Tauschhandel für Fortgeschrittene

Sachen tauschen, die man hat, ist ja ziemlich einfach. Wegen seiner Nähe zu „Jüdisch Pokern“ (mit der Fortgeschrittenenvariante „Jüdisch Mäxchen“) ist aber das Tauschen mit Dingen, die man nicht hat, viel toller.
Ich meine keine Spekulationen auf irgendwelche Kurse oder Goldwerte, damit kenn ich mich nicht aus. Ich kann nur Zugfahren, und im ICE von Süd nach Nord Gesprächen zuhören zwischen Angestellten im Schienenfernverkehr (aka Schaffnern) und Reisenden:In der Sitzreihe neben mir hockt eine junge Frau, Knie angezogen, auf dem Tischchen balanciert ein Laptop, mit dem sie über Kopfhörer verbunden ist. Sie hat einen dunklen, wuscheligen Pferdeschwanz, oder was davon übrig ist, denn die meisten Strähnen haben sich aus dem bändigende Haargummi gewunden und werden auf den Weg über Schultern, Rücken, Brust nur von Ohren, Kopfhörerkabeln, Schal aufgehalten. Was sie am Computer schreibt und schiebt sieht nach einer Powerpoint-Präsentation aus, oder vielleicht entwirft sie auch das Design für irgendetwas ganz anderes. Sie tippt, hört Musik, guckt konzentriert auf den Bildschirm, schiebt darauf etwas hin und her, tippt, wippt die ganze Zeit mit dem Fuß, lacht laut und zufrieden auf, zappelt mit der Hand, tippt, strahlt.
„Personalwechsel, die Fahrscheine bitte.“
Der rotblonde Schaffner wendet sich ihr zu, sie stöpselt die Ohren aus, hält ihr Portemonnaie geschlossen in der Hand, lächelt den Schaffner an: „Haben Sie vielleicht eine Steckdose für mich?“
Er zieht die Luft durch die Zähne. „Eine Steckdose? Nein, tut mir leid. Steckdosen sind leider aus. Die habe ich heute schon alle rausgegeben.“
Sie lacht, wedelt mit der Hand, zeigt auf ihren Laptop: „Nein, ich meine hier… also nicht ob Sie selbst,… ob es hier wohl eine gibt?“
Er hebt bedauernd die Schultern. „Nein, Steckdosen für Einzelplätze hab ich leider nicht mehr. An den Tischen hätte ich eine für Sie gehabt. Aber hier – alle weg, tut mir leid.“
„Naja, schade.“ Sie hält ihm die Fahrkarte hin. „Hier. Ich muss Ihnen aber gleich sagen, dass ich meine Bahncard nicht dabei habe.“
Er nimmt die Fahrkarte, stempelt, lächelt sie an. „Ich habe keine Steckdose für Sie, Sie haben keine Bahncard für mich. Das ist dann so in Ordnung.“

ausgehandelt

Gestern habe ich mit e13Kiki ein Bier (ungekühlt) gegen ein Königreich (ungekühlt) getauscht. Sie hat zwar nicht gesagt, ob bei dem Königreich auch eine halbe Prinzessin dabei ist, ich finde dennoch, es war ein guter Tausch. Zumal Zimmertemperatur bei Bier wesentlich unangenehmer ist als bei Königreichen.

Wohl ein Vogel [oder: Warum ich Skypen mag]

„[…]
[16.12.2007 20:18:56] Neiki : gute seite, danke. muss ich mal mit zeit durchwühlen
[16.12.2007 20:19:22] Percanta : Zeit? Wasn das?
[16.12.2007 20:19:51] Neiki : das was so schnell verfliegt
[16.12.2007 20:19:57] Neiki : also wohl ein vogel
[16.12.2007 20:19:57] Percanta : ah
[16.12.2007 20:20:01] Percanta : verstehe
[16.12.2007 20:20:14] Percanta: werde mal Sonnenblumenkerne um den Computer streuen
[16.12.2007 20:20:21] Percanta : damit sie etwas länger bleibt
[16.12.2007 20:21:01] Neiki : zeitknödel aufhängen
[16.12.2007 20:21:14] Percanta: ja, vergess ich immer
[16.12.2007 20:21:16] Percanta : und das rächt sich dann
[16.12.2007 20:21:44] Neiki
: ich kenn das
[…]“

Nicht eigentlich


Das nennt man nicht eigentlich schlafen,

wenn man stundenlang wach ist.
Das nennt man nicht eigentlich Tiefe,
wenn das Gedachte nur flach ist.
Das nennt man nicht eigentlich Händel,
wenn die Kantate von Bach ist.
Das nennt man nicht eigentlich jauchzen,

wenn das letzte Wort „Ach“ ist.

Das nennt man nicht eigentlich feiern,
wenn das Geburtstagskind fort ist.

Heute wäre er 70 geworden.
Robert Gernhardt, *13. Dezember 1937,
† 30. Juni 2006.

[Aus „Später Spagat“. RG auch bei Isa]

Jasper

Heute Nacht ist er geboren, um 4.45 Uhr, während ich neben seinem schlafenden Brüderchen lag und gerade (um 4.47) auf den Wecker seiner Eltern schaute. Ich hatte ‚Rufbereitschaft‘, wenn es losginge würden sie mich anrufen, um J. zu hüten. Am Morgen hatten wir noch mit der kugelrunden Mutter Geburtstag gefeiert, die meinte, irgendwas täte sich, dableiben sollte ich aber nicht, bisher sei ja alles Fehlalarm gewesen, außerdem fände sie weder gemeinsam Geburtstag noch den 13. richtig toll – es würde also bestimmt noch dauern.
Um halb 3 klingelte mein Handy, das seit sechs Wochen nie ausgeschaltet und immer in Reichweite ist, so lag es auch heute Nacht neben dem Wecker. Da ich anders als andere Familienmitglieder keine Rufbereitschaftsroutine habe, erst eine gute Stunde im Bett war und gerade in der ersten Tiefschlafphase seit zwei Tagen, reagierte ich unsouverän: Zuerst stellte ich den Wecker aus. Beim erneuten Klingeln klappte ich das Handy auf, klickte mich durch alle Programme und stellte auch die Weckfunktion am Telefon aus. Dann legte ich das Handy zur Seite, seufzte über die kurze Nacht und schaute auf die Uhr – halb 3 – – – um sofort zu realisieren, dass es natürlich nicht der Wecker war, sondern der lang erwartete Anruf, also mit zitternden Fingern den werdenden Vater zurückgerufen, ja, bitte kommen, Fruchtblase ist schon gesprengt. Beim Telefonieren Schlafanzug gegen Hose und Strickjacke ausgetauscht und in die Stiefel gestiegen, Percanto gebeten, mir ein Taxi zu rufen und zugleich schnell noch ein paar Dinge wie Kontaktlinsen in die fertig gepackte „Kliniktasche“ geworfen. Heute Vormittag entdeckte ich, dass ich sowieso ja alles Wichtige vorgepackt, in der Nacht aber so sinnvolle Dinge wie meine Federtasche und zwei Paar Handschuhe dazugelegt habe.

Der Taxifahrer wollte erst „noch mal anhalten, damit Sie sich in Ruhe sortieren können“ und verdoppelte beim Stichwort „Geburt“ plötzlich die Geschwindigkeit, das Haus war dunkel, aber alle Türen standen offen, um den kleinen großen Bruder nicht zu wecken. Papa gedrückt, er ist ins wartende Taxi gesprungen und seiner Frau ins Krankenhaus hinterhergefahren. Ich habe mir in der dunklen Wohnung mein Lager hergerichtet und lag dann mit Herzklopfen da und lauschte und wartete. J. wurde zwei Mal kurz wach, ließ sich aber durch Streicheln der entgegengestreckten Hand und leises Summen beruhigen. Zwischendurch habe ich auch geschlafen und beim zweiten Trösten gemerkt, dass ich, den Kopf ans Gitterbett gelehnt, längere Zeit statt seines Ärmels die Stoffmaus kraulte. Eigentlich hatte ich mich auf einen langen Tag Warten eingestellt, aber schon um kurz nach 6 schlich sich der nun zweifache Vater in die Wohnung, zerzaust und glücklich. Jasper.
Das Brüderchen erwachte kurz darauf, unterhielt sich mit Papa und Stofftieren, „Hallo, alles dunkel“, „Schnuller weg, Maus besser küssen“, animierte zum Singen „Papi Schafe hüt?“ und fand es unglaublich komisch, dass ich schon da war. Und zwar mit „Schlafanzug an!“
Zum Frühstück in der Küche zwischen all den Geburtstagskerzen und Karten von gestern kam auch der Nachbar von oben, jetzt also, endlich. Mutter und Babylein sind noch im Krankenhaus, so wurde der große Bruder stellvertretend bewundert, alle ergriffen, bleich und ein wenig sprachlos. Mit J. auf dem Arm dann eine Weile am Fenster gestanden und geschaut, wie es hell wurde draußen.
Auf dem Heimweg sind mir lauter ahnungslose Menschen begegnet und drei Schornsteinfeger in vollem Ornat.
Morgen gucke ich mir das Menschlein an; Vater und Sohn sind jetzt mit dem Fahrrad in die Klinik gefahren. „Geht und tragt es in die Welt“, sagte er, und das tue ich, glücklich, müde, gerührt.
Willkommen, kleiner Jasper!

¿Parlez-vous Portañol?

Der immer und mit allen heftig flirtende Herr an der Bibliotheks-Theke betrachtet meinen Ausweis. „Nun müssen Sie mir aber doch sagen, wie man Ihren Namen ausspricht.“
Eine meiner meistgewünschten Zugaben, also spreche ich drei Mal meinen Namen vor, der Herr ist sichtlich fasziniert und spricht nach.
„Auf dem Ausweis fehlen Sonderzeichen, die Ihnen Hinweise zu Aussprache geben würden, das N ist eigentlich ein Ñ, also etwa [nj].“
Soso. Aha.
„Ja, und woher kommt dieser Name?“
„Der letzte Teil des Namens ist argentinisch.“
Der Herr kokettiert noch mehr, „ach, das ist ja toll. Und warum sprechen Sie jetzt nicht Portugiesisch?“
„Das hat verschiedene Gründe. Erstens macht es dieses Gespräch einfacher, wenn ich mein Anliegen nicht auf Portugiesisch erkläre. Und zweitens ist Portugiesisch auch für Argentinien nicht unbedingt erste Wahl, üblicherweise bevorzugt man dort Spanisch.“
„Na, das ist ja ein Durcheinander da drüben!“

[File under: „Ya que estamos aquí, aprendamos algo.“]

Percanta guckt streng

Späterer Abend, Dunkelheit, ich gehe unter der Last meines Rucksacks und der nicht geschafften Seiten nach Hause, als mich im Licht eines Kiosk-Eingangs ein junges Mädchen anhält. Hübsch, brauner Pferdeschwanz, flehender Blick aus braunen Augen:
„Entschuldigen Sie, können Sie mir bitte helfen? Würden Sie für mich da reingehen…“
Sie weist auf die offene Tür des Kiosks und ich ergänze ihre Bitte im Kopf: … die betrügen mich ums Wechselgeld/ der Typ hinter dem Tresen macht mich so obszön an, ich trau mich nicht allein rein/ … und knöpfe bereits mein rotes Superheroe-Cape zu, als sie mir 5 Euro hinhält:
„… und mir Kippen kaufen? Ich bin noch keine 16.“
Falsche Adressatin, Mädchen.
Ich kaufe aus Prinzip niemandem Zigaretten, ich bringe keine Zigaretten mit und stecke sie auch weder an noch ein. Und ganz sicher kaufe ich keiner Konfirmandin Kippen, weil sie selbst noch nicht darf.
Chupa-Chups?

Wohnen

Gestern Abend hat eine Mitsängerin den halben Chor bekocht, Anlässe gab es diverse, einer war ihre neue Wohnung. Wir saßen auf Umzugskisten oder selbst mitgebrachten Hockern, aßen mit schwerem Silberbesteck weihnachtlichen Hasen mit hausgemachten Semmelknödeln und waren von Essen und Wohnung sehr beeindruckt. Drei Zimmer in einer Fachwerk-Altbauwohnung, anders als unsere eigene Fachwerk-Altbauwohnung aber ohne Laminat und Papp-Zwischenwände mit hässlichen 80er-Jahre-Türen in Normhöhe (bei 3,50m-Decken), sondern komplett mit Dielenböden und den ursprünglichen, oben halbrunden Türen samt angeschliffenen Glasscheiben – wunderschön.
Gestrichen waren die Wände in einem erstaunlichen Mintgrün (Schlafzimmer), Zartgelb (Arbeitszimmer) und abgetöntem Blau (Wohnzimmer), Wohnzimmerdecke in einem noch dunkleren Blau, Tendenz Flieder, alle Absätze, Türen, Rahmen weiß. Dazu alte oder extrem moderne Möbel, im blauen Salon standen außer den unausgepackten Kisten nur ein Sekretär, ein Flügel und ein knallgrünes Sofa.
Die Mitsängerin erklärte uns die doch überraschenden Farben der Wände: Keine Ikea-Inspiration, kein Feng-Shui: Sie ist Historikerin und hat sorgfältig genau die Farbtöne ausgewählt, die üblich waren, als das Haus im 18. Jahrhundert gebaut wurde. Stimmt – diese Farben kannte ich aus Goethes und Schillers Wohnhäusern in Weimar. Eine Konsequenz, die ich mitsamt den Brüchen (Sofa) sehr schön finde.

(Und die eigene Wohnung erscheint umgehend schrabbelig und lieblos – im Vergleich zum Eingangsbereich des Hauses, der in einem Durchgang zu den Hinterhöfen liegt und darum Pennern Nachtquartier und Sprayern Platz für Graffiti bietet, ist allerdings auch sie fast „Schöner Wohnen“. Als ich heute Vormittag das Haus verließ, kam eine Kleinfamilie vorbei, das Kind schaute mich und unsere Haustür an, fragte im Weitergehen die Eltern: „Kann man denn da drin wohnen?“ Man kann. Trotzdem der heiße Wunsch nach weißen Flügeltüren.)

Göttinger Herzchen

Der Untertitel „Krankenhausblog“ verheißt nichts Gutes. Wenn es auch noch ein Blog über das Leben eines Kleinkindes auf der Intensivstation ist, erst recht nicht. Gestern Nacht habe ich „Berlin Heart – Miriams Krankenhausblog“ komplett durchgelesen und muss das alles erstmal sacken lassen: Miriams Vater Hilko ist ein Kollege von mir, seine Frau Elissa war in einem meiner letzten Deutschkurse meine Schülerin. In diesem Kurs war sie schon mit Miriam schwanger, ein entzückendes deutsch-taiwanesisches Baby, das heute ein gutes Jahr alt ist. Seit Juni warten sie auf ein Spenderherz.

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Edit: War hier ja schon einmal aus anderem Anlass Thema: Informationen über Organspender-Ausweise gibt es hier.