Die Berge hängen unsichtbar hinter Wolken, Nebel und Smog, sonst würde ich sie Euch gerne mal zeigen. Am Abend ist im Centro Cultural Mapocho die Eröffnung des Kongresses. Das Centro Cultural Mapocho ist der alte Bahnhof, ein imposantes Gebäude, in dem auch die Buch- und andere Messen stattfinden.
Leider ist es kein Bahnhof mehr, denn Chile hat die Eisenbahn abgeschafft – was eigentlich nicht zu verstehen ist, denn wenn ein Land für die Eisenbahn gemacht zu sein scheint, dann Chile mit seiner „loca geografía“. Man bräuchte nur eine einzige lange Bahnlinie, nur einen Schienenstrang, oder zwei parallele, damit man gleichzeitig in den Süden und den Norden fahren könnte, und damit wäre das ganze Land versorgt. (Der chilenische Anti-Poet Nicanor Parra meint zum Bahnverkehr in Chile folgendes: La locomotora del tren instantáneo
está en el lugar de destino (Pto. Montt)
y el último carro en el punto de partida (Stgo.) la ventaja que presenta este tipo de tren consiste en que el viajero llega
instantáneamente a Puerto Montt en el
momento mismo de abordar el último carro en Santiago
lo único que debe hacer a continuación
es trasladarse con sus maletas
por el interior del tren
hasta llegar al primer carro
una vez realizada esta operación
el viajero puede proceder a abandonar
el tren instantáneo que ha permanecido inmóvil
durante todo el trayecto
Observación: este tipo de tren (directo)
sirve sólo para viajes de ida [Aus: Hojas de Parra.] )
Die Eröffnung findet im Untergeschoss des Centro Cultural statt und lässt mir fast drei Stunden Zeit, über Sinn und Unsinn dieser Reise nachzudenken. Wir sitzen in einer Art leerem Beton-Schwimmbecken auf Klappstühlchen oder auf den Stufen am Rand, ich friere mir langsam die Beine ab, während vorne erst eine geschlagene Stunde lang Grußworte gelesen und zur Versicherung der gegenseitigen Freundschaft Bücher unterschrieben werden. Und im Anschluss wird ein Buch vorgestellt, für das zahllose Dichter und bildende Künstler sich vom Nationalepos Araucana haben inspieren lassen. Die Installationen der Künstler sind draußen zu bewundern, aber die Gedichte sollen wir uns anhören – gleich 16 Dichter haben sie eingeladen, ihre Texte bei der Kongresseröffnung zu lesen. Ich liebe Lyrik und ich arbeite furchtbar gerne mit Gedichten, aber so etwas strapaziert meine Geduld. Eine schier endlose Lyrik-Lesung, die furchtbar gut gemeint ist und an der sicher auch gute Leute beteiligt waren, die man aber hinter ihrem Tisch nicht sehen konnte und die fast alle ihre Lesung mit umständlichen Dankesworten für die Einladenden begannen, und deren Texte ich dann einmal höre, ohne die Wörter zu sehen oder einen spitzen Stift zur Hand zu haben, das ist nicht meins. Wäre es noch länger gegangen, sie hätten mich eine veritable Identitätskrise gelesen. Ein Drittel der Poeten widmetete das Gelesene den gefangenen Mapuche, die sich im Hungerstreik befinden, ein Dichter schloss sich dieser Widmung an und ergänzte dann, dass seine Lektüre außerdem den Minenarbeitern im Norden gewidmet sie, denn dort, so ergänzte er etwas schamhaft, komme er her. Höflicher Applaus für diese Ergänzung. Das Auditorium begleitete die Lesungen etwa zur Hälfte frenetisch, die andere Hälfte war eher still oder schlich sich irgendwann raus. Der anschließende „Cóctel“ zur Eröffnung löste sich dann auch entsprechend schnell auf. Ich kannte (oder erkannte) niemanden, den Namen nach müsste ich eigentlich einige kennen, aber Namensschilder gibt es erst morgen und die Namen, zu denen ich bereits ein Gesicht habe, waren nicht da, auch mein Dichter war verhindert, nur ein älterer Dozent der Universität Arica, der kaum mehr Leute kannte als ich, blieb treu an meiner Seite. Fröstelnd erklärten wir das Fest dann relativ bald für beendet. Morgen geht es hier mit Arbeit weiter, ich hoffe, es gibt zwischendurch auch was zu erzählen. Und Licht und Fotos. [Apropos Licht: Oh, Stromausfall!]