12 Tage Santiago [11]

Sonntag, 5. September, „Día del Patrimonio Nacional“, eine Mischung aus Folklore-Festival, Tag des Offenen Denkmals und Langer Nacht der Museen. Ich bin wieder in Santiago und hatte sowieso vor, ins Museo Bellas Artes zu gehen, auf dem Weg dorthin durch den Parque Forstal gucke ich einer Weile einem Kinder-Duathlon zu, dann bleibe ich lange vor dem Museum, wo Livemusik gespielt wird und in Trachten Cueca, der chilenische Nationaltanz, getanzt wird. Zunächst von einer Gruppe in der feineren Trachten, die Stiefel und Ponchos sind Zeichen eines „huaso rico“, eher Großgrundbesitzer als kleine Bauern. Sie sind musikalisch wie tänzerisch ziemlich gut, am Ende fordern sie Leute aus dem Publikum zum Mittanzen auf, und keiner ziert sich, alle hüpfen mit und schwenken weiße Taschentücher. Wer keines hat, zückt zumindest ein Tempo.





Im Anschluss macht eine Folklore-Gruppe mit drei Sängerinnen Soundcheck, die identische geschnittene Minikleider in den Nationalfarben tragen, die erste Cueca ist aber so schrill und übersteuert, dass ich das Spektakel verlasse und ins Innere des Museums gehe. Im Museo Bellas Artes ist die Dauerausstellung bei freiem Eintritt geöffnet, thematisch (Portraits, Körper, Bestand der Gründungszeit des Museums vor exakt 100 Jahren) sortierte Säle mit feinem Parkett, das Gebäude selbst ist schon ein Schmuckstück. Leider darf man, wir mir vor dem letzten hier gezeigten Foto freundlich, aber bestimmt gesagt wird, keine Fotos machen…



(Letztes Bild: Ein Bild, was ich sowieso gerne mag, „La carta de amor“ vom chilenischen Maler Pedro Lira. Da wusste ich schon, dass ich nicht fotografieren durfte, aber die Ähnlichkeit in der Haltung war zu verlockend…)
Im Muesum sind recht viele Leute, vor allem viele Familien mit kleinen Kindern, aber auch junge Pärchen oder Grüppchen Jugendlicher. Ich bin in Deutschland selbst sehr selten im Museum, wie ist das eigentlich bei uns? Sind sonntags viele Familien im Museum? Ich kann es nicht erinnern.
Danach eine große Runde durch die Stadt gedreht (leider habe ich die Handpuppenspieler, die mich vor 5 Jahren jeden Sonntag ins Zentrum zogen, dieses Jahr nicht finden können, vielleicht haben sie aufgehört) und so lange auf der sommerlichen Plaza de Armas gesessen, bis mich eine Taube erwischt hat – das soll, heißt es hier, Glück bringen.

Später auf der Runde habe ich zufällig – da hat diese Stadt 6 Millionen Einwohner und man begegnet sich doch zufällig, ich habe hier auf der Straße auch schon Leute aus meiner Heimatstadt in Deutschland getroffen – meinem Dichter begegnet, wir haben dann zusammen eine weitere Cueca-Darbietung angeguckt, dieses Mal volkstümlicher, die Männer in Sandalen, die Frauen weniger wie vom Land als wie aus „Poblaciones“ gekleidet. Die Stimmung ist noch besser als zu Anfang, zumal diese Gruppe das folkloristischer Drumherum auch intensiv betreibt, ein versauter Witz jagt den nächsten und das Publikum überschlägt sich. Diese Vorführung, sagt mein Dichter, und der weiß bei Folklore, wovon er spricht, sei „autentiquísimo“, so einen wahrhaften 18. September (darauf läuft all das hinaus) hätte in der Hauptstadt noch nicht erlebt, und am Ende lässt er sich sogar zum Tanzen hinreißen – und das, gesteht er mir atemlos, habe er seit der Diktatur und seinem Wegzug aus dem ländlichen Süden nicht mehr getan. Nach wenigen rein vorgeführten Cuecas werden nämlich wieder wir Zuschauer zum Teilnehmen aufgefordert, nicht nur Rhythmus solle man klatschen, sondern Taschentücher zücken und tanzen, und es wird getanzt. Für mich beeindruckt, dass die Jungen genauso mitmachen wie die Alten, die Turnschuhmädchen wie die Herren im Anzug, die blondierte Mami genauso wie der Herr, der über der feinen Hose einen Poncho trägt, und auch die coolen Jungs mit Rocker-T-Shirts, die mit Rastalocken oder Ohrringen wedeln mit Tempos, klatschen und tanzen kunstgerecht mit den als Landfrauen verkleideten älteren Damen.



12 Tage Santiago [vorgezogener Schluss]

Die Tage 11 und 12 bekommt Ihr noch, es war etwas schwierig mit Internet am Abend, und tagsüber hatte ich keine Lust, bei sommerlichem Sonnenschein drinnen vor dem Computer zu sitzen – außerdem musste ich ja für Euch Sachen erleben! Vielleicht morgen in Atlanta, wo ich 10 Stunden Zeit auf dem Flughafen habe… Bis dahin verabschiede ich mich, von Euch, von Santiago, von Chile.

Ciaocito, Chile. Cuídate.

12 Tage Santiago [9b und 10]


Valparaíso und Viña del mar.
Valparaíso ist die Hafenstadt, Containerhafen, Märkte, Tor zur Welt, auf steilen Hügeln gebaut, voller endloser Treppen, die zum Teil durch
Gebäude oder verborgene Durchgänge führen, dazu zur Entlastung der Fußgänger einzelne mit Seilwinden betriebene Aufzüge, die an den Hängen kleben. Auf den Straßen verkehren noch alte Trolleybusse, alle Hauswände sind besprüht, überall, wo nicht mit Fisch oder Zwiebeln gehandelt wird, gibt es Kunsthandwerk, man gibt sich hippiehaft und künstlerisch. Viña del mar liegt etwa 5 km weiter nördlich und teilt sich mit Valparaíso die Bucht, klettert ebenfalls die Hügel hoch, die allerdings hier ein wenig weiter weg von der Küstenlinie steil zu werden beginnen. Viña – Weinberg – ist das alte Strandbad und hat sich an einigen Stellen den alten Charme eines mondänen Badeortes bewahrt, es werden aber stets weniger Fassaden und Anblicke, die diesen Charme versprühen. Die Stadt ist kleiner, sauberer und in der Bevölkerungsstruktur deutlich älter als der Nachbarort. Die prachtvollsten Häuser wurden damals, Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem, an der aus Santiago kommenden und Modernität und Weltläufigkeit versprechenden Bahnlinie gebaut, dort sind noch einige Villen im Südstaatenstil zu finden.


Valparaíso, Zentrum.


Buchhandlung „Crisis“, Valparaíso.



Ein Junge lässt von einem Mirador aus einen Drachen s
teigen, der sich unmittelbar nach diesem Foto in einem Baum verfängt, der unerreichbar viel tiefer zwischen Wohnhäusern am Abhang klebt. Er und sein Cousin versuchen noch eine Weile, den Drachen zu retten, reißen dann den Faden durch und rennen schließlich zu ihrer Großmutter, um sie um Geld für einen neuen Drachen zu bitten.

Am Abend besuchen wir einen Bekannten des chilenischen Freundes, den ich hier besuche, ein Künstler, der eine Wohnung mit einem spektakulären Blick hat. Außer Farbe, einer Matratze, einigen Bildern und ein paar Büchern ist die Wohnung fast leer, er hat nicht mal einen Stuhl („läuft gerade nicht so gut mit dem Verkaufen“, sagt er, zeigt uns die „kommerziellen“ Bilder für den Handel und seine „anspruchsvolleren“ Bilder, wirklich überzeugend finde ich allerdings keine der Serien), bietet uns aber Kaffee an, den wir am Fenster stehend trinken, auf die Bucht schauend und leise seufzend.

Überhaupt, wenn diese Stadt neben Treppenstufen, die mir einen gründlichen Muskelkater beschert haben, über irgendetwas verfügt, dann über Blick. Das dritte Haus von Neruda, die „Sebastiana“, liegt sehr weit oben über der Stadt, und sie hat vor allem Blick – viel Glas und alle Räume des über 4 schmale Stockwerke konstruierten Hauses schauen Richtung Bucht. Direkt zum Wasser hin ist meist die ganze Front Glas, zu den Seiten, wo man vor allem über Häuser schaut, sind die Fenster dann ungewöhnlich geformt, im Treppenhaus fällt das Licht durch Bullaugen. Auf dem folgenden Foto ein weniger aufregender Blick aus der „Sebastiana“, dafür aber ein paar Exemplare aus Nerudas Altglassammlung. Am besten hat mir von Nerudas Häusern das in Isla Negra gefallen, dessen Architektur hintereinander aufgereihten Eisenbahnwaggons nachempfunden ist, hier gefiel mir aber wohl auch die Lage so besonders, auf einer Terrasse direkt an einem felsigen, wilden Strand.


Selbst die Toten haben in Valparaíso gute Aussicht, im Rücken des Engels und hinter mir liegt die Bucht, und in Blickrichtung gehen die zu Füßen des Engels liegenden grau-weißen Mausoleen des Friedhofs in die bunten Schachtelhäuser des Cerros über.
(Mehr Engel dann wieder auf Flickr, die hiesigen Engel sind anders als die vom Friedhof Recoleta aus Gips, und auffällig waren die vielen fe
hlenden Hände, die meisten wiesen mit Armstümpfen in den Himmel.)
Auf einem Grabstein stand auf Deutsch „Die Liebe höret nimmer auf“, daneben einige, die nur mit einem Namen, dann „und Frau und Kinder“ beschriftet waren, schließlich einer, auf dem stand: „Un hombre bueno“, ein guter Mann. Was will man mehr.

Dachschmuck, einer von vielen:

Einer der wenigen noch in Betrieb befindlichen Aufzüge, man bezahlt ein paar Hundert Peso und spart sich einige Dutzend Höhenmeter, sonst über Treppen oder weitläufige Serpentinen oder Straßen zurückzulegen, die so steil sind, dass man sich wundert, dass die Busse nicht einfach herunterfallen.

Auf einem der zentralen Plätze Valparaísos versammelten sich mittags Homosexuelle und Transvesisten sowie eine Vereinigung von „Müttern von Homosexuellen“, um in einer „Accion Gay“ für die Rechte von Schwulen und Lesben zu demonstrieren. Am beeindruckendsten war zwischen all den schrill verkleideten Männern – einer unterhielt sich am Rande mit uns und kommentierte, die Transvestitenverkleidung sei auch Schutz, denn morgen müsse er normal zur Arbeit gehen und sein Chef wisse von nichts, und das solle auch erst mal so bleiben – das Grüppchen junger Schulmädchen, die ihre dunkelblauen Schuluniformen noch anhatten und mit Buntpapier und Herzchen beklebte Plakate schwenkten, „Vivan los gay“. Ein Mädchen hatte ein Plakat „Ich liebe meinen Papi-Gay“ und fotografierte immer wieder einen mit langem Abendkleid und Krönchen gekleideten großen Mann. Während das Nachbarland Argentinien gerade die vollwertige gleichgeschlechtliche Ehe eingeführt hat – und damit deutlich über die deutsche Lebenspartnerschaft hinausgeht -, haben gerade männliche Homosexuelle in Chile noch einen schweren Stand. Frauenpärchen sieht man ab und zu, männliche Paare sind im normalen Straßenbild kaum anzutreffen.




Kreisel – eines der nun an jeder Ecke verkauften Symbole des chilenischen „mes de la patria“ September. Nur wegen meiner Doktorarbeit hier abgebildet.
Noch etwas Hafen Valparaíso:




Die letzten drei Bilder sind von der Promenade und dem Strand in Viña, die Seebrücke auf dem letzten Foto wird in meinem Reiseführer aus dem Jahr 2005 noch als „place to be“ angepriesen, als pintoresker Treffpunkt von Fischern, Einheimischen und Touristen, wo Delikatessen in Bleiglasvitrinen angeboten werden. Ich kann mich nicht erinnern, ob die im Reiseführer abgebildeten Holzhäuser auf der Seebrücke bei meinem letzten Besuch vor 5 Jahren noch da waren, ich glaube aber, es war damals schon der rostige Kran. Anderes ist erst kürzlich kaputtgegangen oder geschlossen worden.
Einige Häuser in Valparaíso sind ringsum mit den weiß-roten „PELIGRO“ und „Nicht betreten!“-Aufklebern gepflastert, in vielen Straßen wird renoviert, und in die eine der beiden großen Markthallen ist seit dem Erdbeben abgesperrt, Einsturzgefahr.
Am Strand lagern in der Frühlingssonne Familien und spielen Kinder, barfuß und in Winterjacken. (Das einzige Kind in Badehose wirft auf dem letzten Foto Sand ins Meer, im Wasser war niemand.) Ich habe einmal rituell die Füße in den Pazifik getaucht, eisig kalt, ich weiß nicht, wie die zahllosen kleinen Krebse, die sich zwischen den Wellen am Küstensaum ein- und ausgraben, das aushalten.





Ich bin etwas im Rückstand, den heutigen 10. Tag und „Día del patrimonio“ reiche ich im Laufe des Tages nach.

12 Tage Santiago [9]

Kurz vor Mitternacht, zurück in Santiago. Hier wird gleich der Aufenthalt in den Gemeinschaftsräumen des Hostals beendet, was für mich bedeutet, dass ich dann kein Internet mehr habe. Morgen gibt es an dieser Stelle Fotos aus Valparaíso und Viña de Mar, noch zu sortierende Bilder vom Hafen, von Tauben, von Häusern, von Schiffen, von Treppen, von Aufzügen, von Fischen und von einer „Accion Gay“-Demonstration mit gewagten Outfits.

12 Tage Santiago [8]

Valparaíso – schon jetzt hunderte von Fotos, der Eintrag wird nachgereicht, wenn ich wieder in Santiago bin. Morgen Abend wahrscheinlich.
Auf meinem Flickr-Profil – in der rechten Spalte verlinkt – gibt es im (duennen) Album „Cono Sur“ ein paar 5 Jahre alte Bilder aus Valparaíso, wenn jemand einen Vorgeschmack will. Das Bild im Header ist auch aus Valparaíso, die Blechornamente auf einem Dach.
Bleibt mir treu!

12 Tage Santiago [7]



90 Minuten Zeit für 5 Vorträge à 20 Minuten und eine gemeinsame Diskussion ansetzen (bitte nachrechnen), dann den Raum wechseln und wieder zurückwechseln, die angemeldete Technik nicht parat haben, schließlich 20 Minuten später anfangen und dann von den Vortragenden verlangen, dass einfach jeder nur 10 bis 15 Minuten redet – der Beginn der Sektion ist flexibel, das Ende aber fest, denn im Anschluss gibt es „andere Aktivitäten“ und Kaffee – und dann trotz vieler Meldungen jegliche Diskussion nach dem letzten gehetzten Vortrag unterbinden, weil keine Zeit, auf Drängen einer Vortragenden dann zwar doch Fragen erlauben, aber als Moderator bei der ersten Frage den Raum verlassen und die zweite unterbrechen, nun sei Schluss, definitiv, da kann man sich, nachdem man für diesen Vortrag von 20 Minuten Tausende von Kilometern zurückgelegt hat, sein Leben daheim umständlich umorganisiert und auf hilfreiche Schultern verteilt und eine bitte nie nachzuzählende Summe Geld ausgegeben hat, da kann man sich schon etwas verarscht vorkommen.

Und die kokettierend und achselzuckend vorgebrachte Erklärung „Eso es Chile“ stellt nicht zufrieden, sondern macht erst recht zornig, denn was hat Respektlosigkeit mit einem schlechten Image zu tun, was in Wirklichkeit ja nicht einmal zutrifft, und die Grundrechenarten funktionieren hier, in diesem neoliberalen Wirtschaftsland, doch sonst auch ganz gut.

*

Studenten der gastgebenden Uni schämen sich nach eigener Aussage für die (Des-)Organisation, die Kommunikation und den Ablauf innerhalb der „mesas“, andere Vortragende loben den Kongress als „una maravilla, hermosísimo“. Irgendwo dazwischen wird es sein.

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Und dann Studentenproteste auf dem Campus – wogegen, spricht sich nicht rum – und Katz- und Maus-Spiel mit der Polizei, Tränengas und Steine und Wasserwerfer. Stundenlang belagert sich ein kleines Grüppchen Studenten, am Ende alle pitschnass, mit den im gepanzerten Wasserwerfer verschanzten Carabineros, nur manchmal kommen drei oder vier aus dem Panzer geklettert, mit Helmen und Schilden und immer dicht beieinander bleibend. Die übrigen Studenten, Dichter und Kongressteilnehmer gehen mittlerweile nach Hause oder warten bis abends ab, was passiert. Nichts.

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Über Umwege wird mir heute ein Buch überreicht, in das mir Antonio Skármeta eine ziemliche Widmung geschrieben hat, „amigo“ steht drin und „admirador“, und das Datum: 27.4.2007. Einige Dinge brauchen ihre Zeit, bis sie ankommen.

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Und dann mit den verbliebenen Dichtern noch mehr Lesungen, und eine Gruppe junger Poeten will wild sein und wirft Klopapierrollen durch den Raum und muss selbst etwas lachen, und irgendwann wickelt einer die chilenische Fahne, die neben der Tafel aufgebaut ist, in Klopapier. Der neben mir sitzende Wissenschaftler aus New York flüstert mir zu, dass das in den USA nicht möglich gewesen wäre, die Jungs wären sofort festgenommen worden. Ich flüstere zurück, dass das in Deutschland auch nicht möglich gewesen wäre, sie hätten zwischen den Weltmeisterschaften wahrscheinlich keine Fahne gefunden.

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Eine Gruppe müder und durchgefrorener und etwas desorientierter Wissenschaftler beschließt, nach der letzten Lesung – und irgendeine Lesung wird schließlich die letzte sein – noch was trinken zu gehen.

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Morgen Valparaíso.

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(Bürgersteig, Ñuñoa. Per te.)

12 Tage Santiago [6]

Endlich konnte man die Cordillera sehen! Berge, riesige, ausgewachsene Berge direkt hinter den Häusern, und was ist? Ich stehe im 4. Stock der Fakultät und meine Kamera behauptet, keine Akkuleistung mehr zu haben. Das kann mir sie zwar noch den ganzen Tag mitteilen, aber auslösen kann sie nicht mehr. Nachmittags, als die Kamera aufgeladen ist, sind die Anden allerdings wieder hinter der üblichen Suppe aus Nebel, Wolken und Smog verschwunden, und dann fängt es auch noch an zu regnen. Eine maue Erlebnis- und Foto-Ausbeute heute.


Zum Kongress bin ich zu spät gekommen, weil die U-Bahn immer wieder im Stau stand, wir haben mehr in Tunnels gestanden als dass wir gefahren wären. Die Sektion, zu der ich morgens wollte, war dann aber offenbar sowieso ausgefallen oder nach unbekannt verlegt worden, der Raum war jedenfalls verwaist und keiner der Helfer wusste etwas. Dann wurde es besser. Bisher habe ich noch keinen Vortrag gehört, der duch Präsentationen irgendeiner Art (Folien, PowerPoint, Ausdruckstanz) oder Handouts unterstützt worden wäre. Ich habe für morgen PowerPoint und Handouts, wahrscheinlich denken sie, ich will einen Lückentext in Deutsch als Fremdsprache mit ihnen machen, wenn ich die Zettel austeile. Hoffentlich ist überhaupt noch jemand da, wenn ich vortrage, heute habe ich schon von vielen gehört, die morgen früh abreisen, und ich bin in der allerletzten Sektion „Wissenschaft“, dann gehört das Feld bis zum Abend wieder den Dichtern.

Das Land bereitet sich auf die Fiestas Patrias und das Bicentenario vor. Am 18.9. ist Nationalfeiertag (Doppelfeiertag mit dem 19.), und dieses Jahr wird die Zweihundertjahrfeier der Unabhängigkeit groß inszeniert. „Ah, Du fährst schon vor dem 18.“, das ist die übliche Reaktion auf mein Abreisedatum, das chilenische Jahr scheint sich in vor- und nach dem 18. September zu teilen. Weil die Feiertage dieses Jahr auf Samstag und Sonntag fallen, werden sie verlegt – das Datum des Nationalfeiertags ist zwar unverrückbar im kollektiven Gedächtnis verankert, und der 18. ist nunmal der Samstag, weil es aber unfair ist, wenn ein freier Tag auf ein Wochenende fällt, wurde beschlossen und gesetzlich festgelegt, dass dieses Jahr auch der Freitag davor und der Montag danach Feiertage zu sein haben. Flexible Ersatz- und Kompensationsfeiertage, der zu Ende gedache Brückentag. Nun, keine zwei Wochen vor den Feiertagen, ist das Land jeden Tag in Blau-Weiß-Rot gehüllt. Die Landesfarben scheinen mir sowieso und immer präsent zu sein, auch die Nationalhymne wird zu Gelegenheiten gesungen, wenn meines Erachtens Deutsche nie auf die Idee kämen, ausgerechnet die Hymne zu singen (zum Beispiel haben die verschütteten Minenarbeiter die Nationalhymne in die zu ihnen heruntergelassenen Mikrophone gesungen, und ihre Familien oberirdisch haben dann auch das rituelle „Chi Chi Chi Le Le Le“ intoniert). Aber jetzt schwappen die Landesfarben wirklich überall hin, alles ist voller blau-weiß-roter Girlanden, Windmühlen, Lufballons, Fähnchen, dazu andere landestypische Symbole wie die Strohhüte der Huasos (der chilenische Gegenpart zum argentinischen Gaucho). Ob die Sägespäne, die heute überall in Galerien und Eingängen von Läden gestreut waren, auch folkloristisch an das die nationale Identität prägende Landleben oder die Zeit der Nationengründung erinnern sollen, oder ob es eine unbemerkte Ölpest gab oder ein größerer Kälteeinbruch mit Blitzeis erwartet wird, vermag ich nicht zu sagen.
Das Fahnenmeer erinnert mich auch an die Pueblos Jovenes (Slums) in Peru. In Peru wie auch in Chile ist es zu nationalen Feiertagen Pflicht ist, eine Fahne zu hissen; wer nicht flaggt, muss Strafe zahlen, zumindest in Peru recht rigide. Da die meisten Menschen in den Pueblos Jovenes nicht sicher wussten, wann Feiertag war und wann sie also zu flaggen hatten, behielten sie, um Strafen zu entgehen, einfach die Fahne permanent auf dem improvisierten Dach, soweit vorhanden. So waren die prekärsten Wohngegegenden, wo diejenigen lebten, denen der Staat am wenigsten gab, paradoxer- und irritierenderweise diejenigen, die (bedingt freiwillig) am deutlichsten und dauerhaftesten Flagge zeigten.
El país se viste de fiesta, und manchmal schaut das aus wie bei Christo abgeschaut, manchmal eher nach Kindergeburtstag.

Und wenn ich sage, dass alles in Blau-Weiß-Rot getaucht ist, dann meine ich alles.
Die Qualität der Fotos bitte ich zu entschuldigen, besonders das folgende hat eine rein dokumentarische Funktion:

12 Tage Santiago [5]

Tokio, die zweite. Morgens vor neun ist der Berufsverkehr in der Metro noch viel lustiger, man steht in mehreren Reihen vor der Bahnsteigkante, selbst die gelbuniformierten Helfer halten sich raus, und wenn im Minutentakt die Züge kommen, werden tropfenweise einzelne Passagiere herausgequetscht und die Masse schiebt so lange, bis der Zug nach allgemeinem Verständnis ganz und gar voll ist. Das scheint meist ganz gut zu passen, etwa 3 Reihen vor mir hat allerdings eine Frau ihren Schuh verloren – der schwarze Stöckelschuh stand auf dem Bahnsteig, das Bein ruderte durch den Türspalt hilflos in der Luft, und ein Mann hing mit dem halben Anzug aus dem Zug, doch irgendwie hat man Schuh und Frau wieder zusammengebracht, bevor der Zug losfuhr. Wann die eigene Reihe dran ist, unterliegt der Schwarmintelligenz, irgendwann wirst Du in den Zug geschoben und es geht los. Ich bin dann heute früh etwa 1,5 Stunden U-Bahn gefahren, an der Umsteigestation im Berufsverkehr einsteigen zu wollen, dauert seine Zeit, dann musste ich nochmal umsteigen, von der roten in die blaue Linie. Dort war kaum was los, sehr angenehm. Ich musste dort noch etwas 7 Stationen fahren, bis „Grecia“ – der Zug hielt allerdings erst, schon oberirdisch, eine Station später. Ich war kurz irritiert, dachte dann, ich werde wohl die Station verpasst haben, stieg eins später aus, wechselte die Richtung und fuhr mit dem nächsten Zug zurück. Und auch dieser fuhr ungerührt durch meine Endstation hindurch, kaum verlangsamend, gewiss niemanden aussteigen lassend. Diesmal lag es nicht am meiner Müdigkeit, die Metro hatte definitiv gehalten, und man muss ja wohl in der U-Bahn nicht für „Haltewunsch“ einen Knopf drücken?! Ich habe die Metro-Karte nochmal studiert und mich entschlossen, nicht eine Station nach meiner Wunschstation auszusteigen um erneut die Richtung zu wechseln, sondern zwei Stationen später – denn offenbar liegen auf der blauen Linie 4 sowohl eine grüne als auch eine rote Sub-Linie. Manche Stationen der blauen Linie sind rot, manche grün, manche haben beide Farben – und um zu der Station zu gelangen, zu der ich wollte (grün auf blau) musste ich zunächst mal aus der roten Linie kommen, in der ich stand, und möglichst innerhalb der blauen Linie in einer grüne in Gegenrichtung wechseln. Dafür braucht man einen Doppelbahnhof, an dem die rote wie die grüne Sub-Linie halten. Alles klar? Das ganze hat etwas von einem Strategiespiel, man muss die richtigen Farben in der Hand haben und diese im richtigen Moment ausspielen, ich hatte leider nur „rote U-Bahn“ gezogen und fuhr darum seit 20 Minuten auf der blauen Linie hin und her, ohne je auf meiner grünen Zielstation aussteigen zu können. Nachdem ich schließlich eine rot-grüne Station erreicht hatte, musste ich noch herausgebekommen, woran ich erkenne, welcher Zug wo hält. Da ist nicht so schwierig, man muss es nur einmal kapiert haben: Die grünen oder roten Lichter über den Türen meinen nicht „einsteigen“ oder „nicht einsteigen“, sondern markierten die Sub-Linie, die innerhalb der blauen Linie bedient wird, sagen an, ob der Zug in „Grecia“ oder „Los Presidentes“ anhält. Ein Strategiespiel, ganz sicher, nur lösbar mit den richtigen Karten in der Hand und wenn man im Besitz der Geheiminformationen ist. (Bildungsproteste finden in der ganzen Welt die gleichen Ausdrucksformen.)

(Was unserem Campus in Deutschland fehlt: Tischtennisplatten, Bolzplätze, Schaukeln.)

Danach Kongress, der bisher relativ improvisiert wird, wir haben nicht mal Namensschildchen, und weil ich meine Pass-Nummer nicht auswendig weiß, konnte ich mich auch noch nicht einschreiben, teilgenommen hab ich aber doch und auch einige der bekannteren Namen getroffen und erkannt und Bücher ausgetauscht.


(Este mural para M.E.)

Nach 12 Stunden Vorträgen und Lesungen haben ich meinen Dichter überreden können, die Abendveranstaltung (Lesungen, wie originell) wenn nicht zu schwänzen, so doch abzukürzen, und nachdem in der Reihe vor uns schon Raul Zurita eingeschlafen war sind wir schließlich noch was essen und Wein trinken gegangen. Nach gut 14 Stunden mit der chilenischen Lyrik bin ich etwas angetrunken und habe eine überraschende Lebensbeichte im Gepäck. Morgen versuche ich es noch mal mit der Metro und dem Einschreiben. Gute Nacht.


(Alle Bilder Universidad de Chile. Campus in Ñunoa, Facultad de Filosofía y Humanidades.)

12 Tage Santiago [4]

Jetzt wird’s langweilig: Ich arbeite. Heute habe ich keinen Pulverkaffee im Hostal gefrühstückt, sondern bin an diesem eisigen Wintermorgen – Handschuhwetter! – mit der Metro losgefahren ins nächste Viertel bergaufwärts, um dort in ein Café zu gehen, wo ich vor Jahren mit dem Doktorvater war und später noch ein paar Mal allein, um dort den Vortrag endlich fertig zu bekommen und dann noch durch die Buchhandlungen nebenan. Metro im Berufsverkehr, so etwa stellt sich der Südamerikareisende Tokio vor. Es ist gesteckt voll, manchmal muss man mehrere Züge durchlassen, und ich kann nicht mit Sicherheit sagen, was eigentlich die Aufgabe der alle 5 Meter an der gelben Abtandslinie postierten Bahnsteig-Aufpasser ist, die nur zur „hora pic“ da sind: Sollen sie verhindern, dass sich Leute von außen an die Waggons hängen, oder sollen sie uns ein bisschen weiter durch die Türen quetschen, damit noch ein Dutzend Passagiere mehr mitkommt? Im Zug kann man nicht umfallen und ich bin ganz froh, größer als der Durchschnitts-Chilene zu sein und halbwegs Luft zu bekommen. Ich bin in „Los Leones“ ausgestiegen und hatte das Gefühl, richtig zu sein. Genau konnte ich es nicht mehr wissen, denn wie ich heute früh festgestellt habe, steht das Stadtplanbuch von Santiago, in dem auch alle Telefonnummern und Geheimtippadressen notiert sind, noch neben den Reiseführen im Regal zu Hause, mitgenommen habe ich stattdessen den Stadtplan von Buenos Aires. Damit komm ich hier nur bedingt weiter. Ich hatte also immerhin das Gefühl, richtig zu sein, den Namen des Cafés wusste ich auch nicht mehr, nur dass es in einer Galerie liegt, deren Namen ich auch nicht erinnerte. Calle (?) Vitacura hatte ich als fixe Idee im Kopf, ohne Gewähr. Ich bin von der U-Bahn aus weiter bergauf gegangen, es musste auf der linken Straßenseite, soweit war ich sicher, aber vielleicht deutlich weiter oben. Zwei Cuadras lang kam mir alles sehr bekannt vor, aber als ich die nächste U-Bahn-Station zu Fuß längst hinter mir gelassen hatte und es fremder wurde, musste ich mir eingestehen, dass die Richtung wohl nicht stimmte. Also umgedreht, wieder vorbei an den Obsthändlern, die gerade die Avocados und die Nuss-Tüten auf Tüchern auf dem Bürgersteig sortieren oder die Bananen an die Stange über dem Obstkarren hängen, vorbei an fliegenden Händlern mit Räucherstäbchen, im Strom der Leute, die zur Arbeit gehen, die Schüler sind schon durch. Als ich den Namen des Cafés sehe, weiß ich es wieder. „Tavelli“, genau. Und die Galerie ist auch noch da, und die Buchhandlung, und er Laden mit den Stoffen und indigen angehauchten Klamotten, in dem sich vor 5 Jahren mal jemand verschanzt hatte, während eine Frau in der Galerie herumlief und uns alle anbrüllte, die seien Räuber, Diebe, unehrenhaftes Gesindel, die nicht das bezahlen, was sie an Waren ankaufen, dann Polizei und das Ende haben wir sie lieber ohne uns ausmachen lassen. Alles noch da, außer dem Schmuckstand in der Mitte der Galerie, dort verkaufen sie jetzt Chile-Bücher und Postkarten. Ich installiere mich im Café und arbeite bis nachmittags, mit Kaffee und Himbeersaft und Crêpes, anschließend gebe ich mein restliches Geld für Bücher aus, die ich für die Lesungen im Herbst brauche – und finde zufällig einen Text-Bild-Band, an dem eine ehemalige Kommilitonin beteiligt ist, allerdings ist, was wirklich gemein ist, ihr Name auf dem Cover falsch geschrieben, und was dann noch übrig ist, investiere ich im Wollpullover – der hier zu Ende gehende Winter ist sicher bald bei uns. Den Heimweg teile ich mit zahllosen Mädchen in Schuluniformen, alle in Dunkelblau mit kurzen Röckchen, die meisten noch mit dicken Schuhen und Stulpen über den Strumpfhosen, einzelne haben nach dem frühlingshaften Wochenende nur Kniestrümpfe unter dem Rock an und darum die Beine farblich passend zur Schuluniform. Und alle haben lange Haare. Im Park haben sich die Pärchen vom Rasen auf die Bänke geflüchtet, überall küssende Schüler unter blühenden Zweigen. Entweder hat dieser Frühling schon mehr Durschlagkraft, als man ihm bei den Temperaturen zutraut, oder es gibt hier mehr Liebespaare, oder sie knutschen mehr, oder sie haben weniger Zimmer für sich allein. Vielleicht auch eine Kombination aus all dem.


Die Berge hängen unsichtbar hinter Wolken, Nebel und Smog, sonst würde ich sie Euch gerne mal zeigen.
Am Abend ist im Centro Cultural Mapocho die Eröffnung des Kongresses. Das Centro Cultural Mapocho ist der alte Bahnhof, ein imposantes Gebäude, in dem auch die Buch- und andere Messen stattfinden.


Leid
er ist es kein Bahnhof mehr, denn Chile hat die Eisenbahn abgeschafft – was eigentlich nicht zu verstehen ist, denn wenn ein Land für die Eisenbahn gemacht zu sein scheint, dann Chile mit seiner „loca geografía“. Man bräuchte nur eine einzige lange Bahnlinie, nur einen Schienenstrang, oder zwei parallele, damit man gleichzeitig in den Süden und den Norden fahren könnte, und damit wäre das ganze Land versorgt.

(Der chilenische Anti-Poet Nicanor Parra meint zum Bahnverkehr in Chile folgendes:

La locomotora del tren instantáneo
está en el lugar de destino (Pto. Montt)
y el último carro en el punto de partida (Stgo.)

la ventaja que presenta este tipo de tren consiste en que el viajero llega
instantáneamente a Puerto Montt en el
momento mismo de abordar el último carro en Santiago
lo único que debe hacer a continuación
es trasladarse con sus maletas
por el interior del tren
hasta llegar al primer carro
una vez realizada esta operación
el viajero puede proceder a abandonar
el tren instantáneo que ha permanecido inmóvil
durante todo el trayecto

Observación: este tipo de tren (directo)
sirve sólo para viajes de ida

[Aus: Hojas de Parra.] )


Die Eröffnung findet im Untergeschoss des Centro Cultural statt und lässt mir fast drei Stunden Zeit, über Sinn und Unsinn dieser Reise nachzudenken. Wir sitzen in einer Art leerem Beton-Schwimmbecken auf Klappstühlchen oder auf den Stufen am Rand, ich friere mir langsam die Beine ab, während vorne erst eine geschlagene Stunde lang Grußworte gelesen und
zur Versicherung der gegenseitigen Freundschaft Bücher unterschrieben werden. Und im Anschluss wird ein Buch vorgestellt, für das zahllose Dichter und bildende Künstler sich vom Nationalepos Araucana haben inspieren lassen. Die Installationen der Künstler sind draußen zu bewundern, aber die Gedichte sollen wir uns anhören – gleich 16 Dichter haben sie eingeladen, ihre Texte bei der Kongresseröffnung zu lesen. Ich liebe Lyrik und ich arbeite furchtbar gerne mit Gedichten, aber so etwas strapaziert meine Geduld. Eine schier endlose Lyrik-Lesung, die furchtbar gut gemeint ist und an der sicher auch gute Leute beteiligt waren, die man aber hinter ihrem Tisch nicht sehen konnte und die fast alle ihre Lesung mit umständlichen Dankesworten für die Einladenden begannen, und deren Texte ich dann einmal höre, ohne die Wörter zu sehen oder einen spitzen Stift zur Hand zu haben, das ist nicht meins. Wäre es noch länger gegangen, sie hätten mich eine veritable Identitätskrise gelesen. Ein Drittel der Poeten widmetete das Gelesene den gefangenen Mapuche, die sich im Hungerstreik befinden, ein Dichter schloss sich dieser Widmung an und ergänzte dann, dass seine Lektüre außerdem den Minenarbeitern im Norden gewidmet sie, denn dort, so ergänzte er etwas schamhaft, komme er her. Höflicher Applaus für diese Ergänzung. Das Auditorium begleitete die Lesungen etwa zur Hälfte frenetisch, die andere Hälfte war eher still oder schlich sich irgendwann raus. Der anschließende „Cóctel“ zur Eröffnung löste sich dann auch entsprechend schnell auf. Ich kannte (oder erkannte) niemanden, den Namen nach müsste ich eigentlich einige kennen, aber Namensschilder gibt es erst morgen und die Namen, zu denen ich bereits ein Gesicht habe, waren nicht da, auch mein Dichter war verhindert, nur ein älterer Dozent der Universität Arica, der kaum mehr Leute kannte als ich, blieb treu an meiner Seite. Fröstelnd erklärten wir das Fest dann relativ bald für beendet. Morgen geht es hier mit Arbeit weiter, ich hoffe, es gibt zwischendurch auch was zu erzählen. Und Licht und Fotos. [Apropos Licht: Oh, Stromausfall!]

12 Tage Santiago [3]

Kalte Winterluft am Morgen, aber sonnig. Ich frühstücke Hostal-Kaffee – Nescafé schwarz, denn in Instantkaffee (was ist nur los mit den Kaffeeländern, dass sie so auf Instantkaffee stehen?) auch noch Instantmilchpulver zu krümeln scheint mir die Lage nicht zu verbessern. Erst danach öffne ich vordfreudig und fast rituell meine Mails, das ist das Gute an der Zeitverschiebung, die Gewissheit, morgens etwas vorzufinden. Und ich finde, nämlich Berichte vom Kind – das beherrscht nun, wie ich erfahre, zwei neue Wörter sicher: „Bagger“ und das Familienwort für „Penis“; Männlichkeitswahn daheim? – und wie jeden Morgen ein für mich geschriebenes und sehr anrührendes Tagebuch. Darin enthalten mein täglicher Ohrwurm, heute habe ich also dem chilenischen Winter angemessen italienische Songs geträllert, bis auf dem Kunsthandwerksmarkt ein albern hüpfender Huayno aus dem Andenhochland dazwischenkam. Außerdem versorgt mich der Liebste am Wochenende mit Nachrichten zu den Spielständen. (Das 3:6 war ein gezieltes Verklappsen der Tippspielrunden, oder?!)

[Foto: Perro chilensis]
Mittags war ich bei Señora Eliana eingeladen, sie ist genauso winzig wie damals und etwas grauer („aber bald färb ich mich wieder!“), auch die Pension ist unverändert, einer der kleinen Hunde ist tot, aber jedes der von den Gästen aus aller Welt mitgebrachten Andenken ist noch an seinem Platz, ebenso Don Felipe, der alte Pensionsgast, der dort nicht wohnt, aber seit 33 Jahren jede einzeln
e Mahlzeit dort einnimmt und zu Hause nicht mal einen Teelöffel hat, und der wie vor 5 Jahren am Kopfende des Esstischs sitzt und wartet. Es gibt eine Kostprobe von Sra Elianas Kochkunst, Kartoffelbrei aus der Tüte mit gekochtem Schinken, zum Nachtisch Banane mit Erdbeermarmelade, und dann bereitet sie uns einen „bajativo“ zu, Fernet mit Menta, ein Eiswürfel, sorgfältig eingeschenkt und von Don Felipe erklärt, wie immer, „Fernet ist bitter und Menta ist süß, und zusammen – exquisit!“, dann umgerührt („so rührt man das um, genau so“) und schließlich nimmt sie einen Teelöffel voll aus meinem Glas, „köstlich“, und lacht selbst über das Theater. Die beiden erzählen vom Erdbeben und ein bisschen von den letzten fünf Jahren, über die es aber nicht so viel zu berichten gibt, nur dass auf die Wahlkampfzentrale von Michelle Bachelet gegenüber irgendwann eine Bombenattentat verübt wurde und dass das Haus nun gelb gestrichen und von Leuten von den Osterinseln bewohnt sei. Ein bisschen reden wir dann noch über das relativ neue Scheidungsrecht, Chile gehört zu den letzten Ländern, die Scheidungen legalisiert haben. Zuvor war es nur (bedingt) möglich, Ehen annullieren zu lassen. Konsequenz der über Jahrzehnte aufgestauten gescheiterten Ehen, die nun endlich auch offiziell auseinandergehen dürfen, sei in Kombination mit einer allgemeinen Heiratsmüdigkeit gewesen, dass im vergangenen Jahr mehr Ehen geschieden als geschlossen wurden. Auch ich kenne jemanden in Chile, der sich vor kurzem von seinem seit fast einem halben Jahrhundert getrennten Partner hat scheiden lassen – allerdings in diesem Fall, um dann umgehend endlich die ebenfalls seit fast einem halben Jahrhundert mit ihnen lebenden „neue“ Liebe und Mutter seiner Kinder zu heiraten.


[Fotos: Kathedrale, Portal und einzelne Bodenfliese]
Anschließend bummele über den Kunsthandwerksmarkt, kaufe dem Söhnchen einen peruanischen Alpaka-Pullover mit Pinguin (der wahrscheinlich „pica“) und probiere Mapuche-Ohrringe an. Diese Ohrringe wollte ich mir schon vor fünf Jahren kaufen und habe es dann aus Geiz nicht mehr gemacht, im März bin ich aus Erdbebengründen nicht dazu gekommen, und heute – heute habe ich sie wieder nicht gekauft, denn so schön der Mapuche-Schmuck ist, er scheint mir einfach nicht zu blondem Fusselhaar zu passen. Die großen Silberanhänger brauchen die wunderschönen, stolzen und unglaublich fotogenen Gesichter der Mapuche-Frauen.

[Foto: Ecke Plaza de Armas, gelb angestrahlt die Post]
Später gehe ich dann durch die Fußgängerzone und hoffe, dass die großartigen Puppenspieler, die ich früher jeden Sonntag angeschaut habe, dort sind – sind sie nicht – und gehe dann mit einem Himbeereis auf die Plaza de Armas. Himbeeren sind nicht unbedingt das erste, was man mit Chile assoziiert, da kommen doch eher die Vulkane, Wollsocken oder Fischgerichte, vielleicht auch – wenn man länger mit mir zu tun hatte – Dichter. Doch man sollte sich die hiesigen Himbeeren in allen Varianten auf keinen Fall entgehen lassen.


[Foto: Kathedrale]

In der Kathedrale gelingt mir vor der Statue des neuesten chilenischen Heiligen, Padre Hurtado, eines von drei Fotos, die ich dort heute gesehen und gern gemacht hätte, die anderen beiden wären das Mädchen gewesen, das mit einem sternförmigen Luftballon in die Krypta steigt (unscharf), und das kleine Mädchen, das sich auf das Becken mit dem Weihwasser lehnt, um an den Tropfen unter der Marmorhand zu kommen (nicht getraut).
[Übrigens ist es hier recht unproblematisch, Menschen zu fotografieren, meist frage ich einfach, und jemand wie „Elvis“, der Schlagzeuger von gestern, bekommt dann auch eine Spende in seine Sammelbüchse.]Am Ende des Abends Kaffee und Lektüre im „Café de las Artes“ in der Nähe des
Museo de Bellas Artes, ein schönes Café, was ich eigentlich gesucht, aber nicht gefunden hatte, und was dann doch auf meinem alternativen Heimweg lag.