aufgewachsen, er spricht Schweizerdeutsch und Spanisch. Hochdeutsch bisher nicht, und mein Chef habe es auch eine Zeitlang mit Portugiesisch versucht, aber er lerne es nicht richtig. Dabei sei es doch seine Muttersprache. Die des Papageis.

Entscheidungsträger

Seit etwa einem Jahr gehört zu meiner Arbeit auch, Personalentscheidungen zu treffen. Das heißt, dass ich Bewerbungen sichte, sortiere, beurteile, dass ich für mich entscheide und in einer Gruppe begründe, wen ich einladen will und wer sofort eine Absage bekommen soll. Wenn die Kandidaten kommen, um eine Art deutlich erweitertes Vorstellungsgespräch zu führen, sitze ich auf der anderen Seite des Tisches, lächele sie an, stelle ihnen Wasser hin, stelle Fragen, mache mir Notizen. Wenn wir hinterher diskutieren, habe ich erst Argumente für und gegen die einzelnen Kandidaten und meist ein Bauchgefühl und am Ende habe ich eine Stimme. Und dieses Ja oder Nein gebe ich zu Protokoll und entscheide so – nicht allein, zwar aber doch deutlich direkter als bei einer politischen Wahl, wo ich (nur) mein Kreuz auf einen Zettel setze. Alles ganz normal.
Dennoch wird es mir zwischendurch immer wieder bewusst, was ich da eigentlich tue. Dass ich mit meiner Meinung, meiner Stimme, über die berufliche und familiäre Zukunft von Menschen entscheide. Ich entscheide mit dieser Stimme ja nicht nur, wer unser neuer Kollege wird und mit wem ich nächsten Winter zusammenarbeite, sondern ich entscheide auch, ob jemand aus Spanien nach Deutschland zieht. Ob jemand den Sprung von seinem alten Berufsbild in eine neue Richtung schafft. Ob jemand nach seiner Rückkehr aus Mittelamerika eine schlecht bezahlte, aber doch für ein paar wenige Jahre sichere Stelle hat, oder ob es doch erst mal mit Honorarjobs weitergeht.
Wahrscheinlich ist es gut, sich das gelegentlich vor Augen zu halten, wenn man schnell und vielleicht voreilig die Tafel mit der schlechten B-Note zücken will. Und ich bin froh, dass es in meinem Beruf nicht üblich ist, diese Art von Entscheidungen alleine zu treffen. Trotzdem ist es ein merkwürdiges Gefühl, heute Nachmittag wieder einmal darüber entschieden zu haben, wer weiter Bewerbungen schreiben muss und wer sich ein Zimmer hier in der Provinz suchen sollte, weil wir bald eine Menge Arbeit für ihn haben. Und versuche mir vorzustellen, was die Kandidatin, auf die heute die Wahl gefallen ist, wohl gerade macht. Ich hoffe, sie steht zum Beispiel mit einem Glas Wein auf dem Balkon und ist mit sich und der Welt zufrieden.

Von der Relevanz der schönen Künste Oder Wie mir eine Gedichtanalyse das Leben rettete

Was ich so treibe, läuft gemeinhin unter brotloser Kunst, auch wenn ich selbst keine Kunst produziere, sondern nur Brotlosigkeit im Namen der Wissenschaft. Und der Zweifel nagt durchaus, nicht nur angesichts der sehr kleinen Sprünge, die wir uns leisten können, sondern immer wieder auch wegen der Relevanz dessen, womit man den Tag verbringt und das Leben. Wenn die Familienmitglieder Kindern auf die Welt helfen oder Krebs heilen oder Herzen weiter schlagen lassen, stellt sich die Frage, wem eigentlich damit geholfen ist, dass ich eine Erzählhaltung von einer anderen unterscheiden kann, von ganz allein. Ich bin schon sehr davon überzeugt, dass die Welt außer Brot und Gesundheit auch Kunst und Bildung braucht, dennoch meldet sich die Elsa Brändström in mir immer wieder zu Wort.
Nun träumte mir dies:
Nach einer langen, verworrenen Handlung musste ich mich an hellen Hanfseilen innen in einem Turm hochhangeln. Es war eng, überall lag Kalkstaub, der Weg nach oben war schief und kantig und der Tritt nicht fest. Von unten kamen weitere nach, ich durfte nicht stehenbleiben und steckenbleiben erst recht nicht – diese Angst vor dem Ersticken selbst im Traum noch. Endlich oben angekommen, weitete sich der Raum, glänzender Marmorboden und nur noch wenige Stufe zum Ort, an den ich gelangen sollte. Über diese Stufen waren Seile gespannt, die wie in einem Museum einige Bereiche absperrten, und auf dem Boden standen krumme Metalltrichter herum, die den Weg versperrten. Nach dem engen Aufstieg schienen die letzten Schritte kein Problem darzustellen, doch kaum schob ich zwei der Metalldinger mit dem Fuß zur Seite, kamen darunter in den Boden eingelassene Kontakte zum Vorschein, und in einem hyterischen Alarmheulen traten finster blickende Wachmänner in schwarzen Uniformen aus allen Richtungen auf mich zu. Offensichtlich hatte ich einen schweren Fehler begangen, alle starrten mich an, ich war gefangen und verloren. Meine Bitten um Entschuldigung wurden abgewiesen. Schließlich zeigte ein Oberaufseher mit einem Zeigestock auf mich, eine Chance bekäme ich, und auf ein Fingerschnippsen hin fuhr eine hell schimmernde Tafel aus der Decke herunter. Darauf erschienen vier Verse, daneben als kontextueller Hinweis ein Bild Heines. Wenn ich dieses Gedicht interpretieren könne, sei ich frei, sagte einer der Wachmänner, und nach einem kurzen Blick auf den Text winkte der strenge Chef ab, unlösbar sei die Aufgabe, und verschwand im hinteren Bereich. Dennoch begann ich, die vier Verse nach den Regeln der erlernten Kunst zu analysieren, suchte mit flackerndem Blick Strukturen und Motive, fand eine Verbindung zu Heine, versuchte in einem Akt der Verzweiflung, die Form auf den Inhalt zu beziehen. Als ich die Textanalyse abschloss und den Blick von den Worten auf der Tafel löste, sah ich die Gesichter der Wachleute aufgehellt, sie nickten und traten zurück. Ich hatte bestanden, meinen Fehler auf der Treppe damit ausgebügelt – ich war frei.
Und da soll noch einer sagen, wie lernten in unserem Elfenbeintürmchen nutzloses Wissen.

Füsch

Fangfrischer Singefisch („Morgen früh, wenn Gott will.“)

>

Des Internets wunderbarer Haus- und Hofastrologe hat mir mehrfach erklärt, dass das erwartete Fischlein gut zu uns passen würde, vor allem zum musischen Steinbockvater. (Wo mögen sich wohl ein Steinbock und ein Fisch treffen? In einem Bergsee?) Nun ist unser flinkes Fischlein aber ein Wassermann, was ich mit „egal, ist ja auch nass“ kommentierte und zurechtgewiesen wurde. Wassermänner seien Luftzeichen (oder?), LUFT; ach, diese Logik der Sternzeichen wird sich mir nie erschließen.


<


„Guck“, sagte meine Mutter, „sieht der nicht aus wie Baby B.?“ Quatsch, dacht
e ich. „Im Profil!“, sagte sie. Und sie hat Recht.


><(((°>

Aus meiner ergiebigsten Zitatfundgrube Schwangerenforum:
„Ich habe mich die ganze Nacht herumgewelst.“
Ach, Fischlein.

<

Glasbläserheringe
(dieses Mal als Trostfisch für einen ins Binnenland gezogenen Küstenbewohner)


für 12 Personen

3/4l Essig
1/2l Wasser
250g Zucker
zu einem Sud kochen (Zucker muss aufgelöst sein), abkühlen lassen.

20 Matjes ohne Kopf (750g)
375g rote Zwiebeln
150g Möhren
30g Ingwer

1/4 Stange Meerrettich
in 2cm Streifen, in Ringe resp. Scheiben schneiden.

Mit
3TL Piment (ganz)
4EL Senfkörner

6 Lorbeerblätter
in mehreren Lagen in einem großen Gefäß schichten.
Mit dem Sud aufgießen, alles muss mit Flüssigkeit bedeckt sein. Das Gefäß verschließen, mindestens etwa 2 Tage ziehen lassen.

Rezept von Mutti. Besonders beliebt bei Verwandtschaft aus dem Süden.

><(((°>

Stau


Ferienende, Semesterbeginn, Schwangerschaftshalbzeit, letzte Woche im alten Zuhause. Es staut sich ein bisschen, alles.
Überhaupt ist die letzten Wochen sehr viel passiert, zu viel und zu fordernd zum bloggen (anscheinend), klauende Kollegen und zickende Nachmieter, lauter Dinge, die man nicht dringend braucht, aber immerhin komme ich inzwischen wieder dazu, Belangloses zu schreiben, ein Anfang. Belanghaftes dann vielleicht auch wieder. Dann.

Heute habe ich 13 Kisten gepackt, einen Müllsack gefüllt und eine Alpapierkiste, Percanto hat zwei Kisten gepackt, die aber bestimmt ordentlicher als ich meine. Heute waren die Treppenhausmaler da und haben die Tür lackiert und mir Farbe verkauft, und der Möbeltransporterverleiher war da und hat die Größe des benötigten Wagens geschätzt und in den Kleiderschrank geguckt, zum Glück auf Percantos Seite, die ist ordentlicher. Nicht da war die Post, und die Zeitung auch schon wieder nicht. Nachsendeauftrag läuft aber erst ab nächster Woche, also kann ich unter „E abmelden“ und „Krankenkasse“ und „Techem“ auch „mal wieder bei der Zeitung anrufen“ schreiben.
Dann bin ich mit dem Rad, wo schon wieder die Gangschaltung kaputt ist (bevor ich die Sachen unauffindbar einpacke, sollte ich die Quittung der letzten Gangschaltung raussuchen), durch einen strahlend goldenen Vormittag gefahren und habe mich darauf gefreut, gleich das zappelnde Wesen in meinem Bauch zu sehen. Bei meiner Ärztin habe ich das Baby vermessen lassen, seine Händchen, Füße und seinen Bizeps bewundert und seine Zunge gesehen. Nieren hat es auch, und Rippen und Wirbel und ein gleichmäßig mit 150 Schlägen pulsierendes Herz. Großes Glück. Ganz großes Glück.
Heute hat sie nicht mehr wegen der geringen Gewichtszunahme geschimpft, und einen Bauch habe ich jetzt ja endlich, sie jedenfalls fand das auch.
Als ich kurz in der Uni war, waren dort neue Sachen ins Büro geschwemmt worden, Einlegeböden für Karteikästen und ein Simpsons-Radiergummi, aber noch immer nicht alles, was mir gehört. Ich habe noch schnell die Chefin vom Ganzen überfallen und sie um eine Einschätzung der Situation gebeten, schwierig, eigentlich gehörte der liebe Kollege in die Psychiatrie. Wir schlafen nochmal drüber. Im Gegenzug hat sie mich überfallen und gefragt, ob ich nicht ab Mittwoch auch die Einführung in spanische Linguistik übernehmen will. Ob sie vielleicht auch für französische Landeskunde jemanden braucht?, fragte ich, oder portugiesische Didaktik?, schon, aber Linguistik hätte ich doch wirklich studiert, und zwar – das war der Bezirz-Teil, klar – ausgezeichnet, sonst würde sie mich ja nicht fragen. Schwupp hatte ich zwei Einführungen im Arm und auch dafür bis morgen Zeit, mir das zu überlegen.
Jetzt habe ich Milchreis gekocht mit dem letzten Topf, den ganzen alten Kakao weggeworfen und weiter gepackt und sortiert und die Nachbarn gefragt, ob sie mit der Entscheidung weiter gekommen sind, ob sie unsere Küchenmöbel wollen (sind sie nicht), und Beate hinterhertelefoniert, ob sie ihren Herd zurückwollen, aber Beate ist nicht da.
Und da es jetzt streng auf Mitternacht zugeht, sollte ich vielleicht mal anfangen, mir zu überlegen, was genau ich 14 Wochen lang mit zwei verschiedenen Seminargruppen unternehmen will. Und was ich morgen Nachmittag den kleinen Erstsemestern repektive den Senioren am Vormittag dazu erzähle. Und das Buch lesen, was wir zuerst behandeln. Und mich mit der neuen Literaturwissenschaftseinführung vertraut machen.
Und mir, bevor ich dann abends zum Streichen in die neue Wohnung fahre, vielleicht besser aus dem Kopf schlagen, auch noch ein Fach zu unterrichten, mit dem ich mich seit 5 Jahren nicht befasst habe. Oder?