Osterwunder

Gestern traute er sich aus der Umarmung des Großvaters ein paar Schritte hinaus, lief tipp tapp lachend auf die Großmutter zu, die vor ihm auf dem Boden saß, und warf sich nach drei bis sieben Schritten glucksend in ihre Arme.
Heute löste er sich von der Stuhllehne, einen Zwieback in der linken Hand, bekam stehend zum Ausgleich einen zweiten Zwieback in die rechte, balancierte kurz aus – und ging los. Und lief. Vom Stuhl zum Sofa. Von mir zur Omi. Vom Klavier zum Esstisch. Und dann durch den ganzen Flur, in die Küche, dreht in der Küche um, nahm eine scharfe Kurve ins Wohnzimmer, trat eine Wäscheklammer weg und kam juchzend zu uns zurück. Jetzt muss er noch lernen, sich ohne Kletterhilfe auf die Füße zu stellen. (Und sonst auch noch das ein oder andere.) Aber der Knoten ist geplatzt, er läuft. Strahlend, stolz.

Karfreitag

Magen-Darm-Infekt. Unter den einfachen Krankheiten die würdeloseste.
Karfreitag im Elternhaus von Percanta. Alle waren wir auf die malade Schwägerin eingestellt, die mit einem frisch operierten Kreuzbandriss aus dem Auto stieg und sich wacker mit ihren blauen Krücken (pardon: Unterarmstützen) die 17 steilen Stufen zwischen Kinderzimmer-Ebene und Wohnzimmer hoch- und runterkämpft. Auch das Söhnchen ist aber mit Infekt hergekommen, Fieber und Durchfall hatte er, ist aber soweit schon wieder gesund. Allerdings hat er offenbar seine Großmutter angesteckt, die nun mit flauem Gefühl im Magen das Osteressen für die Großfamilie bereitet, Fisch und Lamm und Torte. Tapfer. Mich kostet es schon Überwindung, diese Worte zu tippen. bah, Lebensmittel. Auch ich habe einen Magen-Darm-Infekt und liege seit gestern Nacht fiebrig matt im Bett, wenn ich nicht gerade ins Bad renne oder taumele, was in sehr hoher Frequenz geschieht. So hohe Frequenz, dass der Vater der Sippe Infusionen aus dem Krankenhaus geholt hat. Bruder #1 gibt den Hausarzt, er hat sie gemischt und mir einen Zugang gelegt, und so liege ich nun im Kinderzimmer und habe einen Tropf über mir baumeln, über den ich wieder etwas Flüssigkeit bekomme und inzwischen auch wirkende Mittel gegen Übelkeit, gegen Durchfall muss ich versuchen etwas zu schlucken. Es hilft und inzwischen bin ich schon bei der zweiten Tasse Kamillentee angelangt, erfolgreich. Bruder #2 schließlich steckt im Examen und versucht in einem anderen Zimmer zu lernen und sich mit sonst nichts anzustecken.
Aber wenn an dieser Ostergeschichte was dran ist, stehen wir alle spätestens Sonntag froh gesundet auf, das war doch so. Und können dann mit frischem Mut die kommende Woche wieder zur Arbeit gehen.

Ich bin Arbeiterin

1. Was machst du beruflich?

Ich bin zu Hause bei meinen drei Töchtern, und ich arbeite in einer Papierfabrik.

2. Was ist gut – was ist nicht so gut daran?

Meine Töchter sind wunderbar, und als Gastronomentochter verstehe ich es auch, einen Haushalt zu führen.

Die Arbeit in der Papierfabrik ist furchtbar. Meine Händen reißen blutig auf, ich atme Staub ein, muss ständig husten, was mir wegen meiner Tuberkulose, die ich einmal hatte und von der niemand wissen darf, denn das ist eine Armeleutekrankheit, immer wieder Sorgen macht. Die Mädchen neben mir kommen auch aus dem Osten, aber trotzdem haben wir uns nicht viel zu erzählen. Früher ist es uns gut gegangen, meine Mutter und ich trugen bis zum Krieg schöne Kleider vom Schneider aus Stralsund, wir haben hart gearbeitet, aber wir waren elegant. Mein Vater hat Geige gespielt und Samstag war Tanz.

Nun arbeite ich in der Papierfabrik, weil wir uns wieder etwas aufbauen möchten. Die Mädchen sollen in einem eigenen Haus aufwachsen, und wir möchten wieder ganz zu Hause sein.

3. Was wäre dein absoluter Traumberuf?
Ich wäre gerne Sportlehrerin geworden.

4. Warum gerade dieser?
In der Schule hatte ich eine Sportlehrerin, die ich sehr bewundert habe. Sie konnte turnen und laufen, aber auch segeln und vor allem leicht und elegant schwimmen. Ich habe immer gerne geturnt, obwohl ich groß für Mädchen war, war ich geschickt am Reck. Später konnte ich auch gut ruhig sitzen, nähen und stricken, aber in der Schule habe ich die Turnstunden geliebt. Am Strand sind wir Freundinnen immer auf dem Geländer der Seebrücke balanciert und haben Rad geschlagen. Und ich habe gerne den kleineren Mädchen beigebracht, wie man einen Stein weit in die Ostsee wirft, wie man ihn springen lässt bei ruhiger See, und wie man einen sicheren Kopfstand macht, konnte ich auch zeigen. Vor allem aber wollte ich vielleicht selber schwimmen lernen. Denn obwohl ich am Meer aufgewachsen bin, durfte ich nie schwimmen lernen. Als kleines Mädchen wäre ich einmal fast ertrunken, und dann wollten meine Eltern mich nie wieder im Wasser sehen.
Sie wollten mich auch schützen, als sie mich kurz vor dem Abitur vom Lyzeum nahmen. Man vermutete Rheuma bei mir, aber nach einem Jahr war es vorbei – und die Schule auch, unwiederbringlich. Ich habe später meinen W. geheiratet, der Soldat war, so blieb ich noch bei meinen Eltern und half ein bisschen im Restaurant, als die Russen da waren, mussten wir den Betrieb für sie aufrecht erhalten. Nach dem Krieg musste ich fort aus der Heimat und in den Westen fliehen. Als Flüchtlingsmädchen darf man dann keine Ansprüche mehr stellen, bei der Schwiegermutter nicht und auch sonst nicht im Leben. Ich konnte froh sein über die Wohnung auf dem Hof der Matratzenfabrik, denn groß genug war sie und wir hielten Hühner im Hof, und ich konnte wohl froh sein, dass ich als Ungelernte aus Vorpommern eine Arbeit hatte. Glücklich war ich nicht bei der Arbeit, glücklich war ich bei meinen Lieben.

(U.V., *1919. Meine Großmutter.)

Ich bin Laborantin

1. Was machst du beruflich?

Ich arbeite bei Carl Zeiss Jena im Labor.

2. Was ist gut – was ist nicht so gut daran?

An meinem Beruf mag ich, dass ich präzise arbeiten muss, dass ich optische Geräte von hoher Qualität herstelle. Zumindest bin ich daran beteiligt. In der Firma arbeite ich an einem sauberen Arbeitsplatz, den ich natürlich akkurat in Ordnung halte, ich muss sehr genau messen, all das liegt mir.
Leider darf ich nur das Handwerk ausüben, und das nicht einmal als gelernte Technikerin. Lieber würde ich selbst Geräte entwickeln, selbst die Brechungen der Gläser ausrechnen, selbst festlegen, wo und in welchem Winkel geschliffen werden muss. Lieber als Zahlen in Tabellen eintragen würde ich diese Zahlen definieren.

3. Was wäre dein absoluter Traumberuf? und 4. Warum gerade dieser?


Eigentlich wollte ich Naturwissenschaftlerin werden. Physik hätte mich interessiert, Mathematik, Chemie, aber auch Biologie. Ich war auf dem Lyzeum natürlich in allen Fächern gut, sehr gut war ich. Mir liegen nicht nur die Naturwissenschaften, ich liebe auch Gedichte, Musik und Sprachen. Auch war ich sportlich, mein größter Erfolg war die mitteldeutsche Meisterschaft im Speerwurf. Aber besonders interessiert mich doch die Natur der Dinge. Außerdem fühle ich mich wohl, wenn Zahlen stimmen. Zahlen haben eine eigene Ästhetik, Formeln ziehen mich in ihrer Eleganz an. Mathematik, Chemie, das ist eine exakte Wissenschaft, ich liebe die Genauigkeit, die Sicherheit, die Präzision in den Antworten.

Ich habe mir oft vorgestellt, an der Univsersität in Jena Chemie zu studieren oder Physik, eigentlich wollte ich vor allem studieren, um den Beruf, den ich dann ausüben würde, ging es nur in zweiter Linie. Studentin wollte ich sein! Ich wollte die Professoren hören, ihre Theorien lernen und dann im Labor experimentieren, wollte messen und wiegen und überlegen, was ich womit kombinieren könnte, um zu Lösungen zu kommen. Habe mir vorgestellt, immer tiefer in die Formeln zu dringen, alleine an meinem Schreibtisch immer komplexere Formeln aufzuschreiben, mir wie Beethoven, der nicht hören konnte und doch komponierte, in meinen Heften die Reaktionen von Elementen auszurechnen, auch wenn ich sie nicht vor mir hätte. Gerne hätte ich gespürt, wie mein Verstand immer schärfer wird und immer näher an die Lösungen von Problemen herankommt, bis schließlich das Ergebnis klar und sauber auf dem Papier steht.
Doch nach dem Abitur in Arnstadt – ich hatte das beste Abitur der Stadt – durfte ich nicht studieren. Mein Vater meinte, das sei nichts für Frauen, von den Auszeichnungen und meinem Fleiß ließ er sich nicht beeindrucken
. Die guten Noten, mein Erfolg in der Schule, dass ich seit langem jüngere Schüler in Mathematik unterrichtete, das war selbstverständlich – aber doch ein Privileg meiner Mädchenjahre. So ging ich im Labor arbeiten, so nah an meiner erträumten Zukunft wie möglich. Meine jüngeren Brüder durften studieren, der eine hat dann auch die geliebten Naturwissenschaften studierte, ist Chemiker geworden und Apotheker, der andere wurde Zahnarzt. Ich selbst durfte zwar nicht an die Universität, aber meine Töchter habe ich später genau wie den Sohn studieren geschickt.

(E.S., *1909. Meine Großmutter.)

 

(Fragebogen bei Isa mitgenommen)