Nachwuchs-Ornithologe

Nuno ist bei den Großeltern, solange ich im Süden arbeite. Bei den meisten unserer Telefonate geht es um die Vögel im großelterlichen Garten. Hier nur zwei Beispiele:

Gespräch 1:
N: „Garten Voga!“
Ich: „Oh, hast Du Vögel angeguckt?“
N: „Nei, futta, Voga futta, Vogahäuscha, Futta kipp!“
Ich: „Und welche Vögel hast Du gefüttert?“
N: „Voga. Und Buchfink. Und Lama.“
Ich: „Ein Lama auch?!“
N: „Lama nein…Lama… Amsel!“

Gespräch 2:
Großmutter im Hintergrund: „Guck mal, da ist wieder ein Vogel am Vogelhäuschen. Der Vogel macht Zizibe!
N: „Zibezi NEIN Voga! Zibezi ist MEISA!!“
Oma hat auch keine Ahnung.

Flüsse

Vom kleinen Rinnsal, das man nicht Fluss nennen mag, aufgebrochen, in den südöstlichsten Winkel des Landes gefahren zu Donau, Inn und Ilz (letzteres auch eher Rinnsal), dazu dünnes Südbier und fleischlastiges Essen und ein Campus am Flussufer. Dann einmal an der Südgrenze entlang weiter in den südwestlichsten Winkel, zu Rhein, Bodensee und Seerhein. Ein Campus über dem See, angeblich mit Blick auf die Alpen, die sich trotz Sonnenschein im Dunst verbargen. Dort die uns beherbergenden Wähler angefeuert, die wild entschlossen aufbrachen, um „Mappus den Pflock ins Herz zu stoßen“. Aufgeregt die hin- und herrutschenden Prozente verfolgt, warum verschlechtern sich von Prognose bis zum Amtlichen Endergebnis eigentlich immer nur die Guten. Mit anderem dünnen Bier und gutem Wein und allerlei Seefisch unseren und des Ministerpräsidenten Abschied gefeiert, in einem paradiesischen Viertel mit über 50% Grün. Über Neckar und Main wieder Richtung Norden. Hier immer noch Schwarz-Gelb und kein nennenswerter Fluss, aber Sprühregen. „Bisscha Regen schön“, findet der Sohn auf dem Fahrrad.

Winterkind

„Na, freut sich Dein Kleiner schon auf den Schnee“, fragte unsere Sekretärin im Herbst.
Nö, meinte ich, denn erstens kann er sich, obwohl er geboren wurde, während es schneite, mit seinen eindreiviertel Jahren an keinen Schnee mehr erinnern, und zweitens ist „sich auf etwas freuen“ noch ein etwas abstraktes Konzept in dem Alter. Ob er sich über Schnee freut, konnten wir dann aber bald überprüfen, denn es begann zu schneien. Es schneite einen Tag, es schneite zwei Tage, es schneite drei Tage, überall lag die weiße Pracht und Baby B zeigte sich nicht im mindesten beeindruckt, schien das neue Wetter kaum wahrzunehmen. Dann traten wir eines Morgens Ende November vor die Haustür, Markt und Straßen lagen noch immer unter einer weißen Decke, alles glitzerte, und plötzlich blieb Baby B stehen, schaute, staunte, zeigte auf die Schneehauben auf dem Zaun: „Mami, guck! Schaum!“
Und er freundete sich an mit dem Schaum, den er in der Wanne schon liebte, Zeit genug war ja. Er fand ihn zwar „kal'“, das aber störte nicht, gar nicht, er genoss es, durch ihn zu stapfen, ihn aufzuheben und zu werfen, sich von Opa auf dem Schlitten ziehen zu lassen, mit uns allen am Deich zu rodeln, das Schaf im Garten mit selbst gesammeltem Schnee zu füttern (das Schaf bevorzugt Äpfel). All das stundenlang, auch wenn wir Erwachsenen längst Eisfüße hatten. „Schaum, Mami!“
Im Advent lag Schnee, Weihnachten lag Schnee, nach Weihnachten lag Schnee, endlich ergeben die Schneebilder im Wimmelbuch einen Sinn und die Postkarten mit verschneiten Bäumen. Neujahr lag immer noch Schnee, und als Baby B. am Abend in der Wanne saß, den Kopf voller Shampoo, da klatschte er mit beiden Händen in den Schaum, ließ weiße Flocken hochspritzen und rief: „Mami, guck! ‚Nee!“

Der Vollständigkeit halber

2010 in schiefen Fragen.

Zugenommen oder abgenommen?
Anfangs ab, dann wieder etwas zu, unterm Strich gleich.

Haare länger oder kürzer?
Kürzer.

Kurzsichtiger oder weitsichtiger?
Gleich kurzsichtig, aber die Brille ist schiefer und zerkratzter. Wird Zeit für eine neue Brille, um meine Kontaktlinsen auch mal rauszunehmen.

Mehr Kohle oder weniger.
Gleich viel Geld, weniger Leute, also mehr.

Mehr ausgegeben oder weniger?
Keine Ahnung. Bei meinem normal verfügbaren Geld ist kaum Spielraum für große Ausreißer. Da ich mir aber zwischendurch was leihen musste, wohl mehr.

Der hirnrissigste Plan?
Nach der Konferenz da drüben im gleichen Monat auch noch zig Veranstaltungen zuzusagen und umzuziehen.

Die gefährlichste Unternehmung?
4x über den Atlantik fliegen.
Die fast gefährlichste Unternehmung: In Chile sein, während dort die Erde bebt. Das Beben kam mir aber zwei Tage zuvor, und so bin ich in BsAs geblieben.
Durch eine geschlossene Glastür rennen.

Mehr Sport oder weniger?
Etwa so viel wie mein 2010-Ich, deutlich weniger als das von 2009. Wenig.

Die teuerste Anschaffung?
Die digitale Spiegelreflexkamera und das neue Laptop.

Das leckerste Essen?
Kurz vor Jahresende Miesmuscheln in Weißweinsud von S.

Das beeindruckenste Buch?
Vielleicht Martín Kohan (Ü Peter Kultzen): Zweimal Juni (Dos veces junio).
Oh, und dann war da natürlich noch mein Buch. Aber im Verhältnis zu all der Arbeit, die drin steckt, war der Moment, als die beiden Kartons dann vor mir standen, gar nicht so
beeindruckend.

Das enttäuschendste Buch?
Luiz Claudio Cardoso (Ü Gesa Hasebrink): Der Tag, an dem sie Vater holten (Meu pai, acabaram com ele).

Der ergreifendste Film?
Die Fremde.

Der beste Theaterb4hesuch?
Ich war nur ein Mal im Theater, und das war mau.

Die beste CD?
Am meisten gehört: Yata pata und die anderen griechischen Kinderlieder.

Die meiste Zeit verbracht mit…?
Klar werden.
Zeug.
Baby B. zum Schlafen bringen.
Nicht hinterherkommen.

Die schönste Zeit verbracht mit… ?
Baby B. und S.

Vorherrschendes Gefühl 2010?
Puh!

2010 zum ersten Mal getan?
Jemanden gebeten auszuziehen.
Ein Spiel der 2. Bundesliga im Stadion gesehen. (6:1, gewonnen)
Ein Spiel der 1. Bundesliga im Stadion gesehen. (2:1, verloren.)

2010 nach langer Zeit wieder getan?
Gemeinsam kochen.
Am Deich rodeln.
Herzklopfdingens.

3 Dinge, auf die ich gut hätte verzichten mögen?
Januar, Februar, März.

Die wichtigste Sache, von der ich jemanden überzeugen wollte?
Das ist richtig so. (Mich selbst.) (Wollte und habe.)

Das schönste Geschenk, das ich jemandem gemacht habe?
Es war nicht so das Geschenke-Jahr.

Das schönste Geschenk, das mir jemand gemacht hat?
Der alte Schreibtisch meiner Großeltern aus dem nun aufgelösten Arbeitszimmer.

Die schönste neue Bekanntschaft, die ich gemacht habe?
Der neue Nachbar.

Der folgenreichste Satz, den jemand zu mir gesagt hat?
a) Den behalte ich lieber für mich.
b) Den auch.

Der folgenreichste Satz, den ich zu jemandem gesagt habe?
a) „…möchte ich, dass Du dann ausziehst.“
b) „Du kannst auch bei mir Fußball gucken.“

2010 war mit 1 Wort…?
Entscheidungsreich.

Umziehen als Lebensform

Es stand glaube ich in diesem schön gestalteten Umzugsbuch – im Schnitt zieht jeder Deutsche 5x in seinem Leben um.
Klar, damit das mit dem Durchschnitt hinkommt, braucht man neben dem Menschen, der z.B. auf seinem elterlichen Bauernhof geboren wird und diesen irgendwann übernimmt und erst viele Jahre später aufs Altenteil im Westteil des Geländes zieht (zählt das als Umzug?), auch diejenigen, die entsprechend häufiger umziehen. Marine-Kinder gehörten bei uns in der Schule dazu, alle 2 Jahre ein neuer Stützpunkt für den Papa und ein Umzug für alle. Ich gehöre auch zu denen, die regelmäßig umziehen, damit im Mittel der Deutschen dann die Fünf rauskommt. In nun knapp dreieinhalb Dekaden Leben bin ich gerade zum neunten Mal umgezogen, Umzüge innerhalb der Auslandszeit nicht mitgerechnet, und dabei waren die Schuljahre stabil: Von der 1. bis zur 13. Klasse kein einziger Umzug! In den übrigen Jahren ist die Frequenz entsprechend höher. Da zahlt es sich aus, wenn man etwas langsam im Einrichten ist: Wo nichts an der Wand hängt, muss auch kein gerade erst gebohrtes Dübelloch wieder zugemoltofillt werden. Unpraktisch dagegen, dass der Berg Zeug immer weiter wächst und die Möbel langsam massiver werden – die Böcke mit Holzplatte wurden beispielsweise gerade durch einen geerbten, geräumigen, echten Schreibtisch ersetzt. Unpraktisch auch, dass ich die Neigung habe, immer oben zu wohnen, jetzt wieder in den Wipfeln der höchsten Bäume. „Es gibt doch so schöne Parterre-Wohnungen“, sagte der Möbelpacker, als er die Waschmaschine durchs Treppenhausfenster wuchtete. „Aber man will doch mal ein Eigenheim haben, vielleicht im Grünen“, sagen alle jungen Bankkauffrauen, die mir Bausparverträge verkaufen wollen, die ich stets dankend ablehne, da ich nicht weiß, wo ich mal leben werde, und das noch länger nicht. „Irgendwann will man doch bauen“, insistieren sie, geschätzte 10 Jahre jünger als ich, und berichten halb ratlos, halb enthusiastisch von ihrem Häuschen in einem der Dörfer umzu, und mit „irgendwann“ meinen sie „schon längst“. Inkompatible Welten. Ich habe ein Buch geschrieben, ich habe einen Sohn bekommen. Das Haus müssen andere bauen. Ich ziehe um.

Mythen

Ich habe heute mit meinem Kind einen, vielleicht zwei urbane Mythen widerlegt.
Mythos 1: Latte macchiato enthält Kaffee.
Mythos 2: Kaffee macht wach.
Bei Mythos 1 drängte sich der Verdacht ja schon länger auf, und dass Kaffee wach machen soll, konnte ich an mir selbst noch nie verifizieren und halte diesen Zusammenhang schon lange für ein Gerücht. Meine Mutter pflegte früher zu sagen: „Ich bin so müde; ich mach mir mal einen Kaffee, dann kann ich schnell etwas schlafen“, und genau das tat sie dann. Wobei „schnell schlafen“ bei meiner schlafbegabten Mutter hieß, noch deutlich vor Erreichen des Kissens einzuschlafen, was ohne Kaffee der normale Einschlafmoment war.
Das die private Prägung, aber der Volksmund behauptet es ja hartnäckig, positiv wie negativ: „Ich brauch erst mal einen Kaffee zum Wachwerden“ oder „Jetzt kann ich keinen Kaffee mehr trinken, sonst schlaf ich die ganze Nacht nicht.“
Zum heute durchgeführten Versuch: Als die Nachbarin am späten Nachmittag da war, habe ich ihr und mir Latte macchiato gemacht, dem Kind Kakao. Als die Nachbarin weg und ich allein in der Küche war, hat das Kind meinen Latte macchiato (noch etwa 3 Fingerbreit in einem großen Latte-macchiato-Glas) ausgetrunken. Ich habe den letzten Schluck gesehen, „mmmhm!“ sagte er, nickte zustimmend, hielt das Glas hoch, sagte noch „Tee!“ und trank aus. Wenig später, nachdem er Pizza gegessen, staubgesaugt und mit dem Bagger gespielt hatte, ist er zur ganz normalen Zeit normal schnell eingeschlafen.
Resultate: Wenn damit (Kind trinkt wesentliche Mengen Latte macchiato, Kind schläft) Mythos 1 widerlegt sein sollte und Latte macchiato eben keinen Kaffee enthält, kann Mythos 2 dennoch wahr sein. Das lässt sich aus der Versuchsanordnung nicht ableiten. Wenn Mythos 2 mit unserem kleinen Versuch widerlegt werden konnte, ist davon dennoch der Wahrheitsgehalt von Mythos 1 noch nicht betroffen. Vielleicht entsprechen, was aufgrund der Faktenlage nicht zu entscheiden ist, beide Mythen nicht der Wahrheit. Ganz sicher aber sind, das kann als Ergebnis festgehalten werden, nicht beide Mythen wahr.
Auch wenn noch Fragen offen geblieben sind, haben wir doch en passant noch eine andere überlieferte Kaffeeweisheit falsifiziert: „Nicht für Kinder ist der Türkentrank“. Baby B. findet schon. Lecker.

Nuno und die Kinna

Baby B. nennt mich neuerdings nicht mehr wie alle anderen Frauen „Mama“, sondern differenzierter „Mami“. Und nun hat er auf sich selbst gezeigt und nicht „meiner“ gesagt, sondern strahlend „Nuno“. Erkannt. Die Entwicklung macht Riesensprünge.
In der Kita hat er drei Erzieherinnen, die alle noch „Mama“ heißen, aber jeden Tag kann er einen neuen Namen von einem der Kinder. In seiner Gruppe sind außer Nuno selbst: Anna, Inna, Bin, Beca, Hiha, Klakla, Obi, Mahuhu und Unu. Und Kinna. (Bei Beca muss man sich übrigens auf den Kopf klopfen, weil sie immer mit einer Mütze in die Krippe kommt. Beca gehört zu den größeren Mädchen, die schon seit letztem Jahr in die Kita gehen, und sie ist die erste, von der er morgens nach dem Aufwachen spricht. „Beca!“ Große Liebe.) Wer erkennt die anderen, wer möchte lösen?