40 Tage Buenos Aires [9]

Tag 9, 23. Februar 2010: „Magic“. Drei parallele Welten, horizontal. Avenida Santa Fe.

Heute bin ich stundenlang herumgelaufen, erst auf dem Spielplatz mit einem laufenlernenden Kind, dann auf der Suche nach einem neuen UV-Filter für die Kamera erst in die falsche Richtung gegangen, dann – nach Erfolg in einem echten Geheimtipp, der Laden in einem Wohnhaus versteckt, auf Anfrage wurde ich vom Portier hingerbacht – einen sehr großen Spazierrundgang mit der Karre gemacht. Und gut 150 Fotos. Heute sah es lange nach einem Fleischfoto aus, denn wir waren mittags mit Baby Bs Großmutter an einer Parrilla, einem Grill also, große Stücke Rind mit Ensalada Rusa essen.
Die Mädchen in der mittleren Etage des Bildes trinken übrigens Mate, dazu wird es nochmal einen extra Eintrag geben. Und an den schwarz-gelben Taxis erkennt man, dass wir in Buenos Aires sind.
Nachdem ich vorhin über meine Erlebnisse mit Demonstrationen in Buenos Aires schrieb, bin ich prompt in eine kleinere geraten, auf der Straße war vor allem die Vereinigung der Prostituierten und Frauenrechtler, die in erster Linie Freiheit für ein junges Mädchen forderten, Romina Tejerina. Sie wurde fast noch als Kind vergewaltigt, wurde schwanger, bekam das Kind alleine zu Hause und brachte es direkt nach der Geburt um, sie ist heute etwa 17 Jahre alt und sitzt noch im Gefängnis. Außer Freiheit für Romina forderten die Demonstrantinnen vor allem, soweit ich das auf den Schildern und aus den Gesängen erkennen konnte, das Recht auf Abtreibung.
Keine zwei Ecken weiter sprach mich ein Herr in Anzug und Krawatte auf Baby B an, wie freundlich, wie niedlich, wir unterhielten uns auf dem Weg über die Straße, dann kam die übliche Frage, wo ich herkomme. Aus Deutschland, der Herr war dann sehr interessiert und fragte mich direkt nach Möglichkeiten, ein Kind aus Deutschland zu adoptieren. Er und seine Frau wollten ein Kind adoptieren, aber das sei hier schwierig, sie hätten nun Deutschland ins Auge gefasst, vielleicht Polen. Wir haben uns dann für ein oder zwei weitere Cuadras (Straßenzüge, manzanas, Häuserblöcke, die Längeneinheit schlechthin innerhalb von Städten) über das Adoptionsrecht und unterschiedliche Chancen und Bedingungen unterhalten. Ich habe ihm keine Hoffnung für ein deutsches Baby gemacht, er bat mich trotzdem, mir seine Visitenkarte und Mail geben zu dürfen, falls ich mal von einer Familie höre, die ein Kind zur Adoption freigeben wollten. Er klang ein bisschen verzweifelt.
Zufällig hatten wir ein ähnliches Gespräch gestern Abend hier zu Hause, so dass ich ein bisschen über das argentinische Recht informiert bin. Wegen der Vorfälle während der Militärdikatur ist hier inzwischen offene Adoption Pflicht, die Namen aller Beteiligten sind immer bekannt, und es sei auch üblich, die Kinder von vornherein über ihren Status zu informieren.
In meiner Generation war das anders, und die Offenheit heute ist wichtig: Während der Diktatur verschwanden etwa 30.000 Menschen, und die Wunden sind noch offen. Die weltweit bekannten Mütter der Plaza de Mayo setzten sich zunächst dafür ein, dass die Verschwundenen lebend wieder auftauchen sollten. Bald 30 Jahre nach Ende der Diktatur haben sich die Forderungen (vereinfacht gesagt) dahin verschoben, dass man zumindest wissen möchte, was mit den Entführten und Getöteten passiert ist und wo die Leichen zu finden sind. Außerdem gibt es die Suche der Abuelas, der Großmütter, nach den Enkeln – und die korrespondierende Vereinigung Hijos (Kinder / Söhne). Diese beiden gründen sich auf einem der für mich furchbarsten Aspekte innerhalb der sowieso schon unfassbaren Mord- und Foltergeschichte dieses Militärregimes. Mütter von kleinen Kindern wurden oft mit ihren Kindern zusammen mitgenommen und inhaftiert, und schwangere Frauen haben ihre Babys in den Foltergefängnissen bekommen. Die Frauen (und die dazugehörenden Männer und Väter) wurden meist umgebracht, und die Kinder und Neugeborenen wurden von Militärs oder von Paaren, die den Militärs nahestanden, die regimekonform waren und die um diese Möglichkeit wussten, was schon genug sagt, adoptiert. Die Kinder wuchsen also bei den Mördern ihrer Eltern auf und hielten diese für ihre eigentliche Familie.

Die Abuelas haben eine DNA-Datenbank angelegt, wo sich junge Menschen, die den Verdacht haben, auf diese Art adoptiert worden zu sein, testen lassen können. Das Wissen um die Existenz dieser Zwangsadoptionen hat in meiner Generation auch zur Folge gehabt, dass die meisten irgendwann ernsthaft hinterfragt haben, ob sie wirklich die Kinder ihrer Eltern sind. Selbst in unserer Familie hier, die politisch verfolgt wurde und als Teil des Widerstands sogar in den heutigen Geschichtsbüchern auftaucht, haben die älteren Söhnen diese Zweifel eine Zeit lang gehegt und mit ihren Eltern ausdiskutiert. Es reichte, dass es von der Schwangerschaft kein Foto gab, um in eine existentielle Krise zu stürzen. Die Folgen bei den Adoptivkindern, bei denen sich der Verdacht bewahrheitet, sind sehr unterschiedlich. Es gibt die glückliche Wiedervereinigung mit der Herkunftsfamilie (bei der natürlich immer ein Teil, die Kinder der Alten und die Eltern der nun jungen Erwachsenen, fehlt), die Annahme des eigentlichen, des alten Namens, die Versuche, mit der neuen Identität eins zu werden. Nicht alle können oder wollen diesen durch die neue Identität implizierten Bruch mit dem alten Leben und mit den als solche erlebten Eltern vollziehen, und so gibt es auch einige Fälle, wo die Kinder sich letztlich weigern, diese neue Wahrheit als ihre anzunehmen, und die ganz in ihrem bisherigen Leben bleiben, nicht die Familie und das politische Lager mit dem Namen wechseln. Sie sind ja mit einer politischen Ideologie aufgewachsen und sollen plötzlich zu den anderen, zu den Gegnern und Opfern gehören. Und natürlich gibt es auch Mittelwege, junge Menschen, die zwar ihre gewohnten Namen behalten, aber doch Kontakt mit den wiedergefundenen Großeltern, Tanten, Cousins pflegen. (Ich glaube, es gab in Deutschland mal eine Geo-Reportage über zwei junge Frauen in so einer Situation.)
Eine Situation, bei der mich schon der Versuch, mich in die Lage dieser Menschen zu denken, schier zerreißt.

Heute Abend kam dann zufällig in den Nachrichten ein Beitrag über einen jungen Mann, der als 101. „hijo“ von den Großmütter der Plaza de Mayo identifiziert wurde und der nun, mit Mitte 30, von seiner alternativen Lebensgeschichte und seinen eigentlichen Eltern – deren Namen in den Nachrichten genannt wurden – erfahren hat. Heute hat er seinen Großvater kennengelernt. Die Filmaufnahmen zeigten einen schmalen Mann, der breit lächelnd, aber ziemlich gefasst im Büro der Madres durch die Menge der anderen Mütter und Großmütter geschoben wurde, alle streichelten ihn, klopften ihm auf die Schultern, reichten ihn sicher in Gedanken an ihre vermissten Kinder und Enkel weiter, bis er in der Mitte des Raumes bei seinem Großvater ankam, der ihn umarmte und dann seine Hand wie die eines Box-Sieger hochriss. Sie haben alle nicht geweint, ich dagegen Rotz und Wasser.

Fotografenherzkasper

Fotografieren ist ja eine aufregende Angelegenheit. Víctor meinte gestern, Fotografen brauchten viel Geduld – bestimmt, ganz sicher sogar: Meine erste richtige Kamera kaufte ich mir mit ungefähr 15 und verbrachte dann einen ganzen Tag unseres Dänemarkurlaubs in einem Tümpel stehend, Kamera im Anschlag, weil ich einen dieser Frösche fotografieren wollte. Ich war sehr geduldig, sehr. Mit meiner zweiten richtigen Kamera (der Contax) sind mir dann einige der ersehnten Goldaugen-Froschbilder gelungen, Froschgesichter in Nahaufnahme, Frosch an Seerose, Frosch an Frosch. Die Geduld hat sich ausgezahlt, ich musste nur 18 Jahre warten.
Es geht aber auch mit ein bisschen mehr Action, man muss auch gute Nerven haben und sich schnell entscheiden können. Als ich 2001/02 hier war und nachts die Demonstranten fotografierte, die einen Präsidenten nach dem anderen stürzten, hatte ich meinen Eltern versprechen müssen, nicht nachts rauszugehen, nicht an den Protesten teilzunehmen. Beinahe hätte mich eine Fernsehkamera internationaler Nachrichtenkanäle verraten, in deren Bild ich von der Balustrade gesprungen bin, von der aus ich einen guten Überblick hatte, außerdem war die Szene an dieser Stelle auch nachts gegen 4 bestens ausgeleuchtet. Ich musste es meiner Familie dann beichten, bevor sie mich eventuell in den Abendnachrichten sähen, die in jenen Wochen täglich einen Beitrag über den Aufruhr in Buenos Aires hatte. Aber das Foto ist gut geworden, die Demonstranten gehören zu meinen Lieblingsserien. Über ein verpasstes Foto kann ich mich tagelang, wochenlang, jahrelang ärgern. Gestern habe ich ganz ohne Gefahr für Leib und Leben einen Augenblick zu lang gezögert, sonst wäre das „Foto des Tages“ vielleicht eine dunkellockige Schönheit geworden, die wegen des Wetter über ihrer Jeans knallrote Gummistiefel trug, einen ebenso roten Schal und roten Lippenstift. Sie sah umwerfend aus, aber kaum ich hatte mich entschlossen, sie zu fragen, ob ich das Foto machen dürfte, war ich von Baby B abgelenkt und die Frau schon zwischen so vielen anderen Passanten, dass der Moment vorbei war.
Einen kleinen Herzkasper hatte ich allerdings heute ganz ohne Motiv vor Augen, als ich mit Kind und Kamera über der Schulter jonglierte und mir eines von beiden abzurutschen drohte. Das Geräusch eines Objektivs auf der Kante eines Metalltischs ist nicht schön. Gar nicht. Das eines fallenden Kindes allerdings auch nicht. Und so war die beste Investition der letzten Wochen sicherlich der UV-Filter, dessen Glas am Rand nun gesplittert ist, aber das Objektiv selbst, das gute Stück, hat nichts abgekommen. Uff.
Es geht also weiter mit Fotos an dieser Stelle.

40 Tage Buenos Aires [7]

Tag 7, Sonntag, 21. Februar 2010: Confitería „El Olmo“ (Die Ulme), Ecke Av. Santa Fe und Av. Pueyrredón.
Sonntag mit gelegentlichem Nieselregen und leichtem Wind, 23°. Baby B und ich stehen auf, als Percanto vom Tango nach Hause kommt, der Rest der Wohnung schläft, der Rest des Viertels schläft, der Rest der Stadt schläft. Nicht die ganze, aber als wir am frühen Vormittag das Haus zu einem ausgedehnten Spaziergang verlassen, sind die noch feuchten Straßen fast leer, manchmal kommt ein Taxi vorbei, manchmal ein Bus, einzelne Leute mit Hunden oder Tüten vom Bäcker, und in einigen Hauseingängen schlafen Obdachlose. Die gab es kaum, als ich 2001 das erste Mal in Buenos Aires war, mit der großen Krise Ende 2001 / 2002 ist die Armut gewaltig gewachsen und wurde sichtbar. Kaum eine der vielen Bars und Cafés in den Seitenstraßen ist am frühen Sonntagvormittag geöffnet, aber nach gegen 11 werden sie Straßen belebter und wir nehmen die Confitería El Olmo an der großen Avenida Santa Fe als Wendepunkt unseres Spaziergangs. Es ist eines der Cafés, die noch nach altem Porteño-Stil eingerichtet sind und den Kaffee auf traditionelle Art und Weise servieren. Die Kellner tragen alle weiße Hemden, schwarze Hosen, schwarze Westen und schwarze Fliege, wahrscheinlich werden sie – wie von der Besitzerin des Traditions-Cafés „La Giralda“ – auch beim Nachnamen gerufen. Das Café ist mit kleinen Tischen für zwei oder drei Personen vollgestellt, der Haupteingang ist wie bei den vielen Ecklokalen hier an der abgeflachten Ecke. Die breiten Fenster gehen bis auf Tischhöhe und sind zweigeteilt, jetzt im Sommer ist die untere Scheibe herausgenommen oder hochgeschoben, so dass man direkt am Bürgersteig sitzt. Zum Klassiker „Café con leche con medialunas“ – „medilunas“, Halbmonde, sind kleine, etwas kompaktere und süße Croissants, normalerweise „de manteca“, also mit Butter gebacken, in der dünnen Variante „de grasa“ mit Öl – gibt es ein Kännchen Wasser, Zucker und auf einem separaten Tellerchen einen Keks oder ein, zwei Bonbons oder beides. Die heiße Milch für den Kaffee wird am Tisch aus einem etwas größeren Metallkännchen eingeschenkt, der Gast bestimmt die Menge. Da die größte Einwanderergruppe in Argentinien Italiener waren, prägten sie einen guten Teil der Ess-und Café-Kultur, diese mischt sich allerdings mit den spanischen Gepflogenheiten und denen der anderen Einwanderer aus Osteuropa, dem Mittelmeerraum, arabischen Ländern. In manchen Cafés wird außer den genannten Utensilien (und Servietten und Zahnstochern) auch Zimt zum Kaffee gereicht, so steht schnell das ganze Tischchen voll, wenn man „café“ bestellt. Man kombiniert, was sich in den Herkunftskulturen bewährt hat ,und pflegt es.
Hier in der Tantenfamilie – unmittelbare Herkunftsländer mehrfach Italien, dazu Kroatien, Polen, Ukraine – wird allerdings keine besondere Esskultur gepflegt, jeder muss eine andere Diät halten (zwei ohne Salz, einer ohne Carbohydrate, außerdem muss man natürlich auf die Figur achten) und die Tante hat es nicht so mit Gewürzen. Auch mit dem Kaffee, den alle trinken, geben sie sich zu Hause nicht zu viel Mühe: Knappe zwei Liter werden direkt in einer orangefarbenen Plastikwanne angesetzt, wo der Kaffee vor sich hinziehend stehenbleibt, bis ihn jemand durch ein Teesieb in eine Kanne gießt. Diese Kanne kann man sich dann auf dem Gasherd erwärmen oder, noch profaner, becherweise in der Mikrowelle erhitzen. Und dann mit Unmengen flüssigem Süßstoff versetzt trinken, und das zählt wegen der H-Milch für die meisten Familienmitglieder hier als ein vollwertige Mahlzeit. Sie finden es etwas irritierend, dass ich – auch noch als Frau – zum Frühstück auch etwas außer Milch essen will. Vor allem aber will ich, wenn ich hier bin, in die Cafés gehen und die dortige Kaffee-Zeremonie genießen.

40 Tage Buenos Aires [6]

Tag 6, Samstag, 20. Februar 2010: Feria Plaza Francia, Recoleta.
Mein Lieblingsziel an Wochenenden ist die Feria auf der Plaza Francia in Recoleta, um das Kulturzentrum und den berühmten Friedhof Recoleta herum. Beim Tango in diesem Kulturzentrum habe ich vor neun Jahren Percanto kennengelernt, und jeden Samstag und Sonntag ist hier „Feria“, ein einmal rund um alle Wege des Parks aufgebauter Markt mit Hippiekram und Kunsthandwerk, dazu fliegende Händler mit „pan relleno“ (gefülltem Brot), Empanadas, Obstsalat oder Getränken. In der Nähe des Eingangs zum Kulturzentrum sammeln sich die Gaukler, Handleserinnen und Tarotkartenleger, lebende Statuen und dieser ziemlich traurige Clown, der gegen „eine Spende, wie sie euch angemessen erscheint“ Baby B einen orangefarbenen Luftballonhund überreicht hat.
Heute war nur die Hälfte der Stände belegt, von den übrigen hatten einige mit Wind und Regen zu kämpfen. Die Rasenflächen waren Matschfelder, so dass keine Studenten zum Mate-Trinken dort waren, nur unter den enormen Ästen der ausladenden Ombús standen Touristen und bolivianische Händler, um sich vor den Schauern zu schützen. Bei einer Peruanerin habe ich selbstgetrickte Fingerpüppchen gekauft (auch von ihr und ihrer Armada Strickpuppen gibt es Bilder, vielleicht an einem anderen, fotolosen Tag), so wie ich sie damals in Peru auch schon hatte, nur dass ich das Fingerpuppen-Kokodril dieses Mal direkt an ein tatsächlich existierendes Kind weitergegeben habe, der es freudig zerkaut hat. Den Händler von Fotografien von Buenos Aires habe ich beglückwünscht und beneidet (es muss irgendwo eine verlassene Bahnstation geben, die ein hervorragendes Motiv abgibt, und die Fotos von Leuten in Cafés! Hach!), wir haben zugeschaut und doch nicht ganz verstanden, wie man einen Gürtel flicht, dessen in fünf Streifen geschnittenes Lederband an beiden Enden geschlossen ist, haben dem Händler von relativ scheußlichen Halbedelsteininsekten beim Wiederaufbau seines vom Wind angehobenen Standes geholfen und mit dem Flötenverkäufer geplaudert, und B hat mit allen weiteren Kunsthandwerkern geflirtet, bis er vor Müdigkeit weinen musste. Mit dem von einem der wie immer plötzlich aus dem Nichts auftauchenden Schirmverkäufer erstandenen neuen Regenschirm sind wir dann auch halbwegs trocken wieder zu Hause angekommen, heute allerdings nur normaler Regen, leichter Wind und nun, um Mitternacht, etwas Abkühlung in Buenos Aires.

Fotos

(Wenn man auf die Fotos im Blog klickt, werden sie groß und man kann mehr erkennen. Übrigens.)
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40 Tage Buenos Aires [5]


Tag 5, 19. Februar 2010: Regen.
Die Argentinier haben eine gewisse Neigung zum Übertreiben. Sie haben, wie Ihr gesehen habt, eindrucksvolle Buchhandlungen, sie haben in ihrem Land alle Klimazonen, sie haben die südlichste Stadt der Welt (Ushuaia), sie haben die längste innerstädtische Straße der Welt (sagen sie jedenfalls, Avenida Rivadavia, etwa 35km und Hausnummer 1 bis um die 14.000), und die breiteste Straße (Avenida 9 de Julio mit 21 Spuren, mitten in der Stadt) haben sie auch.
Heute hatte ich bereits mittags eine Reihe Fotos zur Auswahl, zum Beispiel Zeitungsstand, Schuhputzer, Graffiti – doch dann kam Wind auf, die Wolken verdichteten sich und es begann zu regnen. Wenn es hier regnet, kann man ungefähr bis 100 zählen, spätestens dann stehen an jeder Ecke junge Mädchen oder dicke Männer mit den Armen voller Regenschirmen: „Hay paraguas, hay paraguas, paraguas…“. So auch heute, ich hatte natürlich keinen Schirm dabei, dachte aber bei den ersten drei oder vier Händlern noch, so wild wird es schon nicht. Außerdem ist bei etwa 37° etwas Regen überaus erfrischend. Es donnerte fern, der Regen verdichtete sich, und schon ab dem fünften Händler brauchte ich keinen Schirm mehr, weil ich bereits vollkommen durchnässt war. Auf der Straße staute sich das Wasser und schäumte in Blasen auf, die Menschen stellten sich unter oder liefen wie ich gleich ohne jeden Schutz weiter, an den Kreuzungen standen die Leute in den Eingängen der Läden oder unter den Markisen, bis die Ampeln umsprangen und sprangen dann selbst über die breiter werdenden Ströme auf der Straße.
Einmal durchs Wasser gezogen kam ich in der Wohnung an, rettete die fortschwimmende Patientenliste vom offenen Fenster und zog mich um. Als ich mit Handtuch um den Kopf auf dem Sofa saß und Fotos sichtete, kam der Onkel nach Hause und stellte den Fernseher an. Mehr Regen. Unmengen von Regen im Fernsehen, zwei Viertel weiter: Die Straßen Flüsse, das Wasser ging den Leuten ohne Übertreibung bis zur Hüfte, sie wurden an über halbwegs sicheren Stellen gespannten Seilen über die Straßen geführt, damit die Strömung sie nicht mitreißt, Kinder wurden in Schlauchbooten über die Kreuzung gefahren, alte Damen von Feuerwehrmännern ans andere Ufer getragen. Schlauchboote auf der Avenida Santa Fe! Die Avenida Santa Fe ist zwei Straßenblöcke entfernt! Mein geheimer Journalisten-Geist erwachte, ich zog wieder meine nassen Kleider und Badelatschen an und zog nochmal mit der Kamera los. Leider ist die Avenida Santa Fe auch eine extrem lange Straße, und die Schlauchboote fuhren auf einem anderen, ziemlich weit entfernten und tiefer gelegenen Abschnitt, während bei uns langsam das Wasserfallrauschen in einen fast normalen Sommerregen überging. Inzwischen war in einigen Vierteln der Strom ausgefallen, die U-Bahnen, Züge und Busse fuhren nicht mehr und es war etwas spät, um noch zu Fuß bis nach Palermo und wieder zurück zu kommen, bevor Baby B ins Bett musste, also bin ich in einem weiteren Regenspaziergang in nassen Klamotten und der Kamera in zwei Plastiktüten nur noch einmal um den Block gegangen und habe meine Fotosafari abgebrochen. Sehr enttäuschend! Wenn es Wasser bis zur Hüfte gibt, ist ein bisschen Blasenregen ziemlich mau.
Die Wohnung ist inzwischen eine Art Rot-Kreuz-Camp, die Tochter des Onkels ist hier gestrandet und die Großmutter ist nach einer Odyssee mit Bussen mit Bugwelle und einem zwischenzeitlichen Asyl in einer Galerie, wo plötzlich das Wasser durch den Fußboden kam, auch bei uns geblieben. Ich habe für alle Spaghetti gekocht, und Percanto ist gerade nochmal mit Taucherbrille losgegangen, um Eis fürs ganze Lager zu holen. Wirklich abgekühlt hat es sich nämlich noch nicht.
Das verhältnismäßig harmlose Bild oben (menno) ist direkt vor unser Haustür aufgenommen, allerdings, was man nicht unbedingt denkt, mitten am Tag. Eine Serie von echten Überschwemmungsfotos gibt es bei der Zeitung El Clarín oder etwas eindrucksvoller im Moment bei La Nacion. (Die Zeitungen aktualisieren sich hier sehr schnell, möglicherweise stimmen die Links schon nicht mehr, wenn Ihr aufgestanden seid.)
Die Argentinier neigen zum Übertreiben. Buenos Aires ist für etwas 15ml Regen pro Stunde ausgelegt, aber heute haben sie es mit 80ml Regen pro Stunde geschafft, die Stadt im Handumdrehen in eine ausgedehnte Version von Venedig zu verwandeln, nur leider ohne Brücken.

40 Tage Buenos Aires [4]

Tag 4, Donnerstag, 18. Februar 2010: Paseo la Plaza.
Heiß, sonnig, feucht. Wir waren schaukeln und Unmengen von Büchern kaufen, spanischsprachige Bilderbücher für B und argentinische Romane für mich. Was gestern im „El Ateneo“ achselzuckend unter aussichtslos, völlig ausverkauft, keine Chance lief, haben wir schon im dritten Laden auf der Corrientes bekommen – und dank kompetenter Beratung ein Dutzend weiterer Bücher gleich dazu mitgenommen.
Nun wird hier nicht ständig nur gelesen, gegessen und getanzt; als die Enkel der Tante heute morgen zu Besuch waren, hat der Große (4) fast den ganzen Vormittag „Dibujitos“ im Fernsehen geschaut, Zeichentrickfilme in einem separaten Cartoon-Kanal, der sich auch erstaunlich laut stellen lässt. Während B. schlief, habe ich mit dem anderen Baby hier gespielt und konnte schlecht ausweichen, am Ende war ich von den Dibujitos ganz wirr im Kopf. Was richtet das wohl erst in so einem Kinderkopf an.

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(Nur 40 Fotos mit Bildunterschrift und eventuelle Textchen separat? Oder Bild-Text-Einheiten und für 40 Tage entsprechend auch Einheitsüberschriften? Oder total egal?
Andere wichtige Fragen kurz vor Mitternacht: Wohin ist das Anti-Juck-Zeug verschwunden, das ich dringend auf die schwellenden Mückenstiche an den Knöcheln, auf dem Handrücken und unter den Fußsohlen schmieren möchte? Warum niest die Frau auf der anderen Seite des Innenhofs dauernd und wann hört sie damit auf? Und könnten die Leute über und unter uns sich nicht ein wenig mit der Musik abstimmen?)