40 Tage Buenos Aires [34]

Tag 34, Samstag, 20. März 2010: Rollergirls, Av. Corrientes.

An manchen Tagen läuft fast alles anders als geplant. Da heute die Schwiegermutter da und mit Mann und Kind auf dem Spielplatz war, bin ich alleine losgezogen und war am Puerto Madero zum Fotografieren. Es waren auch gute Motive, halbwegs vernünftiges Licht und Lust vorhanden, es sind auch einige brauchbare Bilder dabei, nur hat bei mir am Ende wie immer Architektur wenig Chance gegen Menschen. Auf dem Weg zum Hafen bin ich in einen aufwendigen Filmdreh geraten; ich hatte schon die Konfetti im Rinnstein fotografiert, als ich merkte, dass die gesamte Avenida Corrientes jenseits der 9 de Julio gesperrt war, ein Kamerakran und riesige Beleuchtungsanlagen schwebten über der Straße. Und auf dem Asphalt etwa 50 gleich (knapp) gekleidete Mädchen mit weißblonden Perücken und silbernen Pompons, die wieder und wieder ordentlich in drei Reihen die Corrientes herunterrollten, den Obelisken im Rücken, ein strahlendes Lächeln im Gesicht und die Pompons in der Luft. Ich hab mich eine Weile mit einem sich wichtig machenden Mitglied des Filmteams geredet, der am Rand herumstand und mich auch in die abgesperrte Zone gelassen hat, „ein Fotograf muss frech sein“, meinte er augenzwinkernd, die zentral aufgenommen Bilder finde ich allerdings wie erwartet langweilig. Das Ganze wird ein Werbefilm für die Kaugummimarke Trident, ich soll ihn dann mal im Internet suchen.
Dann ein Hafenrundgang auf den edel hergerichteten Docks – als ich vor neun Jahren hier war, waren im äußersten Teil auf der Höhe von San Telmo noch verfallene Lagerhäuser, das fand ich ja reizvoller, nicht nur für die Fotografenseele. Puerto Madero hatte ich immer für den alten Holzhafen gehalten, von madera = Holz, auch wenn das grammatikalisch noch nie hinkommen konnte, es stimmt auch nicht. Madero war einfach der Name des Architekten, der den Hafen Ende des 19. Jahrhunderts entworfen hat. Kaum war er fertig, wurde allerdings für inzwischen deutlich größere Schiffe ein größerer Hafen gebraucht, und das Vierte verfiel. Seit etwa 20 Jahren wird die Hafengegend nun modernisiert, in den edel renovierten alten Lagerhallen sind teure Restaurants untergebracht, im Hafen angesagte Diskotheken und Yacht-Clubs, dahinter entstehen mal wieder Hochhäuser, hier in der Luxusvariante und voll verspiegelt. La Boca ist der pintoreske Hafen der Armen, Puerto Madero das neue Reichenviertel direkt am Río de la Plata. Sogar das Eis der Kette „Freddo“ ist in der Filiale hier noch einen Peso teurer als im schon gut betuchten Viertel Recoleta.
Die Straßen tragen hier alle Frauennamen, eine weiße und etwas pieksig nach oben geschwungene Fußgängerbrücke, die die Richtung Stadt gelegenen Docks mit der Hochhaus-Wohngegend am Fluss verbindet und „Wahrzeichen, Wahrzeichen“ zu rufen scheint, heißt auch „puente de la mujer“, Fauenbrücke.
Auf dem Rückweg höre ich noch eine Weile Straßenmusikern zu und versuche wieder mal vergeblich, in Chile anzurufen. Schließlich hocke ich eine kleine Ewigkeit auf dem Platz vor dem Justiztpalast auf dem Pflaster und versuche Blattschneideameisen bei der Arbeit zu fotografieren, was aber vor allem eine langwierige und nicht befriedigend endende Auseinandersetzung mit dem Autofokus im Makro-Modus ist. Ich habe nun einige von der Tiefenschärfe her interessante Bilder von den Fliesen auf Plaza Lavalle, sie sehen in Nahaufnahme fast wie das Holocaust-Mahnmahl in Berlin aus. Nach einigen halbwegs erwischten Ameisen gebe ich auf, bevor mir noch die Kamera abhanden kommt; auf dem Platz sind regelrechte Behelfs-Siedlungen aus Planen entstanden, in einigen dieser Zelte wohnen ganze Familien, und einige der Halbobdachlosen beobachten seit einiger Zeit die bekloppte Blonde, die vor dem Baum hockt und den Fußboden fotografiert.
Dann wollen wir nochmal gemeinsam los, im Parque Rivadavia soll ein Tanz-Spektakel stattfinden, das wir uns anschauen möchten. Es soll um 18 Uhr losgehen, als wir um kurz nach sechs aus dem Bus steigen, ist der Park zwar voll und sehr belebt, aber von einer Show keine Spur. Nur vier deutlich übergewichtige Damen in Leggings üben auf einer Rasenfläche in einer Reihe hintereinanderweg Spreizsprünge, das ist als absurdes Tanztheater schon ziemlich gut, aber doch nicht das Angekündigte.
Wir streifen ein bisschen um die antiquarischen Buchstände und fliegenden Händler um den Park herum, fragen nach dem Tanz, aber keiner weiß etwas, anscheinend ist die Show ausgefallen. Dafür gehe ich am Abend noch ins Theater, „Antígonas“ von Alberto Muñoz im Kulturzentrum Floreal Gorini gleich um die Ecke. Der Saal ist klein und die Aufführung mäßig besucht, ich habe die vorletzte siebte Reihe ganz für mich allein. Das Stück habe ich etwas zufällig ausgesucht (eigentlich wollte ich in die Oper, aber das würdevolle Teatro Colón wird erst am 25. Mai neu eröffnet, und die Aufführungen von Aida und Turandot in der anderen Oper sind nur Übertragungen aus New York, auf Großleinwand, das hab ich dann doch nicht gemacht), es entpuppt sich als Zwei-Personen-Stück. Zwei Frauen spielen vier mal zwei Frauen in unterschiedlichen Situationen. Leider wird mir zu wenig gespielt und zu viel Dialog gesprochen, es passiert einfach nichts. Zudem steht das Stück für mich schnell unter Esosterik-Verdacht, es geht immer um irgendwas Besonderes in der Wahrnehmung der Frauen, was aber nicht recht benannt werden kann. Bei der dritten Szene gefällt mir die visuelle Umsetzung, die beiden Frauen – in diesem Moment Schwestern – sitzen auf einer Art Wipp-Brett, das sie selbst bewegen und mit Unterstützung von zwei Stöcken als Riemen so ein Ruderboot in den Wellen darstellen. In der vierten Szene mag ich den Text eines Dialogs, in dem eine Patientin und eine Therapeutin gegeneinander rezitieren. Erst unterhalten sie sich über Beipackzettel, die mit Literatur analog gesetzt werden („der Schluss ist immer der gleiche“), am Ende der Szene sagt die Patientin Beipackzettel auf und die Therapeuting spricht gleichzeitig Gedichte dazu, das wird gut.
Ansonsten muss ich mich aber der Frau der ersten Szene anschließen, die zu einer Schönheitskur will und einer mystisch-religiös-erweckten Behandlung unterzogen wird, Gott sei für die Männer, aber Christus, Christus sei für die Frauen. „Ich will das hier nicht, ich bin für etwas anderes gekommen“, jammert sie, und die andere erwidert: „Wir alle sind für etwas anderes gekommen“, und dem musste ich zustimmen.

Zum Abschluss noch ein Gegenentwurf zu den Dutzenden bonbonfarbener uniformierter Rollergirls, eine junge Frau auf den Stufen des Justizpalasts „Tribunales“.
Und morgen fahre ich aufs Land.

40 Tage Buenos Aires [22]

Tag 22, Montag, 8. März 2010: Peluquería Hair&Body (vormals D’Antuan), Av. Santa Fe. Mit Percantos Stammfrisör Víctor, selbst ziemlich haarlos.

Die andere Großmutter ist heute da, und nachdem wir zusammen auf dem Spielplatz waren und Café con leche mit Medialunas gegessen haben, nutzten wir sie als Babysitter und sind zu Percantos altem Frisör gegangen. Oben hat Víctor Percanto die Haare geschnitten, im Erdgeschoss hat mir Walter einen etwas fransigeren Schnitt verpasst. Er war von oben bis unten tätowiert, darum hab ich lieber dazugesagt, dass ich „eher klassisch“ bin. Ist auch im Prinzip die gleiche Frisur wie immer, nur etwas deutlichere Stufen. Ich war schon einmal dort, damals war es noch „D’Antuan“ und ging über die doppelte Ladenbreite, im oberen Stockwerk saß man in einem prachtvollen Saal wie in Museumsnischen für Marmorstatuen unter großen Bögen. Unten war es heute ein gewöhnlicher Frisör, nur mit extragroßen Spiegeln. Oben werden nur die Männerköpfe geschnitten, und dort liegen keine Promi-Zeitschriften aus, sondern es läuft, wie man auf dem Bild sehen kann, ein Fernseher mit Fußball.
Frisör ist in Argentinien ein klassischer Männer-Beruf, es gibt auch einzelne Frauen, aber denen seien die Haare besser nicht anzuvertrauen, sagt man (das ist mein Beitrag zum Internationalen Tag der Frau 2010). Wie in fast überall ist im Laden mehr Personal als Kundschaft anzutreffen, einige deutlich schwule Frisöre lungern auf leeren Sesseln, ein anderer massiert der einzigen Frisörin den Rücken, während diese einer Kundin blonde Strähnen verpasst, und auch am Empfang sind Frauen, gleich drei hübsche Mädchen möchten mich einem der freien Frisöre vermitteln. Auch die Spiegel werden von einer extra dafür angestellten Frau geputzt, sonst ist nicht viel los, auch im oberen Stockwerk, wo inzwischen Víctor alleine arbeitet, dämmert nur ein Kunde vor dem Fernseher, während Percanto die Haare ausgedünnt werden.
(Haare ausdünnen. Das sind so Dinge, die man sich mit handelsüblichen deutschen Haaren kaum vorstellen kann.)
Freundin H. erzählte mir gestern, dass alle Neugeborenen hier sofort nach der Geburt der Mutter weggenommen werden, für die U1, aber auch zum Baden und Anziehen in einem anderen Raum. Außerdem wird allen Neugeborenen sofort der Kopf geschoren – und die kleinen Mädchen bekommen wenige Minuten nach der Geburt Ohrringe verpasst. Das kenne ich noch aus Peru, dort war das Argument, in dem Alter täte es ihnen noch nicht weh. Klar.
H. hat sich (natürlich!) verweigert und musste dafür extra eine Art Einwilligung unterschreiben, dass sie tatsächlich nicht wollte, dass ihrer Tochter nach der Geburt die Haare geschoren werden, und Ohrringe wirklich und wahrhaftig auch nicht. Es haben auch wirklich alle Mädchen und Babypuppen Ohrstecker.
Die Schwiegermutter hat mir heute umständlich erklärt, dass sie Percanto als Baby auch nicht hat kahlscheren lassen, und darum sei er erst blond gewesen und dann dunkel geworden. So ganz versteh ich die Geschichte nicht, zumal Percanto die schwärzstesten Haare der Welt hat. Geschoren wäre er sicher blond geblieben, sicher. Wobei man vielleicht sagen muss, dass „blond“ das meiste ab einem satten Kastanienbraun ist.
Auf den Spielplätzen dieser Viertel der oberen Mittelschicht sind aber tatsächlich viele blonde und blauäuige Kinder mit indigen Kinderfrauen, weshalb ich mit meinem Sohn mit seinen Schokokeksaugen und braunen Locken aussehe, als hätte ich mit irgendjemandem die Kinder vertauscht. (Insider für diejenigen, die uns kennen: Die Schwiegermutter fragte mich heute, ob ich (auch nach drei Jahren ohne Sonne noch ziemlich blond) eigentlich noch blonder sei als mein mittelbrünetter Sohn… der braune Haare hat, oder ihr zufolge eben blonde, obwohl er nicht geschoren wurde, oder gerade darum, man weiß es nicht.)

Ansonsten hat heute natürlich „El Secreto de sus ojos“ den Oskar für den besten ausländischen Film gewonnen, alle freuen sich, obwohl es vorher hieß, es sei ein eher flacher Film im Vergleich zu anderen dieses Jahr. Vor etwa einer Woche kommentierte eine Zeitung, wenn der Hauptdarsteller gewänne (der übrigens nicht mit zur Preisvergabe durfte, weil seine Anwesenheit angeblich Pech bringt), wer sollte ihn dann noch ertragen! Nun ertragen sie, und glücklich.

Und schließlich wurde hier wieder eine Bank über ein Tunnelsystem ausgeraubt. Nachdem dies vor kurzem bereits einmal passiert war, titelten alle Zeitungen und Nachrichtensender, das sei der „Raub des Jahrhunderts“. Dieses Mal führte der Tunnel in den Raum mit den Tresoren und privaten Safes, es sind über 200 Safes aufgebrochen und geleert worden und man spricht von einer Beute von etwa 10 Millionen US-Dollar, auch wenn man das nie genau wissen wird. Die Leute sind fassungslos und wütend, besondere Aufmerksamkeit erregt allerdings ein Detail: Die Bankräuber waren so dreist und nervenstark, dass sie innen an die Wand des Tresorraums geschrieben haben: „Dies ist nicht der Raub des Jahrhunderts. Dies ist der Raub des Jahrtausends.“ Ich finde ja, auch das verdient zumindest eine Nominierung für die Oskars, Kategorie „Raub & Überfall“.

Ausmaße

Wenn man den Begriff „Windelkatastrophe“ nur noch als Euphemismus bezeichnen kann, quasi Hilfsausdruck, eher Hilflosigkeitsausdruck, wenn sich das Kind beim Wickeln überraschend als aufs Unfassbarste eingesaut zeigt, wenn man das Kind zudem wegen einer erwarteten, wenn auch nicht so erwarteten Windelfüllung noch ein wenig länger wach gehalten hat und es nun endlich und wirklich nur noch schlafen will, liegen und schlafen und auf etwas nuckeln, nicht aber stehen, sondern sich hinwerfen muss, egal wohin, wenn es sich ausgesprochen unkooperativ zeigt und weil müde, so müde, nun an der vollkommen farbgewechselten Strumpfhose lutschen möchte, die man ihm entwendet und froh ist, dass es stattdessen doch seinen Hausschuh nimmt, den einen, der nichts abbekommen hat, was sich allerdings etwas später zusammen mit der Erkennntis, dass dieses Leder Kinderlippen und Kinderzähne blitzeblau färbt, als Irrtum herausstellt, wenn man dem Kind einen pastös eingedickten Body über den Kopf ziehen muss, während es protestiert und sich wegdreht, wenn dieses Zeug an jedem seiner Kleidungsstücke klebt, außer innen in der Windel, wenn das jammernde Kind klebrige Babykacke in den Haaren hat und zwischen den Zehen und überall dazwischen auch, wenn eine Rolle Küchenpapier nicht reicht und der Waschlappen nicht mehr vom Body zu unterscheiden ist und die Feuchttücher so hilfreich sind wie Suppenkellen bei einer Ölkatastrophe, wenn das Handtuch auf dem Wickeltisch nichts mehr aufnimmt und wenn man das Ganze auf den Holzfußboden verlagert, den man ja wischen kann oder neu verlegen, wenn das Kind auch dort nicht stehen will und sich auf dem kalten Boden windet und sich der Mutter an die Brust wirft, wenn man schließlich das Kind ganz auf dem Arm zu waschen versucht und dabei mit dem Fuß Küchenpapier auf dem Boden verteilt und Schmutztücher und das, was mal adrette Babykleidung war, aus dem Zimmer bugsiert, wenn schließlich Kleider, Handtücher, Boden und Mutter gleichmäßig eingesaut sind, das Kind aber in einem Zustand zu sein scheint, in dem man ihm eine saubere Windel und einen sauberen Body und die letzte saubere Strumpfhose anziehen könnte, wenn man nur ein Stück sauberen Untergrund zum Ablegen fände, dann fragt man sich nicht nur wie immer, warum eigentlich Müttern nicht mit dem Milcheinschuss auch gleich sechs bis acht weitere Arme wachsen, sondern auch, warum Wickeltische nicht standardmäßig mit Not-Duschen geliefert werden, wie sie doch für Chemielabore Vorschrift sind und deren Existenz so unmittelbar einleuchtet, und ob es wohl sinnvoll ist, all das einzeln zu waschen, zu wischen und wegzuwerfen oder ob nicht ein Umzug nach dem Mittagsschlaf die einfachere Lösung wäre.

Zu Ende gedacht

Gestern gab es einen Dokumentarfilm über eine Hebamme und Geburtshilfe. Es klang sehr spannend, eine Hebamme und ihre Arbeit in Deutschland und Afrika. Abgesehen von einigen erwarteten Merkwürdigkeiten, auf die man sich bei so einem Film einstellen und die man in Kauf nehmen kann, gab es allerdings einige höchst fragwürdige Stellungnahmen der Protagonisten. Einiges habe ich zugegebenermaßen wegen meines eigenen unruhigen Babys nicht ganz aufmerksam verfolgt, doch obwohl mich die Thematik sehr interessiert und ich mich auf die Dokumentation gefreut hatte, erinnere ich heute im wesentlichen Aspekte des Films, die mir zunehmend sauer aufstoßen. Dumm fand ich beispielsweise, dass beim Thema Hausgeburt der eine Arzt erst nachvollziehbar erklärte, dass 80 – 85% der Geburten problemlos verliefen und darum durchaus auch zu Hause stattfinden könnten, in den verbliebenen Fällen aber doch mehr medizinische Betreuung nötig sei – dann aber nachschob, im Prinzip seien Krankenhäuser überflüssig, vor 500 Jahren seien schließlich auch Menschen geboren und hätten überlebt, „sonst gäbe es uns ja nicht“. Ja, aber die Art kann auch erhalten werden, wenn nur das Kind durchkommt und die Mutter draufgeht, oder wenn eben nur 80 – 85% der Geburten mit einem lebendigen, gesunden Kind enden. Der Evolution (und dem lieben Gott) sind die übrigen 15 – 20% herzlich egal, und der Arzt hatte die offenbar auch mal kurz vergessen, als er in die Kamera sprach. Furchtbar aufgeregt habe ich mich dann über die Aussage einer Hebamme, es bestünde ein „wissenschaftlich nachgewiesener Zusammenhang“ zwischen Kaiserschnitt und Autismus beim Kind. So! Ein! Quatsch! (Wenigstens ließen sie die gefährlichen Hypothesen der Impfgegner zur Autismus-Entstehung außen vor, aber so etwas macht mich wirklich wütend.) Bitte zu Autismus fundiert weiterlesen bei Moni.
Überdies nahm der Film dann eine merkwürde Wende und geriet passagenweise zu einer Verklärung der DDR, die ich als überaus ärgerlich empfunden habe. Diese Verklärung war meines Erachtens meistens völlig vom eigentlichen Plot der Doku abgekoppelt und lediglich durch den Standort Chemnitz motiviert; nur in Einzelfällen – dass beispielsweise im Westen ja noch weniger gestillt würde als im Osten – wurden Zusammenhänge zwischen Ostalgie und Hebammen-Handlung hergestellt. Wie die im Trabi sitzende Frau, die vom Damals-alles-besser schwärmte, konzeptuell zur Geburtshilfe-Thematik gehört, hat sich mir jedenfalls bis zum Ende nicht erschlossen, warum man ihre Beiträge nicht zusammengeschnitten hat, auch nicht: Natürlich, im kapitalistischen Deutschland sind die Äpfel chemie-verseucht, aber in der DDR waren die Äpfel toll und man konnte sie „mit Stumpf und Stiel“ aufessen, natürlich, richtig, weil ja alles so bio und so öko war damals. Gerade in Bitterfeld, oh ja, wollte man einwerfen, aber ein Kommentar dieser Art fehlte. Zwischen Rat- und Fassungslosigkeit schwanke ich bei selbstgerechten Urteilen wie dem des jungen Arztes, der offenbar allen Ernstes sinngemäß behauptete, letztlich seien die Mauer- und Grenztoten selbst schuld daran, dass sie erschossen worden seien. Wenn da groß stünde, dass man da nicht rüber soll, dann mache man das eben nicht. Alles andere sei „grob fahrlässig“.
Dringend möchte ich an dieser Stelle noch einmal die Lektüre von Anna Funder: Stasiland empfehlen.

Sehr lachen musste ich aber über den Kommentar meiner Mutter, die man sich bitte als eine sanfte und unschuldig wirkende Frau vorstellen möchte: Zwei Hebammen lungerten auf einem Kreißbett herum und schwärmten bei Kerzenlicht und rötlichen Wänden von der kuschligen Atmosphäre des von ihnen selbst gestrichenen Gebärzimmers, sprachen von Liebe und Geborgenheit und – tatsächlich – vom vergleichbaren Stöhnen bei „richtig gutem Sex“ und bei Geburten. Sie würden daran glauben, sagten sie, dass ein Kind in einer Umgebung geboren werden sollte, die der Umgebung und Situation möglich ähnlich sein sollte, in der es gezeugt worden ist.
„Was“, rief meine Mutter, „in einem Auto?!“

Zweierpasch

2x schlechtes Marketing:

* Die Dame am Schalter bei der Deutschen Bahn, die einer Kundin mit Kind gerade einen Familiensatz Bahncards verkaufte, ein gutes Geschäft, ein Kunde, den man halten sollte, will man meinen. (Mal vom „was sich gehört“ ganz abgesehen). Das Kind machte alles mit, ließ sich bereitwillig vor etwa 20 Zuschauern für die Karte fotografieren und wartete dann schweigend neben seiner Mutter, während die Bahn-Frau in einem Katalog irgendwelche Zahlen suchte. Und suchte. Und suchte. Das Kind begann, mit dem Kugelschreiber zu knipsen. Knick-nick. Knick-nick. Knick-nick. Die Bahn-Frau sah auf, schleuderte dem Jungen einen Blitz zu und herrschte ihn vor seiner Mutter an: „HÖR! SOFORT! DAMIT! AUF!“

* Die Eisdiele, die am heißesten Tag des Jahres ein Schild an die geschlossene Glastür hängt: „Wegen Krankheit geschlossen.“

2x angesprochen worden:

* Beim Frisör bin ich noch nicht dran und sitze etwas zurückgezogen in einer Ecke und stille. Den Kopf vom Baby und meinen Brustansatz habe ich mit einem Tuch abgedeckt. Eine frisch frisierte ältere Dame kommt an mir vorbei, stellt sich hinter mich und legt mir ihre erstaunlich rotlackierten Finger auf den Arm: „Och, ist der süß.“ Ich nicke. Sie beugt sich über meine Schulter nach vorne, schiebt das Tuch von meiner Brust und vom Kind, das sich sofort abdockt: „Duzti-du, bist Du niedlich. Nicht stören lassen, schön weiter trinken.“

* Mann auf dem Spielplatz, blickt in den Kinderwagen: „Boah, ist das ein fettes Baby. Naja, Hauptsache gesund, wa?“

2x im Vorbeigehen aufgeschnappt:

* Eine junge Frau zu einem jungen Mann: „Ich hab ja einen Zwillingsbruder.“
Junger Mann zu junger Frau: „Einen Zwillingsbruder? Wie cool! Seht Ihr genau gleich aus?“

* Einer aus der Gruppe Trunkener vor dem Plus: „Ich weiß aus dem Computer, das beste Sternzeichen, was man haben kann, ist Mond. Mond. Das beste Sternzeichen. Haste Glück gehabt.“

Hals und Bein

„Mast- und Schotbruch“ sagen die Segler, bevor sie in See stechen, oder sie wünschen sich und dem Boot schon bei der Taufe „allzeit eine gute Fahrt und eine Handbreit Wasser unter dem Kiel“. „Hals- und Beinbruch“ ist vom Schauspieler-Massel-Tov wohl zu einem Wald- und Wiesen-Glück-Wunsch geworden, passt aber doch eigentlich besonders gut zu Chirurgen. Ob sie das einander zurufen, wenn sie in den OP gehen, die behandschuhten und desinfizierten Hände in der Luft, „Hals- und Beinbruch, Herr Kollege“, „Dir auch, Hans“?
Einen hübschen berufsspezifischen Segenswunsch habe ich gestern gehört; nach der letzten Stunde Rückbildungsgymnastik drückte uns die Hebamme und wünschte uns „alles Gute, viel Glück und stets einen festen Beckenboden.“

Und Ihr so?

Euphemismen

Am Ende des sehr sportlich angelegten Rückbildungskurses sollen wir uns zu zweit zusammentun und den Schulter- und Nackenbereich massieren, diese vom Kindertragen einzementierten Muskelpartien etwas auflockern.
Die eine Hälfte der Frauen knetet, die andere seufzt, und die Hebamme guckt uns zu und meint nach einer Weile: „Na, da habt Ihr bestimmt den einen oder anderen Stillknorpel gefunden“.
Ich muss ziemlich lachen, allerdings als einzige. Vielleicht muss man mit Brüdern aufgewachsen sein, um mit „Stillknorpeln“ anderes zu assoziieren als verhärtete Stellen am Trizeps. Jedenfalls passen die „Stillknorpel“ ganz ausgezeichnet zu den „Gehwarzen“ meiner Jugend.

Kompliziert

J, bald zweieinhalb Jahre alt, ist gerade in der schönsten Warum-Phase. Es ist ja auch alles nicht so einfach. Warum fällt die Käsescheibe um? Warum ist es kälter? Warum wird es Herbst? Warum kommt Papi später? Warum muss er noch arbeiten? Warum bin ich noch klein? Warum spiele ich mit dem Bagger? Warum macht mir das Spaß?
Wir sitzen zusammen auf dem Sofa und gucken uns eines der Wimmelbücher an, was macht der Hund da? Und was sagt der Mann dann? Warum sagt er das?
Zwischendurch entschuldige ich mich, ich müsse mal kurz aufs Klo.
„Warum musst Du aufs Klo?“
„Ich muss mal eben pieseln.“
„Hast Du auch ein Schwänzchen?“
„Nein, ich habe kein Schwänzchen.“
„Warum nicht?“
„Ich bin eine Frau, und Frauen und Mädchen haben kein Schwänzchen.“
„Aber wie kannst Du dann pieseln?“
„Hm, das geht trotzdem… einen, nun, Ausgang haben wir schon.“
„Ich komme mal mit.“
Besser ist das. Wir gehen also zusammen aufs Klo, er begleitet uns öfter, selbst aufs Töpfchen zu gehen ist ihm aber suspekt und kommt ohne Windel und hochgezogene Hose gar nicht in Frage.
„Ich stell mich mal hier hin“, sagt er, guckt im Wechsel interessiert in die Badewanne und mir zu. Als ich die Hose zumache, schüttelt er den Kopf.
„Aber wenn Du eine Frau bist, warum hast Du dann einen Gürtel?“
Die Welt ist ein komplizierter Ort.