Kinder leben nicht in einer Blase, die Welt mit ihren Unzulänglichkeiten, Gemeinheiten und ihrer Kälte erreicht sie, auch wenn man sie zu schützen versucht. Nuno lässt sich leidenschaftlich gerne Märchen vorlesen und hört sie auch auf CD (über die heile Welt der Märchen und Kinderlieder habe ich hier, hier, hier, hier und hier schon geschrieben), und obwohl diese Vorliebe bei unserem Vorlesetierchen schon lange besteht, hat er nun erst seit ein paar Nächten anscheinend von Märchen beeinflusste „Alpenträume“, die ihn auch am Tag beschäftigen. Da sie sich wiederholen, erinnern sie mich an Fieberträume, und sie enthalten klassische Albtraumelemente wie auf der Flucht nicht weglaufen zu können. Darin kommt überdies vor allem ein Fuchs vor, der aufrecht geht und eine Unterhose trägt und eigentlich ein verzauberter Prinz ist, dennoch aber offenbar sehr bedrohlich wirkt. Und später kommen Wölfe, die Nuno richtig Angst machen. Er möchte jetzt seinen Traumfänger aus den Indianderwochen der Kita mit nach Hause bringen und hofft auf Wolfsfängerqualitäten. Bis dahin versuchen wir es auf die traditionelle Art. In den Arm nehmen, Licht anlassen, sagen, dass da kein Fuchs sei. „Doch!“ „Wo ist er denn“, frage ich, mit dem Plan, ihn dann von dort zu vertreiben – hinter der Gardine, oder wo immer Albtraumfüchse sich aufhalten. „HIER ist er“, schluchzt Nuno und tippt auf seine Stirn, „hier drin.“
Wenn ein Kind verstanden hat, dass die wahren Monster nicht unter dem Bett wohnen, sondern im eigenen Kopf, hat es schon viel verstanden, nur greifen dann leider die üblichen Verscheuch-Techniken und Exorzismen nicht mehr.
Also brauchen wir Hilfe, und wir geben ihm seinen Kuschellöwen in den Arm, nachdem wird diesem und dem Bären eingeschärft haben, die Füchse und Wölfe von Nuno fernzuhalten und sie ganz und gar aus seinem Traum zu vertreiben. „Das geht doch nicht“, sagt Nuno, „das können die gar nicht.“ Weil sie Stofftiere sind? „Weil der Fuchs doch aus den Märchen kommt und die beiden sich mit Märchen doch gar nicht auskennen.“ Es wurde eine lange Nacht.
(In welchem Märchen kommen eigentlich Füchse in Unterhosen vor?)
*
Das machen also Märchen. Und der Rest der Welt? Im Radio hört er von der Krim, an anderer Stelle von Übergriffen auf Ausländer, er weiß, dass es Krieg gibt, auch wenn für ihn der Inbegriff des Bösen ein Dieb ist. Er weiß auch, dass wir Sonntag Abend Tatort gucken. „Was haben sie gestern geklaut?“, fragt er jeden Montag, und wir sagen „ein Seil“ (gestern) oder „Medikamente“ (letzte Woche), und nein, er darf keinen Krimi sehen. Das ist nichts für Kinder. „Aber wenn ich 13 bin?“ Vielleicht. Wie auch immer er auf 13 kommt. Aber vorher sicher nicht.
Gestern dachte er wieder nach. „Was ist denn die Krim? Und warum streiten die sich darüber? Und können in einem Krieg auch Häuser kaputtgehen? Und haben die Soldaten auch Messer? Und Gewehre? Aber wenn sie danebenschießen, dann ist das ein bisschen prima, oder, das ist besser, als wenn sie treffen.“ Wir lügen nicht, aber wir erzählen auch nicht alles. (Abgesehen davon, dass unser Verständnis auch begrenzt ist. Warum wollen die jetzt diese Insel zurückhaben? Weil sie schön ist, weil da ein wichtiger Hafen ist, weil, herrje.) Ja, es kann sein, dass es Krieg gibt. Und ja, sie haben Gewehre, und ja, wenn sie danebenschießen, ist das wenigstens ein bisschen prima.
Abends dann wieder: „Was wird denn heute Abend geklaut in Eurem Film?“ „Das wissen wir noch nicht.“ „Und was ist ein Tatort?“ „So nennt man den Ort, wo etwas passiert ist.“ „Und da sprechen die dann ukrainisch?“ „Öh?“
Wir haben ein bisschen gebraucht, bis wir verstanden haben, warum man im Tatort ukrainisch reden soll.
(Und mit 13 versteht man dann auf einmal ukrainisch und darf Krimis sehen, aber wenigstens bis dahin wird alles durch eine Sprachgrenze ferngehalten, was nicht in Kinderköpfe gehört. Deal.)
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Guten Morgen, du Vielfrag [11.12.2013]
„Aber wenn ich meine Freunde doch für meinen Traum angemeldet habe, warum kommen die dann trotzdem manchmal nicht und ich träume ich was anderes?!“
Von der Relevanz der schönen Künste Oder Wie mir eine Gedichtanalyse das Leben rettete
Nun träumte mir dies:
Nach einer langen, verworrenen Handlung musste ich mich an hellen Hanfseilen innen in einem Turm hochhangeln. Es war eng, überall lag Kalkstaub, der Weg nach oben war schief und kantig und der Tritt nicht fest. Von unten kamen weitere nach, ich durfte nicht stehenbleiben und steckenbleiben erst recht nicht – diese Angst vor dem Ersticken selbst im Traum noch. Endlich oben angekommen, weitete sich der Raum, glänzender Marmorboden und nur noch wenige Stufe zum Ort, an den ich gelangen sollte. Über diese Stufen waren Seile gespannt, die wie in einem Museum einige Bereiche absperrten, und auf dem Boden standen krumme Metalltrichter herum, die den Weg versperrten. Nach dem engen Aufstieg schienen die letzten Schritte kein Problem darzustellen, doch kaum schob ich zwei der Metalldinger mit dem Fuß zur Seite, kamen darunter in den Boden eingelassene Kontakte zum Vorschein, und in einem hyterischen Alarmheulen traten finster blickende Wachmänner in schwarzen Uniformen aus allen Richtungen auf mich zu. Offensichtlich hatte ich einen schweren Fehler begangen, alle starrten mich an, ich war gefangen und verloren. Meine Bitten um Entschuldigung wurden abgewiesen. Schließlich zeigte ein Oberaufseher mit einem Zeigestock auf mich, eine Chance bekäme ich, und auf ein Fingerschnippsen hin fuhr eine hell schimmernde Tafel aus der Decke herunter. Darauf erschienen vier Verse, daneben als kontextueller Hinweis ein Bild Heines. Wenn ich dieses Gedicht interpretieren könne, sei ich frei, sagte einer der Wachmänner, und nach einem kurzen Blick auf den Text winkte der strenge Chef ab, unlösbar sei die Aufgabe, und verschwand im hinteren Bereich. Dennoch begann ich, die vier Verse nach den Regeln der erlernten Kunst zu analysieren, suchte mit flackerndem Blick Strukturen und Motive, fand eine Verbindung zu Heine, versuchte in einem Akt der Verzweiflung, die Form auf den Inhalt zu beziehen. Als ich die Textanalyse abschloss und den Blick von den Worten auf der Tafel löste, sah ich die Gesichter der Wachleute aufgehellt, sie nickten und traten zurück. Ich hatte bestanden, meinen Fehler auf der Treppe damit ausgebügelt – ich war frei.
Und da soll noch einer sagen, wie lernten in unserem Elfenbeintürmchen nutzloses Wissen.
Wie meinen?
Dass ich mal einen komplizierten oder ins Absurde kippende Handlungsstrang in einem Traum nicht verstehe, kenne ich zur Genüge, damit kann ich leben.
Aber wenn sich alle anderen schier scheckig lachen, nur ich das Ganze überhaupt nicht komisch finden kann, dann fühle ich mich doch enteignet und fremd im eigenen Traumgelände. „Nicht komisch finden kann“ nicht, weil ich es stattdessen traurig oder gemein fände, sondern so wie früher, wenn meine kleinen Brüder einander und uns stunden-, tage- und wochenlang selbstausgedachte Witze erzählten, die sie ganz offenbar zum Heulen komisch fanden, die uns nur wenig Ältere aber ratlos hinterließen, oder schließlich genervt, wie beispielsweise am Ende des Dänemarkurlaubs, in dem Bruder #2 drei Wochen lang Varianten eines Witzes mit einer Blume und Bruder #1 Varianten eines Witzes mit einem Taxifahrer erzählt hatte, Varianten, die auch ineinander mäanderten und dadurch nur unverständlicher, nicht aber lustiger wurden, wie wir fanden, sie dagegen fanden: viel lustiger. Und endlich reichte den beiden „Blume“ oder „Taxi“, um unter Lachtränen vom Stuhl zu sinken, während wir anderen, zu erwachsen, zu humorlos, nur die Augen rollten und der Funken beim besten Willen nicht überspringen wollte.
So ähnlich also gestern Nacht, lauter fremde Leute waren in meinem Traum unterwergs, alle lachten, und ich fand und fand die Komik nicht. Das war so:
A: „Das ist Rhabarber.“
B: „Rha-bar-ber!“
A: „Genau.“
B: „Rhabarber. Das ist ja so wie Phaeno.“
Schallendes Gelächter, Prusten und Kichern, nur ich runzelte die Stirn, unverständig, und wachte auf und verstand noch immer nicht.
Ich nehme an, auch von Ihnen kann mir keiner erklären, was an diesem Dialog so wahnwitzig komisch war, nein? Taxi, Rhabarber, Blume. Wir werden nie verstehen.
Alles klar
Eine nette Bekannte steht vor mir, sie hat sich ein wenig verkleidet, ich erkenne sie dennoch. In rasender Wut werfe ich sie auf den Boden, stehe bebend auf ihr, knie auf ihrer Brust, streiche mit viel Kraft die Haare aus ihrem Gesicht, um sie ganz zu sehen, halte so zugleich die Haare aus der Stirn und ihren Kopf auf dem Boden. Voller Hass ziehe ich einen Edding aus der Tasche und male ihr einen roten Schnurrbart auf.
[Aufgewacht.]
Freitag:
Ich bin mit einer Menge Leute in einem grauen, schmalen Hotel, die Gänge so eng, dass man kaum hindurchpasst. Zwischen Mauer und Mauer gequetscht schaue ich hinaus, Wasser vorne, Wasser hinten, das Meer. Alle schauen aufs Meer, es liegt glatt und glitzernd in der Sonne. Es ist sehr glatt, viel zu glatt und viel zu weit zurückgezogen. Ich verstehe es als erste, doch kaum habe ich die Warnung gerufen, ist der Tsunami schon da, reicht bis in den 5. Stock des engen Hotels.
Wir stehen alle in den Wellen, ich werde aufgefordert, einen mir unbekannten spanischen Tanz vorzuführen am Abend. Ich kann nur Tango, aber Tango ist nicht erwünscht, sie möchten, dass ich mit einem fremden Partner, der gerade merkwürdige Schritte im ablaufenden Wasser macht, diesen spanischen Tanz präsentiere. Keine Widerrede.
Ich wehre mich gegen die aufgedrängte Vorführung und versuche doch schon, den mir unverständlichen Tanz zu lernen. Zwischen lauter angezogenen Menschen bin ich als einzige nackt.
[Aufgewacht.]
Ich finde, ein bisschen mehr Mühe könnte sich mein Unterbewusstsein schon machen beim Verschlüsseln.
Traum [1.1.]
Ach. Und was sagt uns das jetzt für 2008?
Percanta als Comicfigur
Traumlogik
Merkwürdig zu träumen gehört zu meinen größeren Talenten, wobei sich nicht jeder Traum die Mühe einer aufwendigen Verschlüsselung macht; was mich im Wachzustand umtreibt, wird übernommen und mit einigen absurden Details aufgemischt, mit ferner liegenden Begebenheiten kombiniert und erzählerisch etwas aufgepeppt. Das kenne ich von meinen Träumen.
Gedanken mache ich mir aber über Traumästhetik (eigentlich träume ich in Farbe, aber einen Piratentraum träume ich schwarz-weiß und mit flachen Scherenschnitt-Figuren) und, aus mal wieder aktuellem Anlass, besonders über Traumlogik.
Die im Traum abgebildete Welt entspricht zwar nicht der Tagwelt, übernimmt aber meist deren grundlegende Eigenschaften, wenn auch mit einigen Überzeichnungen – Schwerkraft gilt hier wie dort, das Personal ist (Monsterträume liegen mir nicht) meist der Tagwelt entlehnt, und fliegen kann ich nur ganz selten. Jede Nacht eine vollständige neue Welt zu entwickeln wäre für die paar Stunden Schlaf sicher auch zu aufwendig.
Merkwürdig ist aber die Identität von Personen. Es passiert mir immer wieder, dass ich von Menschen träume, die ich im echten Leben kenne, und diese sehen manchmal so aus wie immer, manchmal aber auch ganz anders oder kommen gar in Gestalt einer anderen wirklichen Person daher – dennoch weiß ich im Traum immer ganz genau, um wen es sich handelt. Wie erkennt der Träumende sein Gegenüber? Heute Nacht träumte ich beispielsweise von der kleinen Tochter von Freundin J, die aber gleichzeitig die etwas ältere Tochter meiner anderen Freundin A war. GretaVera in einer Person, so etwas geht, und es war auch die ganze Zeit klar, dass das Mädchen beide Töchter ist.
Vorgestern habe ich mir allerdings schon im Schlaf Gedanken über die Logik des gerade Geträumten gemacht, oder weniger über die Logik als über die Gesetzmäßigkeit. Szene: Wir fliegen in einem dicken Propellerflugzeug über eine Bergkuppe (diese Berge kenne ich schon aus anderen Träumen), tauchen dann aber, anstatt der Route zu folgen, mit dem Flugzeug in eine Schlucht ab und fliegen eine andere Strecke, zu einem anderen Ziel. Der Weg führte bis zu einem Flugplatz in der Steppe nur durch diese Schlucht, steile Wände, schmal (die Flügelspitzen berührten fast den Fels), alles mit einem satten grünen Moos bewachsen. So tief, dass kein Tageslicht mehr hinkam und nur die bemoosten Wände zu leuchten schienen, eher Unterwasserwelt als Alpenpanorama.
Schlafend fliegend machte ich mir nun Gedanken, ob das gehen kann, ob das von der Aerodynamik und Thermik her geht, durch eine so schmale, tiefe Schlucht zu fliegen.
Leider habe ich im Traum auch keine besseren Kenntnisse von Aerodynamik als im wirklichen Leben, so dass ich die Frage nicht beantworten kann, sondern nur staunen, wie mein träumendes Ich seine Umwelt hinterfragt.
Weiß es jemand?
Wie funktionieren Naturgesetze im Traum? Wie Identität? Und kann man so eine Schlucht entlangfliegen, ohne abzustürzen?