Tag 9, 23. Februar 2010: „Magic“. Drei parallele Welten, horizontal. Avenida Santa Fe.
Heute bin ich stundenlang herumgelaufen, erst auf dem Spielplatz mit einem laufenlernenden Kind, dann auf der Suche nach einem neuen UV-Filter für die Kamera erst in die falsche Richtung gegangen, dann – nach Erfolg in einem echten Geheimtipp, der Laden in einem Wohnhaus versteckt, auf Anfrage wurde ich vom Portier hingerbacht – einen sehr großen Spazierrundgang mit der Karre gemacht. Und gut 150 Fotos. Heute sah es lange nach einem Fleischfoto aus, denn wir waren mittags mit Baby Bs Großmutter an einer Parrilla, einem Grill also, große Stücke Rind mit Ensalada Rusa essen.
Die Mädchen in der mittleren Etage des Bildes trinken übrigens Mate, dazu wird es nochmal einen extra Eintrag geben. Und an den schwarz-gelben Taxis erkennt man, dass wir in Buenos Aires sind.
Nachdem ich vorhin über meine Erlebnisse mit Demonstrationen in Buenos Aires schrieb, bin ich prompt in eine kleinere geraten, auf der Straße war vor allem die Vereinigung der Prostituierten und Frauenrechtler, die in erster Linie Freiheit für ein junges Mädchen forderten, Romina Tejerina. Sie wurde fast noch als Kind vergewaltigt, wurde schwanger, bekam das Kind alleine zu Hause und brachte es direkt nach der Geburt um, sie ist heute etwa 17 Jahre alt und sitzt noch im Gefängnis. Außer Freiheit für Romina forderten die Demonstrantinnen vor allem, soweit ich das auf den Schildern und aus den Gesängen erkennen konnte, das Recht auf Abtreibung.
Keine zwei Ecken weiter sprach mich ein Herr in Anzug und Krawatte auf Baby B an, wie freundlich, wie niedlich, wir unterhielten uns auf dem Weg über die Straße, dann kam die übliche Frage, wo ich herkomme. Aus Deutschland, der Herr war dann sehr interessiert und fragte mich direkt nach Möglichkeiten, ein Kind aus Deutschland zu adoptieren. Er und seine Frau wollten ein Kind adoptieren, aber das sei hier schwierig, sie hätten nun Deutschland ins Auge gefasst, vielleicht Polen. Wir haben uns dann für ein oder zwei weitere Cuadras (Straßenzüge, manzanas, Häuserblöcke, die Längeneinheit schlechthin innerhalb von Städten) über das Adoptionsrecht und unterschiedliche Chancen und Bedingungen unterhalten. Ich habe ihm keine Hoffnung für ein deutsches Baby gemacht, er bat mich trotzdem, mir seine Visitenkarte und Mail geben zu dürfen, falls ich mal von einer Familie höre, die ein Kind zur Adoption freigeben wollten. Er klang ein bisschen verzweifelt.
Zufällig hatten wir ein ähnliches Gespräch gestern Abend hier zu Hause, so dass ich ein bisschen über das argentinische Recht informiert bin. Wegen der Vorfälle während der Militärdikatur ist hier inzwischen offene Adoption Pflicht, die Namen aller Beteiligten sind immer bekannt, und es sei auch üblich, die Kinder von vornherein über ihren Status zu informieren.
In meiner Generation war das anders, und die Offenheit heute ist wichtig: Während der Diktatur verschwanden etwa 30.000 Menschen, und die Wunden sind noch offen. Die weltweit bekannten Mütter der Plaza de Mayo setzten sich zunächst dafür ein, dass die Verschwundenen lebend wieder auftauchen sollten. Bald 30 Jahre nach Ende der Diktatur haben sich die Forderungen (vereinfacht gesagt) dahin verschoben, dass man zumindest wissen möchte, was mit den Entführten und Getöteten passiert ist und wo die Leichen zu finden sind. Außerdem gibt es die Suche der Abuelas, der Großmütter, nach den Enkeln – und die korrespondierende Vereinigung Hijos (Kinder / Söhne). Diese beiden gründen sich auf einem der für mich furchbarsten Aspekte innerhalb der sowieso schon unfassbaren Mord- und Foltergeschichte dieses Militärregimes. Mütter von kleinen Kindern wurden oft mit ihren Kindern zusammen mitgenommen und inhaftiert, und schwangere Frauen haben ihre Babys in den Foltergefängnissen bekommen. Die Frauen (und die dazugehörenden Männer und Väter) wurden meist umgebracht, und die Kinder und Neugeborenen wurden von Militärs oder von Paaren, die den Militärs nahestanden, die regimekonform waren und die um diese Möglichkeit wussten, was schon genug sagt, adoptiert. Die Kinder wuchsen also bei den Mördern ihrer Eltern auf und hielten diese für ihre eigentliche Familie.
Die Abuelas haben eine DNA-Datenbank angelegt, wo sich junge Menschen, die den Verdacht haben, auf diese Art adoptiert worden zu sein, testen lassen können. Das Wissen um die Existenz dieser Zwangsadoptionen hat in meiner Generation auch zur Folge gehabt, dass die meisten irgendwann ernsthaft hinterfragt haben, ob sie wirklich die Kinder ihrer Eltern sind. Selbst in unserer Familie hier, die politisch verfolgt wurde und als Teil des Widerstands sogar in den heutigen Geschichtsbüchern auftaucht, haben die älteren Söhnen diese Zweifel eine Zeit lang gehegt und mit ihren Eltern ausdiskutiert. Es reichte, dass es von der Schwangerschaft kein Foto gab, um in eine existentielle Krise zu stürzen. Die Folgen bei den Adoptivkindern, bei denen sich der Verdacht bewahrheitet, sind sehr unterschiedlich. Es gibt die glückliche Wiedervereinigung mit der Herkunftsfamilie (bei der natürlich immer ein Teil, die Kinder der Alten und die Eltern der nun jungen Erwachsenen, fehlt), die Annahme des eigentlichen, des alten Namens, die Versuche, mit der neuen Identität eins zu werden. Nicht alle können oder wollen diesen durch die neue Identität implizierten Bruch mit dem alten Leben und mit den als solche erlebten Eltern vollziehen, und so gibt es auch einige Fälle, wo die Kinder sich letztlich weigern, diese neue Wahrheit als ihre anzunehmen, und die ganz in ihrem bisherigen Leben bleiben, nicht die Familie und das politische Lager mit dem Namen wechseln. Sie sind ja mit einer politischen Ideologie aufgewachsen und sollen plötzlich zu den anderen, zu den Gegnern und Opfern gehören. Und natürlich gibt es auch Mittelwege, junge Menschen, die zwar ihre gewohnten Namen behalten, aber doch Kontakt mit den wiedergefundenen Großeltern, Tanten, Cousins pflegen. (Ich glaube, es gab in Deutschland mal eine Geo-Reportage über zwei junge Frauen in so einer Situation.)
Eine Situation, bei der mich schon der Versuch, mich in die Lage dieser Menschen zu denken, schier zerreißt.
Heute Abend kam dann zufällig in den Nachrichten ein Beitrag über einen jungen Mann, der als 101. „hijo“ von den Großmütter der Plaza de Mayo identifiziert wurde und der nun, mit Mitte 30, von seiner alternativen Lebensgeschichte und seinen eigentlichen Eltern – deren Namen in den Nachrichten genannt wurden – erfahren hat. Heute hat er seinen Großvater kennengelernt. Die Filmaufnahmen zeigten einen schmalen Mann, der breit lächelnd, aber ziemlich gefasst im Büro der Madres durch die Menge der anderen Mütter und Großmütter geschoben wurde, alle streichelten ihn, klopften ihm auf die Schultern, reichten ihn sicher in Gedanken an ihre vermissten Kinder und Enkel weiter, bis er in der Mitte des Raumes bei seinem Großvater ankam, der ihn umarmte und dann seine Hand wie die eines Box-Sieger hochriss. Sie haben alle nicht geweint, ich dagegen Rotz und Wasser.