Initiationsrituale sind eine merkwürdige Sache, aber man kann sich das Prinzip ja erklären, der Neuling muss durch schwere Prüfungen, muss sich durch Scham an die neue Gruppe binden und mit Mutproben beweisen, dass er ihrer würdig ist. Und vielleicht kann man die Rituale, die einen Lebensabschnitt beenden, ja genauso verstehen, ist das Ende doch wiederum ein Anfang. Zu dem Verdoktorungsritual, das ich selbst mitgemacht habe, gehörte ebenfalls ein Moment des Zurschaustellens, eine leichte Form des Spotts, wenn der neue Doktor im Bollerwagen hockend durch die Stadt gezogen wird. Das Küssen der Figur auf dem zentralen Brunnen dann leitet sich wohl daraus ab, dass der ehrenwerte Akademiker, kaum in den höheren Stand gehoben, gleich mit einem Gesetz brechen soll, wohl um die neue Würde nicht allzu ernst zu nehmen. Das Erklimmen des Brunnens ist letztlich ganz aufregend und der Moment des Kusses ein besonderer. Man steht hoch über den applaudierenden Freunden, Verwandten und Kollegen samt Prüfern und drückt einer Metallfigur einen Kuss auf, vielleicht albern, aber dann erst zählt es wirklich, doch, das war unabhängig von den möglichen Ursprüngen des komischen Brauchs tatsächlich erhebend.
Hier wird das Ende des Studiums mit Ritualen begangen, die an Initiationsriten erinnern. Ich weiß von jungen argentinischen Ärzten, die nackt an Laternen auf der Hauptstraße gefesselt wurden, vor allem werden die jungen Akademiker allesamt nach der letzten Prüfung auf der Straße mit Ei und Mehl und anderen farbigen und klebrigen Lebensmittel beschmiert. Die erfolgreichen Absolventen der Universitäten erkennt man also daran, dass ihnen Ei aus den Haaren tropft und sie über und über mit Mehlkleister, Senf und Tomatensoße bedeckt sind. Sie werden direkt vor den Toren ihrer Institute von Kommilitonen und anderen Freunden solcherart geteert und gefedert und verbringen den restlichen Tag in diesem Aufzug. Bei der jungen Ärztin oben haben sie gerade erst angefangen, noch ginge das vielleicht als kleiner Küchenunfall durch, doch die Umstehenden waren mit Eiern und mehr Senf bewaffnet. Warum mit Lebensmitteln? Eine Theorie besagt, dass Ei und Mehl besonders gut kleben und nach einer Weile streng riechen, der Effekt also von Dauer ist. Die Eier-Mehl-Kruste scheint mir ja auch den Ausdruck „frisch gebacken“ zu versinnbildlichen, aber das ist natürlich eine Kurzschlussübersetzung aus dem Deutschen.
Heute Nachmittag war ich nach dem Spielplatz trotz der wenigen Tangos, die ich hier getanzt habe, neue Tangoschuhe kaufen. Meine alten Schuhe sind immer noch meine allerersten Tanzschuhe und sie werden nach 10 Jahren vor allem von gutem Willen zusammengehalten, und vielleicht ergibt sich ja doch nochmal die Gelegenheit, wieder länger Tango zu tanzen.
Ich habe – surprise – sehr lange gebraucht, um mich zu entscheiden, es aber noch vor Ladenschluss geschafft. Die Tangoleserinnen, von denen ich inzwischen weiß, werden nun eines wollen: Fotos! Leider lässt mich auf den letzten Metern dieser Reise die Technik im Stich, ich habe es zwar endlich geschafft, eines der beiden Bilder von gestern und die Absolventin oben hochzuladen, das zweite Foto will sich aber wieder nicht einstellen lassen. Die Fehlermeldung behauptet, es sei ein Serverproblem. Ich versuche es weiter und reiche Bilder nach, wollte sowieso noch eine Tangoserie posten.
Es gibt mit dem Tangoboom nicht wenig spezielle Tangoschuhgeschäfte, die besten scheinen aber sehr diskret zu sein. Für Percanto haben wir ja schon ganz zu Anfang im Laden Tango Brujo Trainingsschuhe gekauft, und dieser Laden verbarg sich in einer Privatwohnung im 10. Stock eines normalen Wohnhauses, kein Schild verriet draußen etwas von seiner Existenz. Heute fiel die Wahl auf den auf Damentangoschuhe spezialisierten Laden Comme il faut. (Link führt zu einem spärlichen Foto vom Innenraum und einem von der Passage.) Ein bisschen leichter als der erste Laden war er zu finden, denn in der Passage hing am 1. Stock ein kleines Hinweisschild mit nichts weiter als dem Namen. Der Laden besteht aus einem kleinen Raum, rechts geht es auf einen Balkon und in einen weiteren Raum, der Raum ist das Lager und auch auf dem Balkon stapeln sich die schlicht weißen Schuhkartons.
Das Parkett des Verkaufsraums ist mit einem quadratischen grauen Teppich fast vollständig abgedeckt, die probierenden Damen müssen auf dem Teppich bleiben und dürfen nicht aufs Parkett stöckeln. In U-Form stehen drei niedrige schwarze Bänke mit goldenen Beinchen im Rokoko-Schwung, an der vierten Seite ein großer Spiegel mit Goldrahmen. Der Raum ist voll, obwohl sich die meisten schneller entscheiden als ich, sind heute Nachmittag ständig vier bis zu zehn Frauen da, die Schuhe probieren, dazu Männer, die an der Wand neben der Eingangstür stehen und mehr oder weniger qualifizierte Kommentare abgeben, sowie die Verkäuferinnen, die uns betreuen. Alles ist wunderbar dekorativ und ein ziemliches Spektakel, leider hängen überall „Foto verboten“-Schilder, auf die ein begleitender Herr mit Canon um den Hals auch nachdrücklich hingewiesen wird. Auch mit dem Versprechen, damit Werbung zu posten, darf ich keine Bilder amachen, schade. Das Schuhekaufen selbst läuft wie folgt ab: Was man sucht, braucht man nicht zu erklären, es gibt ja nur Tangoschuhe. Ich werde nach meiner Schuhgröße gefragt, 39 oder 40, bekomme einen Platz auf der mittleren Bank zugewiesen und mir werden zwei Schuhe gebracht, um die Größe festzustellen. Welches Modell ist erst einmal egal, und ich kann sowieso nicht auf eines zeigen, was mir gefiele: Es sind überhaupt keine Schuhe ausgestellt, sie befinden sich alle entweder an den Füßen oder um die probierenden Kundinnen herum oder in Kartons nebenan. Es gibt kein Schaufenster, keine Regale, keine Ausstellung. Ich ziehe ein rot-schwarzes Paar in 39 an, die Verkäuferin findet es zu groß, nimmt das Paar in 40 gleich wieder mit und bringt mir 38. Ich wundere mich, 38 habe ich nun wirklich nie, aber probiere das nächste Beispielpaar in 38, blau-gold. Besser, stimmt. Ich stehe und gucke auf meine Zehen, die Inhaberin des Ladens wirft einen kritischen Blick auf meine Füße und ordert 37. Das ist albern, ich hatte mal 40/41 und inzwischen 39/40, aber 37? Doch ich spiele mit und bekomme sie an den Fuß, finde ihn aber zu eng und der Mittelzeh steht über, wenn ich das Gewicht auf das Bein lege. Die Inhaberin tendiert zu 37, ist aber auch mit 38 einverstanden. Dann kann es losgehen, Modelle in 38. Die Verkäuferin fragt auch weiterhin nicht nach meinen Vorstellungen, sondern kommt mit einem Stapel Kartons, öffnet einen nach dem anderen, zeigt und lässt mich probieren. Den rosa Schuh mit Rüsche und Schleife lasse ich ebenso unprobiert zurückgehen wie den mit dem Kilo Goldglitzer am Absatz, auch den orangefarbenen Lackschuh mit lila Riemen lasse ich aus. Ansonsten probier ich fast alles an, am liebsten mag ich ja immer schon die Tangoschuhe mit Mittelriemen oder gekreuzten Riemen, davon sind nicht viele dabei. Nach einer langen, langen Probierphase, in der ich auch mal auf einen Schuh einer anderen Kundin zeige – den? „Den gibts nur in 39“ – oder die anderen kkundigen Kundinnen klar Ablehnung oder Zustimmung formulieren – bei dem hier steht das eigentlich kaum vorhandene Überbein raus, der ist toll, der rote verlängert Dein Bein, der silber-blaue ist wunderschön, aber hast Du blaue Tangokleider? Der schwarze mit der echten Schleife verkürzt optisch, der blau-glitzernde ist mir selbst zu sehr Rummel, beim Lack-und-Silber-Schuh macht Percanto Halsabschneidegesten. Ich sortiere alle aus, die hinten offen sind, dafür sind meine Füße nicht gemacht, und alles was Pink oder Lila ist. Am Ende hab ich nur je einen mit gekreuzten Riemchen (rot-schwarz, normale Sandalenform, schwarzer Absatz mit rotem Ende) oder Mittelriemen (schwarz-gold), aber auch diese beiden werden es letztlich nicht, der mit den Kreuzriemen bietet nicht genug Halt für einen Tanzschuh und der andere fällt beim Publikum durch. Eine Venezolanerin probiert vor allem die Farben, die ich gleich aussortiere, und kauft schließlich gleich sieben Paar; eine ältere Argentinierin verlangt ein „schönes Paar“, weil sie morgen gefilmt wird; zwei Deutsche sind gemeinsam da, aber nur die eine probiert Schuhe, weil die andere bereits woanders Tangeschuhe gekauft hat, worüber sie sich nun ärgert; die graumelierte Argentinierin neben mir greift sich über die Ordnung der Verkäuferinnen hinweg immer meine Schuhe, findet dann aber die Absätze für ihr Alter zu hoch, „für Dich sind die toll, aber ich fall damit einmal hin und steh nie wieder auf“, lacht sie, ist jedoch offenbar eine sehr geübte Tänzerin; eine ganz in schwarz gekleidete Asiatin dreht sich wortlos auf metallfarbenen Absätzen vor dem Spiegel.
Schließlich verlasse ich den Laden mit zwei Paaren, beide sind vorne offen und aus Wildleder, der eine recht schlicht schwarz mit kupferfarbenen (huch! Kupfer! Sieht aber erstaunlich gut aus, und erstaunlich unauffällig) Riemen und Absatz, der andere ein klischeehafter Tangoschuh, schwarze Basis mit rotgeschwungenen Rändern und Riemen, der Absatz rot. Die Absätze sind sicher 2cm höher als die meiner alten Tangoschuhe, deren Absatz ich eigentlich immer für 7cm gehalten habe. Außerdem sind es Bleistiftabsätze statt des alten Barockabsatzes. Ich stehe sehr hoch auf wenig Grund. Vor der Tür fühle ich mich in meinen normalen flachen Straßensandalen klein und, trotz nettem Kleid, unelegant. Kleider machen Leute, Schuhe machen Tänzer.