Der kleine Naturforscher (II)

Nach der kleinen Exkursion in die verschachtelte Zoologie (hier) noch ein Ausflug in die Botanik. Auf dem Rückweg vom Kindergarten bemerkten wir lauter neue Blumen, weiße Buschwindröschen und gelbe, hm, wahrscheinlich Huflattich? So kleine gelbe, was blüht denn so früh? Bzw. so gleichzeitig?
„Mami, wie heißen die Blumen an der roten Rutsche im Kindergarten?“ Ich weiß es nicht? „Die sind so klein und gelb, die Blume ist gelb und so dipp dipp dipp.“ Hm, ich weiß nicht. Du kannst sie mir ja morgen mal zeigen. Waren das auch solche wie gerade eben? „Nein. Wir müssen das mal in dem Buch suchen, und wenn ich sie sehe, dann musst Du mir die Buchstaben vorlesen, die da stehen.“ So machen wir es. Und dazu gibt es das erste Eis auf dem Balkon, was jetzt als natürliches Lesezeichen die Seiten „Gelbe Blüten“ verklebt. Nuno blättert und schüttelt den Kopf. Kein Löwenzahn. Keine Butterblume. Nein. Nein. Nein. „Nein, da kein Weiß dabei, nur Gelb, so, dipp dipp dipp, ohne was in der Mitte.“ Auf Seite 374/75 wird er fündig: Es ist Wiesen-Wachtelweizen, da ist er sicher. Wiesen-Wachtelweizen, das hätte ich auch an der roten Rutsche nicht benennen können.IMG_7417

Zur Vertiefung dieser unreflektierten Anekdote empfehle ich zwei sehr durchdachte, lange und lesenswerte Beiträge: das Nuf mit „Das naturdegenerierte Kind“ und Herrn Buddenbohm mit „Frühkindlicher Förderung“.

Update: Nach eingehender Untersuchung der Blüten an den Büschen auf dem Weg befand Nuno heute früh, es könnten doch Forsythien sein. Wir bleiben aber dran und begutachten heute Nachmittag noch einmal die fraglichen gelben Blumen an der Rutsche.

Update II: Wir haben die Umgebung der roten Rutsche inspiziert. Dort steht tatsächlich ein Forsythienstrauch; die  Beschreibung „kleine Blume und nur ganz kleines Grün“ für einen Kindergröße deutliche überschreitenden Strauch ist aber auch erklärbar: Der Strauch war das eine, Nuno wollte aber vor allem eine botanische Bestimmung der sehr kurzstengeligen gelben Blüten zwischen den Grashalmen. Es ist aber keine neue Art, es handelt sich lediglich um einzelne herabgewehte Forsythien-Blüten auf der Wiese. Für die seine Beschreibung „kleine Blume, eine gelbe Blüten ohne was in der Mitte, nur so dipp dipp dipp, ganz kleines Grün“ doch recht zutreffend war.

 

Nahrungskette

Und dann war da noch Nunos Überlegung, was mit dem Frosch passiert, wenn der Storch ihn am Stück schluckt. Und anders kann ein Storch das ja eigentlich nicht, denn er hat ja keine Zähne und kann ihn nur ganz herunterschlucken. Wahrscheinlich quakt er dann im Bauch vom Storch, das Prinzip ist ihm aus Peter und der Wolf bekannt. „Und dann kann er seine lange Zunge aus dem Maul vom Storch rausstrecken, also aus dem Schnabel. So bl blb bl bl, so guckt dann die Zunge vom Frosch aus dem Schnabel. Er hat ja so eine lange Zunge.“ Und was passiert dann, wenn der Frosch aus dem Storchenbauch heraus mit seiner langen Zunge eine Fliege fängt? „Lebt die Fliege dann auch? Dann ist die Fliege im Bauch vom Frosch und der Frosch ist im Bauch vom Storch.“
Wir lassen das Bild ein bisschen sacken. Fliege in Frosch in Storch. Eine klassische Nahrungskette, nur etwas komprimiert. „Oh! So eine Puppe habe ich doch! Die mit dem Baby! Eine Puppe und noch eine Puppe und noch eine Puppe, immer innendrin.“ Der Babuschka-Storch, natürlich. Achten Sie mal drauf, Sie erkennen ihn an der langen Zunge.

Der Sache auf den Grund gehen

Sie haben auch das Gefühl, in dem einen Unterschrank in Ihrer Küche riecht es schlecht? Ich kenne das. Und ich weiß, was man dagegen tun kann, wenn man ein bisschen Mut zusammennimmt. Ich habe Ihnen das mal aufgeschrieben. Gehen Sie der Sache auf den Grund. Sie können das.

1. Öffnen Sie die Schranktür.
2. Stecken Sie den Kopf in den Schrank und atmen Sie durch die Nase ein.
3.Ok. Nun öffnen Sie die zugeknallte Tür wieder, Abhauen gilt nicht.
4. Versuchen Sie sich vorzustellen, was derart stinken kann.
5. Verdrängen Sie Bilder zersetzter Mäuse und madenwimmelnder Kadaver.
6. Überprüfen Sie, was Sie außer Tellern und Platten noch im unteren Schrank haben.
7. Die Schale mit den Ostersüßigkeiten und die Keksdose sehen gut aus. Suchen Sie weiter.
8. Nehmen Sie vorsichtig die Plastiktüte mit den Schokoladeneiern und -hasen heraus.
9. Fassen Sie Mut.
10. Öffnen Sie die Tüte ganz.
11. Kehren Sie von der offenen Balkontür wieder in die Küche zurück.
12. Vermeiden Sie zu atmen.
13. Schauen Sie nochmal in die Tüte.
14. Freuen Sie sich: Es ist kein totes Tier.
15. Stellen Sie fest, dass zwischen den Schokoladeneiern auch ein gekochtes Ei war.
16. Das beim Transport im Zug offenbar zerbrochen ist.
17. Kippen Sie, bevor der Fluchtreflex einsetzt, alles in die Spüle und befördern in der gleichen Bewegung das Ei samt Tüte in den Müll.
18. Versuchen Sie nicht zu kotzen.
19. Knoten Sie die Mülltüte zu und rennen Sie in den Hof zur großen Mülltonne, rein damit, Deckel zu.
20. In angemessener Entfernung atmen Sie wieder ein.
21. Punkt 18 ist unrealistisch. Grämen Sie sich nicht, wenn Sie an der Stelle versagt haben.

Viel Erfolg.

Mit Bleistift denken

Isa erzählt ein bisschen von Zwischenstationen auf dem Weg zu ihrem Beruf als Literaturübersetzerin. Vor allem aber zeigt sie uns dabei ein altes, gründlich bearbeitetes Blatt, eine Manuskriptseite, auf welcher der Ausgangstext von den Anmerkungen, Übersetzungsüberlegungen und Pfeilen völlig umrankt und überwuchert wird. (Unlesbar war er vor dieser gründlichen Bearbeitung auch schon, für mich jedenfalls.) Wunderschön. Ich liebe solche Skizzentextblätter. Einmal habe ich mir von einer Studentin das Blatt mit ihren vielfarbigen Überlegungen um ein zu interpretierendes Gedicht herum schenken lassen, einfach weil ich dieses gekritzelte Denken so gerne anschaue. Schön.

O tempora

Wenn ich sagte, bei meinen Studentinnen und Studenten inzwischen kaum noch etwas vorauszusetzen, klänge das viel kulturpessimistischer als es gemeint wäre. Tatsächlich habe ich aber gelernt, dass meine Studenten und mich inzwischen fast eine Generation trennt, gefühlt zwei. Wenn ich nach Ereignissen vor der Wende frage (Rezeption eines politisch engagierten chilenischen Lyrikers beispielsweise, ob sich die ihrer Einschätzung nach in West- und Ost-Deutschland unterschieden haben könnte), dann muss mir klar sein, dass ich mich bei 1993 Geborenen damit auf reines Geschichtswissen beziehe. Die Vorwendezeit können sie beim besten Willen und größtem Engagement nicht erinnern. Entsprechend muss ich auch bei Lektüre-Erfahrungen einfach einen Schritt zurücktreten – die Voraussetzungen sind nun mal nicht (mehr) vergleichbar. Ich weiß nicht, ob sie weniger gelesen haben als wir Studienanfänger vor 15 Jahren, sicher aber anderes. (Ich freue mich trotzdem über jedes schon gelesene oder zum vom Hörensagen bekannte Buch.)
Dennoch. Da war dann diese Gruppe Studenten, eine junge Frau und zwei junge Männer, ich würde sie auf Mitte 20 schätzen, die uns im irgendwo zwischen Hannover und Nordsee im Zug Richtung Norden gegenüber saßen und viele Kilometer lang rätselten, wie die Vorwahl von Niedersachsen sei. Ein Gleichaltriger im gleichen Wagen schaltete sich irgendwann ein und erklärte, jede Stadt oder jeder Landkreis habe seine eigene Vorwahl, sie müssten also für die richtige Vorwahl schon mehr wissen als das Bundesland. Die anderen konnten das nicht glauben, in Hamburg aufgewachsen waren sie, so ihre Erklärung, stets davon ausgegangen, dass jedes Bundesland eine eigene Vorwahl habe. Und nur eine. Der Hilfsbereite nannte als Beispiel die Vorwahl von Emden. Da käme er her, das sei ganz sicher nicht die Vorwahl für das ganze Land. Die Blicke blieben skeptisch. Vielleicht, möglicherweise, eventuell in Niedersachsen; um den Einheimischen nicht zu verärgern wolle man das – für die Dauer der Fahrt, sagten die Blicke – akzeptieren. In Schleswig-Holstein sei das aber wie in Hamburg und Bremen. Da gebe es auch für das ganze Land nur eine Vorwahl. Eine 040 für alle. (Wie die Vorwahl von Schleswig-Holstein lautete, fiel ihnen nicht ein, aber wann muss man denn auch auf Festnetz ins Nachbarland telefonieren.)
Vorwahlen gehören nun wahrlich nicht zum erwarteten mitgebrachten Fachwissen meiner beruflichen Spezialisierung, auch früher nicht, und ich werde nie in die Verlegenheit kommen, Telefonnummern abzufragen. (Hoffe ich.) Und immerhin kannten die jungen Leute aus dem Stand gleich vier Bundesländer, da wäre möglicherweise auch noch mehr drin gewesen. Dennoch hinterließ mich diese Szene etwas ratlos. Ja, vielleicht doch ein Anflug von Kulturpessimismus.
Ratlos nicht zuletzt vielleicht, weil sie auf ihren Smartphones nach dem Prinzip von trial and error zwar verschiedene Vorwahlen zur vorhandenen Rufnummer einer Mitfahrgelegenheit ausprobierten, die aber eventuell auch eine Handynummer war, auch das war nicht sicher, jedoch keiner aus dieser Generation nach langem Zweifeln und Rätseln einfach mal googelte, wie sie denn nun wirklich sei, die gesuchte Vorwahl von Niedersachsen. Etwas auf dem mitgeführtem Smartphone googlen! Das sollte man doch als Kernkompetenz voraussetzen dürfen!
Ich setze nichts mehr voraus.
(Die Nummer der Auskunft ist 11880. Ohne Vorwahl.)