Juni

Wenn die meisten Freunde Wissenschaftler oder Freiberufler sind, scheitern abendliche Verabredungen nicht mehr daran, dass jemand schon „was vor“ hat, sonderndass alle „noch arbeiten“ müssen. Gestern, kinderfreier Samstagabend, haben wir es trotzdem geschafft. Vier müde erwachsene Leute um einen Tisch, nur eine kam kam gut eine Stunde später nach, „bist Du fertig geworden?“, „Nein, aber mein heutiges Pensum geschafft.“ Eine Weile geht es noch um die aktuellen Aufgaben, wir hängen gedanklich noch am Schreibtisch, an der Deadline oder am beängstigenden Berg des Großprojekts, dann entspannen wir langsam. Ein Sommerabend draußen, sollte man viel öfter haben, morgen soll es gewittern, hoffentlich ist der Sommer dann nicht schon vorbei. Pizza ohne Rucola, aber die Tomaten auf den Crostini essen wir mit, lebe wild und gefährlich. Was kann man eigentlich noch essen? Erdbeeren kann man nicht schälen, aber essen muss man sie, ohne Erdbeeren geht es nicht, da sind wir uns einig. Rhabarber, sagt einer, oh, Rhabarberkuchen, ja, „gibt es schon Rhabarber?“, fragt er, „die Rhabarberzeit ist um“, sagt sie, und wir gucken alle einen Moment ins Leere, betreten, keiner von uns hat dieses Jahr Rhabarber gegessen, vorbei, verpasst.

Gefunden

Den Nachmittag haben Baby B und ich großen und etwas wilden Garten des Hauses verbracht, trotz des schönen Wetters waren wir ganz allein, nur das Nachbarschaf war auch draußen. Zum ersten Mal seit 2,5 Jahren habe ich ein ganzes Kapitel lesen können, während ich mit Kind unterwegs war, denn er saß zufrieden im Sandkasten, baggerte und schichtete Steine um, stromerte durch unseren und die beiden Nachbargärten und holte sich ab und zu eine Erdbeere ab. Ein bisschen Ballschieß auf der Klee- und Gänseblümchenwiese, dann haben wir dieselben Gänseblümchen gepflückt und – auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin – ihm einen Kranz daraus gebunden. Bei dem vielen Klee musste ich an den Sommer vor nun 3 Jahren denken, da hatte ich mit einem Vorabexemplar meiner Diss auf einem niedrigen Mäuerchen auf dem Campus gesessen und auf meinen Doktorvater gewartet. Um mich herum ein Meer aus Klee, ich zupfte gedankenverloren ein wenig daran herum und fand, kaum suchend, direkt neben mir vier vierblättrige Kleeblätter. Kurz darauf bekam ich die erwünschte Note für meine Doktorarbeit, bestand mit der gleichen Note die Disputation und hielt in der gleichen Woche einen positiven Schwangerschaftstest in der Hand, Baby B. Das vierte vierblättrige Kleeblatt schenkte ich meiner Freundin und Kollegin. Sie hat ihre Habil glänzend bestanden.
Vierblättrigen Klee gibt es bestimmt nur an dieser Stelle vor dem Prüfungsamt, dachte ich heute im Garten, Glücksbringer wachsen dort, wo sie gebraucht werden, und da sind ja leider letztes Jahr die Bagger durchgegangen. Ich beugte mich dennoch zum Kleeteppich unter mir und fand, direkt neben meinem Fuß, ein Vierblättriges. Nur eines.
Jetzt bin ich gespannt.

Mehr Rhetorik!

Gestern war schon der zweite kinderfreie Abend die Woche, und nachdem wir Montag bei Rosemarie Tietze und Tolstoi in der wunderbaren neuen Literaturreihe „neu_übersetzt“ waren, gingen wir gestern Billard spielen. In der Kneipe lief Championsleague, und ich gewann wie Schalke 3:1. Highlight des Abends waren aber die Kommentare der Sky-Reporter: Sammer sprach vor dem Spiel von „nerval“, jemand war, glaube ich, in einer „nerval schwierigen Situation“ (muss es nicht „nervesk“ heißen?), und dann hörten wir während des Spiels (der Name des Kommentators wurde leider nicht mehr eingeblendet) ein großartiges Zeugma, eines der schönsten, die mir seit langem begegnet sind:
„Schalke spielt vorne mit Mut und Raul und Farfán.“

Wundervoll. Ich nehme es gleich in meine Beispielliste rhetorischer Figuren. Was für ein hinreißendes Zeugma, Fußball, welch Quell der Freude!

Kein Kavaliersdelikt

Diese Plagiatsgeschichte ist mir so wichtig, dass ich hier bisher nichts dazu gesagt habe und auch jetzt nichts zur Sache selbst – die mir sehr klar zu sein scheint – sagen will. Klingt wohl widersprüchlich. Aber mir ist die Angelegenheit so ernst, dass ich nicht mal Freude an den teilweise großartigen Wortspielen habe. Und es macht mich so wütend, die Sache selbst und viele der Reaktionen auch, dass ich inzwischen nur noch selektiv dazu lese (und das Gute bookmarke für unaufgeregtere Momente). Als bei Anne Will gestern in der Anmoderation gesagt wurde, darüber könne man diskutieren, sagten der Liebste und ich gleichzeitig „nein“ und beschlossen, lieber einen Roman zu lesen (aber nicht Axolotl Roadkill).
Die Persönlichkeit des betreffenden Herrn und sein politisches Amt sind mir erst mal ziemlich egal. Es geht mir nur um die wissenschaftliche Leistung und die (faktische und moralische) Legitimation seines Titels. Ich wünsche mir eigentlich nur, dass die Uni (ein Gremium aus Wissenschaftlern auf Grundlage von Prüfungsordnungen und fachlichen Maßstäben, kein politischer Untersuchungsausschuss) ein ordentliches Verfahren in dieser Sache durchführt und dann die entsprechenden Konsequenzen zieht. Ohne politisches Geschiebe von der einen und Gezerre von der anderen Seite. Ohne Häme. Wenn dieses Verfahren entschieden ist, mag die Politik schauen, ob Urteil und bekleidetes Amt miteinander vereinbar sind. Das ist mir dann erst mal ziemlich egal. Wissenschaftliche Redlichkeit ist mir nicht egal. Plagiate sind mir nicht egal.
Ich habe letztes Jahr aus einem einzigen Seminar des Grundstudiums fünf junge Plagiatoren gefischt und ihnen Kurs, Prüfungsleistung und Punkte aberkannt. Wenn nun Nachsicht geübt wird aufgrund irgendeiner dieser mauen Ausreden, die nun in der Presse ebenso zirkulieren wie sonst in unseren Sprechstunden (Versehen. Vergessen, die Quellenangabe zu übertragen. Technischer Defekt. Nicht gewusst, dass man das nicht darf. So viel war das ja nicht. Hätte man ja auch selbst drauf kommen können. Irgendwo wurde doch irgendeine Angabe gemacht. So gut exzerpiert, dass es gar nicht mehr fremd erschien und dann irgendwie wörtlich in den Text geriet.*), wenn also diese Ausreden in diesem speziellen Fall, in dem alles ein bisschen größer und publiker ist, auf einmal ziehen und eine breite Grauzone eröffnen – dann stehen wir an der universitären Basis mit unserem ständigen Appell an die wissenschaftliche Redlichkeit ganz schön dumm da. Ich werde, egal wie diese Sache ausgeht, trotzdem zu meinen Maßstäben stehen. (Auch wenn ich sie dann mit jedem Studierenden neu ausdiskutieren muss.) Aber es würde dem, wofür die Universität meines Erachtens nach immer noch steht, nicht gerade dienen. Im Gegenteil.

(*bei uns bisher nicht gehört: die Ausrede „das ist doch alles nur politisch motiviert“)

Umziehen als Lebensform

Es stand glaube ich in diesem schön gestalteten Umzugsbuch – im Schnitt zieht jeder Deutsche 5x in seinem Leben um.
Klar, damit das mit dem Durchschnitt hinkommt, braucht man neben dem Menschen, der z.B. auf seinem elterlichen Bauernhof geboren wird und diesen irgendwann übernimmt und erst viele Jahre später aufs Altenteil im Westteil des Geländes zieht (zählt das als Umzug?), auch diejenigen, die entsprechend häufiger umziehen. Marine-Kinder gehörten bei uns in der Schule dazu, alle 2 Jahre ein neuer Stützpunkt für den Papa und ein Umzug für alle. Ich gehöre auch zu denen, die regelmäßig umziehen, damit im Mittel der Deutschen dann die Fünf rauskommt. In nun knapp dreieinhalb Dekaden Leben bin ich gerade zum neunten Mal umgezogen, Umzüge innerhalb der Auslandszeit nicht mitgerechnet, und dabei waren die Schuljahre stabil: Von der 1. bis zur 13. Klasse kein einziger Umzug! In den übrigen Jahren ist die Frequenz entsprechend höher. Da zahlt es sich aus, wenn man etwas langsam im Einrichten ist: Wo nichts an der Wand hängt, muss auch kein gerade erst gebohrtes Dübelloch wieder zugemoltofillt werden. Unpraktisch dagegen, dass der Berg Zeug immer weiter wächst und die Möbel langsam massiver werden – die Böcke mit Holzplatte wurden beispielsweise gerade durch einen geerbten, geräumigen, echten Schreibtisch ersetzt. Unpraktisch auch, dass ich die Neigung habe, immer oben zu wohnen, jetzt wieder in den Wipfeln der höchsten Bäume. „Es gibt doch so schöne Parterre-Wohnungen“, sagte der Möbelpacker, als er die Waschmaschine durchs Treppenhausfenster wuchtete. „Aber man will doch mal ein Eigenheim haben, vielleicht im Grünen“, sagen alle jungen Bankkauffrauen, die mir Bausparverträge verkaufen wollen, die ich stets dankend ablehne, da ich nicht weiß, wo ich mal leben werde, und das noch länger nicht. „Irgendwann will man doch bauen“, insistieren sie, geschätzte 10 Jahre jünger als ich, und berichten halb ratlos, halb enthusiastisch von ihrem Häuschen in einem der Dörfer umzu, und mit „irgendwann“ meinen sie „schon längst“. Inkompatible Welten. Ich habe ein Buch geschrieben, ich habe einen Sohn bekommen. Das Haus müssen andere bauen. Ich ziehe um.

Veranstaltungshinweis: Alissa Walser und Pablo de Santis

Morgen Abend, also Montag, 27. September 2010, unterhalte ich mich ab 20 Uhr im Literaturhaus Frankfurt mit der deutschen Autorin Alissa Walser und dem argentinischen Schriftsteller Pablo de Santis. Wir werden sicher über ihre Bücher und besonders ihre neusten Romane sprechen, Am Anfang war die Nacht Musik bzw. El Enigma de París / Das Geheimnis von Paris, vor allem soll es aber um die Erfahrungen der beiden als Stadtschreiber im jeweils anderen Land gehen. Im Rahmen des Programms Rayuela war Alissa Walser für einen knappen Monat in Misiones in Nordargentinien, Pablo de Santis ist noch in Frankfurt. Ich bin gespannt, was (sich) die beiden zu erzählen haben.
Das Literaturhaus sieht sehr imposant aus und hört sich bei den von dort übertragenen Veranstaltungen auch so an.
Es gibt bestimmt noch Karten.