Was für ein deprimierender Zoo. Auf kleinem Gelände zum Glück nur wenige Tiere, ein paar Raubkatzen, bei denen man die Knochen zählen kann, ebenso magere Bären, der Braunbär kreist um sein rundes Wasserbecken und hebt immer an der gleichen Stelle den Fuß. Die Elefanten haben etwas mehr Platz vor ihrem 1904 erbauten Haus, auch die Giraffen haben zumindest nach oben Luft, um die Füße herum teilen sie das Gelände mit Zwergziegen und Straußen.
Das Nilpferd liegt hinterm Schuppen, der Tapir gähnt, das Tropenhaus ist leer bis auf einige in Schaukästen aufgespießte Schmetterlinge. Die einheimischen Tiere habe ich fast alle schon mal in freier Natur gesehen, nett sind hier die Maras Patagónicas, die großen Pampahasen, die im ganzen Zoo frei herumlaufen und neugierig auf Schnurrbartlänge an mein Objektiv kommen. Bei den anderen bricht es einem das Herz. Große Amazonaspageien in Volieren, kaum größer als heimische Wohnzimmerkäfige. Architektonisch sind sie hübsch, die zieselierten Eisenkäfige mit Zwiebeltürmchen-Dach stammen sicher noch aus der Gründungszeit des Zoos.und würden jedem Bilderbuch Ehre machen. Platz ist allerdings wenig darin, auch die Affen sitzen in solchen Käfigen und können sonst nicht viel tun. Die Lamas stehen struppig auf einem trockenen Feld, die Lasttiere in den Anden wirkten trotz ihrer farbigen Woll-Bändchen in den Ohren, die Besitz markierten, so stolz dagegen. Vicuñas, die kleinen wilden Verwandten mit dem feinen Fell, die nicht zähmbar sind, betteln um Popcorn. Einen etwas größeren, aber oben ebenfalls in einem engen Zwiebeltürmchen zulaufenden Käfig haben die beiden Condore. Sie stehen vor einem Kunstfelsen und gucken stumpf in die Gegend. Eine Mutter erklärt ihrer Tochter, dass das Condore seien, die ganz hoch fliegen können, darum sei der Käfig sooo hoch. Er reicht vielleicht bis zum 2. Stock der Hochhäuser auf der angrenzenden Avenida, kaum bis zu den Baumwipfeln. Die Könige der Lüfte, die ich in Peru über dem Valle del Colca, der tiefsten Schlucht in den Anden, habe kreisen sehen, in 3.000, 4.000 m Höhe. Hier stehen sie wie schnöde Fußgänger und schauen an uns vorbei, es ist ein Jammer.
Wir kürzen etwas ab und wollen noch ins Aquarium, das wie das leere Tropenhaus und das Reptilariun, das wir uns schenken, Aufpreis gekostet hat. Im Außengelände nur ein paar Seelöwen auf einem knappen Betonfelsen, andere drängeln sich im Bassin, im Teich daneben ein paar Kois, die von einer bolivianischen Familie begutachtet werden. Nur die Pinguine will ich noch sehen, meine Lieblinge. Wir finden sie erst, nachdem wir gefragt haben, denn die Pinguine wohnen anders als gedacht in einem Aquarium im Innenbereich, ohne Eis, ohne frische Luft, nur ein paar beige angemalte Beton-Eis-Wände im Hintergrund und ein schmales Becken, in dem drei kleine Pinguine kontinuierlich ihre Runden drehen.
Wenn das artgerechte Haltung ist, nehme ich mir tatsächlich wie schon lange gewünscht einen Pinguin mit nach Hause, tagsüber kann er in die Badewanne und nachts kann er im Kühlschrank schlafen.
B. fand die Tauben bei den Elefanten toll und die Perlhühner, womit er ganz auf der Linie der Kindergartengruppe liegt, die quietschend und juchzend an den Giraffen und Zwergnilpferden vorbei stürmte, geradewegs auf eine Ente mit Küken zu, die auf dem Hauptweg spazieren ging.
Wir haben den Zoo etwas bedrückt verlassen und waren dann auf dem Weg nach Hause noch am Botanischen Garten entlang, der voller magerer wilder Katzen ist, und im wunderschönen Palermo etwas spazieren.
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40 Tage Buenos Aires [25]
Ich mag es ja, nicht so klassisch im Urlaub zu sein. Ein bisschen habe ich Freund J.-E. damals darum beneidet, ganz Südamerika auf einer großen Rundreise kennenzulernen, und ich wünsche mir immer noch, einmal eine Reise vom Norden Argentiniens bis ganz in den Süden zu machen, nach Feuerland und zu den Gletschern und Pinguinen, und dann dort umdrehen, wo der Kontinent in kleine Inseln zersplittert und auf der chilenischen Seite wieder hochfahren, durch den „großen Süden“, wo die Vulkane mit den Füßen im Pazifik stehen, bis hoch in den Norden, und dann auf der Querseite des Dreiecks Cono Sur durch die Wüste und Gegenden wie Jujuy bis zu den Wasserfällen zwischen Brasilien und Argentinien wieder zurück zum Ausgangspunkt. Dafür wäre viel Zeit und Geld nötig und ein etwas größeres Kind. Aber obwohl ich mir eine solche Reise wünsche, habe ich mich zur gleichen Zeit, als J.-E. all dies und noch viel mehr sah, ganz bewusst dafür entscheiden, für noch mehr Monate an einen einzigen Ort zu gehen, dort nicht auf Durchreise zu sein, sondern dort zu leben, das ganz normale Alltagsleben zu teilen und die echte Welt der Menschen einzutauchen.
Ein bisschen ist es jetzt wieder so, auch wenn ich ehrlicherweise auf jede Frage nach meinem Status hier (Lebst Du hier? Bist Du nur kurz da?) antworte, dass ich nur „de paso“ da sei, nur vorübergehend. Aber ein normaler Urlaub sind sechs Wochen an einem Ort, den man kennt, eben auch nicht. Ich gehe sicher viel weniger in Museum als die Kurzzeittouristen, schade, aber dafür mehr auf den Spielplatz, ich kenne die Preisunterschiede in den verschiedenen Supermärkten, Maxi-Kiosken und den schmalen chinesischen Supermärkten, und ich nehme hier eben teilweise am ganz normalen Leben teil, mit dem Privileg, nicht zu arbeiten. (Ich habe Arbeit dabei, das ja, aber ich muss ja abends immer bloggen.) Heute habe ich zum Beispiel die kleine Tochter der Freunde H. & J. aus dem Kindergarten abgeholt, wir haben dann zusammen gegessen, Mittagsschlaf gehalten und gespielt, bis ihre Mutter von der Arbeit kam. Also stand ich um 11 Uhr vormittags mit einer Traube von Müttern, Großmüttern und Nannys vor den hohen Mauern des Kindegartens „Heiliger Johannes Wort Gottes“ und wartete darauf, dass sich die große Metalltür öffnen würde und eins nach dem anderen die Kinder in ihren weiß-grünen Uniformen beim Namen genannt und bei Identifikation des Abholenden geküsst und ins Licht hinausgeschubst würden. Am Vortag hatte die Mutter in das Mitteilungsbuch geschrieben, dass ich (voller Name, Passnummer) heute E. abholen würde. E. tauchte als eine der letzten im Türspalt auf, nachdem ich mich ausgewiesen und E. bestätigt hatte, dass sie mich kennt, durfte ich sie mitnehmen. „Sie hatte einen guten Tag, sagen Sie das der Mutter von E.“ Diese Sicherheitsmaßnahmen sind wohl nötig in einem Land, in dem überdurchschnittlich viele Kinder verschwinden, es ist ein Durchgangsland für Zwangsadoptionen und Kinderprostitution, das war mir auch nicht klar. Ob es aber wirklich die beste Methode ist, die Kinder etwa eine halbe Stunde lang hinter einer Metalltür sitzen zu lassen, bis jedes einzelne von drei Erzieherinnen in grünen Uniformen gemeinschaftlich hinausbefördert wird? Sicher trainiert es die Geduld und die Fähigkeit des Schlangestehens. Auch die frühe Abholzeit, die es überhaupt erst nötig machte, dass H. & J. außer Großeltern, Nachbarn und anderen Kindergarteneltern auch den Besuch aus Deutschland einspannten, dient dem Schutz der Kinder und scheint sie mir doch mehr als alle andere zu belasten. Jedes einzelne Schuljahr (und die Kindergartenkinder gehen hier zur Schule, sie gehen lernen, und das auch im Kindergartenbereich nicht altersgemischt) beginnt mit einer „Gewöhnungsphase“. Die Kinder im 1. Jahr, also die Einjährigen, gehen die ersten vier Wochen lang nur halbstündig bis eine Stunde pro Tag, und das auch nicht immer zur gleichen Zeit: Der Enkel der Tante musste jeden Tag zu einer anderen Zeit zur „Gewöhnung“, damit er jeden Tag auf andere Kinder trifft und am Ende des Monats alle Kinder einmal gesehen hat. Am Ende des Monats ist wahrscheinlich auch das Betreuungsguthaben bei den Großeltern aufgebraucht, denn die Eltern schicken ihr Kind ja nicht aus Lust und Laune mit einem Jahr in die Kita, sondern weil sie arbeiten müssen – und das ist mit über vier Wochen täglich wechselnden Eingewöhnungs-Halbstündchen kaum zu vereinbaren, weshalb überall die Großeltern und andere Verwandte ranmüssen. Und was ein Baby davon hat, am Ende des Monats wieder mit den Kindern zusammenzutreffen, die es vor vier Wochen – das ist ein Zwölftel Leben für den kleinen Chulis! – einmal für eine halbe Stunde gesehen hat, sei dahingestellt. Die Wiedersehensfreude ist bestimmt groß. Ich hatte das für eine etwas überzogene Maßnahme dieses einen Kindergartens gehalten, aber bei E. ist es genauso. Sie geht nun das dritte Jahr in diesen Kindergarten, mit den gleichen Erzieherinnen und den gleichen Mitschülern. Und sie muss jedes Jahr durch die Gewöhnung, die für sie vor allem bedeutet, dass sie jeden Tag von jemand anderem abgeholt oder mitgenommen wird und jeden Tag woanders Mittag isst, und ihre Eltern sie erst dann selbst abholen können, wenn diese Phase vorbei ist. Ich würde mal vermuten, dass die Gewöhnung leichter fällt, wenn jeder Tag gleich verläuft, aber ich bin natürlich kein Pädagoge. Auf die Förderung der (Mittelschichts-)Kinder wird viel Wert gelegt, die Kinderbücher sind wahnsinnig pädagogisch, ich kenne mehrere Eltern, die ihre Kinder zweisprachig erziehen, obwohl sie selbst es nicht sind. Allerdings scheinen mir auch da – aber ich bin natürlich kein Pädagoge – die Freiräume zu fehlen. E. brachte heute ihre Kunstwerkte aus der Kita mit, eines hatte ganz offenbar die Erzieherin gemalt, aber die kann hübsche Sonnen und Blumen zeichnen. Auch die Eltern müssen ständig viele Beiträge dieser Art leisten, zum Beispiel nach einem vorgegebenen Schnittmuster ein Kissen für das Kind nähen, das es dann in der Kita hat, oder zu Hause grüne Knete kochen – weil wir zusammen am Strand waren, hat H. ihrer Tochter einen Topf gekaufte Knete mitgegeben und einen Entschuldigungsbrief dazu, sie seien am Meer gewesen und hätten es nicht geschafft, für den Moment mögen sie doch diese benutzen. Heute kam der Tiegel wieder zurück, „vielen Dank für die Nachricht, anbei die Knete, die Sie geschickt haben; jetzt haben Sie ja Zeit und können E. das mitgeben, was wir aufgetragen haben.“ Vermutlich versuchen sie so, die Aktivitäten des Kindergartens mit denen zu Hause zu verknüpfen, was ja an sich eine nette Idee ist, und sicherzustellen, dass sich die Eltern mit den Kindern beschäftigen und sie nicht vor dem Fernseher parken. Allerdings kann eine Mutter auch gut alleine Knete kochen, hat vielleicht auch kaum eine andere Wahl, wenn sie spät von der Arbeit kommt, das gemeinsame Erleben mit dem Kind ist durch diese Aufgabe jedenfalls nicht gesichert, und ich finde es schon recht dreist, arbeitenden Eltern die knappe gemeinsame Freizeit mit ihren Kindern mit solchen Pflicht-Aktivitäten zu füllen.Das heutige Foto ist von einem Spielplatz, wo es außer der üblichen Sandkiste und Schaukeln auch kreative Angebote gab. Neben dem umzäunten Spielgelände standen ordentlich aufgereiht sechs kleine Staffeleien mit bunten Plastikstühlchen, es sah ein bisschen aus wie bei Schneewittchen im Atelier.
Auch hier aber gelenkte Kreativität: Die einladende Farbe in den Bechern sollte dazu verwendet werden, die auf den Staffeleien stehenden kopierten Vorlagen von Disney-Figuren hübsch ordentlich auszumalen. Hier wird nicht rumgeschmiert, hier wird ein Winnieh-the-Pooh ausgemalt, wie es sich gehört.
Wenn die lieben Kleinen dann Zahlen lesen können, machen wir mit Malen nach Zahlen weiter, das trainiert bestimmt auch die mathematischen und künstlerischen Fähigkeiten gleichzeitig. Aber ich bin ja kein Pädagoge.
Was aber sehr positiv auffällt, und das möchte ich an dieser Stelle nachdrücklich unterstreichen, sind die Hilfe und Liebenswürdigkeit, die einem mit Kind entgegengebracht werden. Vielfache Angebote von Männern wie Frauen, mir den Wagen die U-Bahn-Treppe runterzutragen, und als ich heute in der Schalterschlange mit Kind und Wagen und Tasche jonglierte und dabei Kleingeld für die Fahrkarte suchte, hat ein junger Mann kurzerhand für mich bezahlt. Auch in Cafés, die eigentlich nicht für Kinder ausgerichtet sind, geben die Kellner B. ausdrücklich die Lizenz zum Krümeln und Löffel werfen, und an der Supermarktkasse werde ich eigentlich immer vorgelassen, damit ich mit Kind nicht so lange warten muss. Das ist toll, und ich fürchte, das werde ich in Deutschland vermissen.
40 Tage Buenos Aires [24]
Am Nachbartisch, Paseo de la Plaza, zwischen Corrientes und Sarmiento.
Am Morgen Regen in Buenos Aires, und statt auf den Spielplatz gehen B und ich erst mal in die Badewanne, das machen wir hier manchmal mehrmals am Tag, mit eher kühlem Wasser. B versucht seit ein paar Tagen allein einzusteigen, er hält sich am Rand fest und schmeißt sein eines Bein hoch, so hoch, dass er mit den Zehen an den (niedrigen) Wannenrand kommt, aber dann gehts nicht weiter. Dafür kann er Treppen steigen und rutschen und küssen. Mmmmmm-bah! Und er kann schlafen! Das Kind schläft! Tagsüber und nachts, oft sogar durch. Auf einmal gehts, in der Hitze nackt unter dem brummenden Ventilator.
Percanto ist vormittags bei einem Tanzkurs, danach und nach Bs erster Siesta (er macht seit ein paar Tagen mehrere!) gehen wir zusammen los, die Sonne ist wieder da und es ist warm und feucht. Wir gehen nach langer Zeit mal wieder in die Parrilla, zum Grill. Ich esse Milanesa, das ist ein dünnes Schnitzel mit – wenn es gut ist- Kräutern zwischen Panade und Fleisch.
Dass die Küche hier italienisch beeinflusst ist, hatte ich ja beim Kaffee schon erwähnt, auch das Essen ist neben dem vielen puren Fleisch recht italienisch, wenn auch deutlich weniger raffiniert. Pizza und Pasta, Ravioli und Gnocchi („Ñoqui„) sind Standardgerichte. Gnocchi gilt als das klassische Monats-End-Essen, wenn das Geld ausgeht und die Lebensmittel billig sein müssen. Zwar würde hier niemand ein Schnitzel als italienisches Essen bezeichnen, es ist – natürlich – so argentinisch wie der Asado und die Empanadas, aber der Name verweist darauf: Milanesa enspricht dem Adjektiv milanés (m.) / milanesa (f.), „mailändisch“. Es gibt auch milanesa napolitana oder einfacher milanesa napo, dann wird sie mit Schinken, Tomaten und Oregano zubereitet.
„Mailänder Napolitaner Art“ ist natürlich schon hübsch.
Hinterher waren wir Espresso trinken (bzw. Cortado, Espresso mit einem Schuss Milchschaum) und dann ausführlich auf dem Spielplatz. Deswegen gab es heute eigentlich eine ganze Serie Bank-Bilder, Tauben vor Bänken und ein reizendes Zufallspaar auf einer Bank, eine junge wildlockige Frau im gepunkteten Kleid und ein alter weißhaariger Herr mit Stock, die sich gestenreich irgendwelche Dinge erzählten. Gegen Abend sind wir dann mit einem schon wieder sandig in der Karre schlafenden Kind Obst kaufen gegangen (frische, reife Mangos! und winzige süße Bananen und eine Schale voller Kirschen) und nochmal in den Paseo de la Plaza für Eis und mehr Kaffee. Die Passage ist wirklich eine Oase direkt an der wuseligen Ameisenstraße Corrientes, es ist trotz vieler kleiner Läden, Cafés und Theater ganz still, man hört nicht mal den steten Verkehr, der in unmittelbarer Nähe vorbeirauscht. Und man kann im Café draußen sitzen.
Ich habe dann das erste Mal die Lifeview-Funktion der Kamera ausprobiert, um die beiden Tischnachbarn auf obigem Bild nicht zu stören und etwas diskreter vor dem Bauch zu fotografieren. Er hörte über Kopfhörer laut klassische Musik, rauchte, sie lernte aus vielen Ringheften und langen Ordnern. Was man nicht sieht: Auf der anderen Seite der Kamera trage ich ebenfalls ein lila Trägerhemd, allerdings etwas dunkler als die Oberteile meiner heimlichen Modelle an den Nachbartischen, wie auch mein Rock etwas dunkler ist als das Blaugrün der Wand.
40 Tage Buenos Aires [23]
Manchmal fehlt in der geschlossenen Reihe Fassaden ein Haus wie ein ausgefallener Zahn, und manchmal hat dieses abgerissene Haus dort über der Baustelle seinen Abdruck hinterlassen.
Das Geisterhaus auf dem Fotos war einmal viel niedriger als die benachbarten Gebäude, schmalbrüstig und nur zwei Zimmer tief. Wenn man das Bild groß klickt (der Ausschnitt ist etwas groß, aber sonst wird nicht klar, worum es sich handelt), kann man die Details erkennen: Die nach Biedermeier aussehende Tapete im Wohnzimmer, die Kacheln in der Küche, den Schornstein, die Treppen – und das im kleinen Zimmer neben dem Wohnzimmer sieht aus wie ein Kronleuchter, aber wie kommt dieser Abdruck an die Außenwand?
Mich beschleicht immer ein komisches Gefühl, wenn ich mit Baby B in der Karre einem alten Rollstuhlfahrer entegegenkomme, oder wenn er tapsend an der Hand läuft und dabei auf eine alte Frau am Rollater trifft, der Anfang und das Ende scheinen sich so zu gleichen. Bei den Häusern ist es vielleicht ähnlich. Erst war es eine Skizze, eine maßstabsgetreue Zeichnung, auf der das Wohnzimmer eingetragen war, die Treppen, der Kronleuchter vielleicht und der Schornstein. Und wenn alle Menschen gestorben oder ausgezogen sind und der Kran schon weg ist und unten im Erdgeschoss nicht viel mehr als ein großer Laster mit Schutt auf der Ladefläche steht, dann bleiben kaum noch Spuren der dort verbrachten Leben und sieht es wieder so aus wie anfangs beim Architekten, eine Skizze mit Tapetenresten, ein Schatten, ein Geisterhaus.
40 Tage Buenos Aires [22]
Die andere Großmutter ist heute da, und nachdem wir zusammen auf dem Spielplatz waren und Café con leche mit Medialunas gegessen haben, nutzten wir sie als Babysitter und sind zu Percantos altem Frisör gegangen. Oben hat Víctor Percanto die Haare geschnitten, im Erdgeschoss hat mir Walter einen etwas fransigeren Schnitt verpasst. Er war von oben bis unten tätowiert, darum hab ich lieber dazugesagt, dass ich „eher klassisch“ bin. Ist auch im Prinzip die gleiche Frisur wie immer, nur etwas deutlichere Stufen. Ich war schon einmal dort, damals war es noch „D’Antuan“ und ging über die doppelte Ladenbreite, im oberen Stockwerk saß man in einem prachtvollen Saal wie in Museumsnischen für Marmorstatuen unter großen Bögen. Unten war es heute ein gewöhnlicher Frisör, nur mit extragroßen Spiegeln. Oben werden nur die Männerköpfe geschnitten, und dort liegen keine Promi-Zeitschriften aus, sondern es läuft, wie man auf dem Bild sehen kann, ein Fernseher mit Fußball.
Frisör ist in Argentinien ein klassischer Männer-Beruf, es gibt auch einzelne Frauen, aber denen seien die Haare besser nicht anzuvertrauen, sagt man (das ist mein Beitrag zum Internationalen Tag der Frau 2010). Wie in fast überall ist im Laden mehr Personal als Kundschaft anzutreffen, einige deutlich schwule Frisöre lungern auf leeren Sesseln, ein anderer massiert der einzigen Frisörin den Rücken, während diese einer Kundin blonde Strähnen verpasst, und auch am Empfang sind Frauen, gleich drei hübsche Mädchen möchten mich einem der freien Frisöre vermitteln. Auch die Spiegel werden von einer extra dafür angestellten Frau geputzt, sonst ist nicht viel los, auch im oberen Stockwerk, wo inzwischen Víctor alleine arbeitet, dämmert nur ein Kunde vor dem Fernseher, während Percanto die Haare ausgedünnt werden.
(Haare ausdünnen. Das sind so Dinge, die man sich mit handelsüblichen deutschen Haaren kaum vorstellen kann.)
Freundin H. erzählte mir gestern, dass alle Neugeborenen hier sofort nach der Geburt der Mutter weggenommen werden, für die U1, aber auch zum Baden und Anziehen in einem anderen Raum. Außerdem wird allen Neugeborenen sofort der Kopf geschoren – und die kleinen Mädchen bekommen wenige Minuten nach der Geburt Ohrringe verpasst. Das kenne ich noch aus Peru, dort war das Argument, in dem Alter täte es ihnen noch nicht weh. Klar.
H. hat sich (natürlich!) verweigert und musste dafür extra eine Art Einwilligung unterschreiben, dass sie tatsächlich nicht wollte, dass ihrer Tochter nach der Geburt die Haare geschoren werden, und Ohrringe wirklich und wahrhaftig auch nicht. Es haben auch wirklich alle Mädchen und Babypuppen Ohrstecker.
Die Schwiegermutter hat mir heute umständlich erklärt, dass sie Percanto als Baby auch nicht hat kahlscheren lassen, und darum sei er erst blond gewesen und dann dunkel geworden. So ganz versteh ich die Geschichte nicht, zumal Percanto die schwärzstesten Haare der Welt hat. Geschoren wäre er sicher blond geblieben, sicher. Wobei man vielleicht sagen muss, dass „blond“ das meiste ab einem satten Kastanienbraun ist. Auf den Spielplätzen dieser Viertel der oberen Mittelschicht sind aber tatsächlich viele blonde und blauäuige Kinder mit indigen Kinderfrauen, weshalb ich mit meinem Sohn mit seinen Schokokeksaugen und braunen Locken aussehe, als hätte ich mit irgendjemandem die Kinder vertauscht. (Insider für diejenigen, die uns kennen: Die Schwiegermutter fragte mich heute, ob ich (auch nach drei Jahren ohne Sonne noch ziemlich blond) eigentlich noch blonder sei als mein mittelbrünetter Sohn… der braune Haare hat, oder ihr zufolge eben blonde, obwohl er nicht geschoren wurde, oder gerade darum, man weiß es nicht.)
Ansonsten hat heute natürlich „El Secreto de sus ojos“ den Oskar für den besten ausländischen Film gewonnen, alle freuen sich, obwohl es vorher hieß, es sei ein eher flacher Film im Vergleich zu anderen dieses Jahr. Vor etwa einer Woche kommentierte eine Zeitung, wenn der Hauptdarsteller gewänne (der übrigens nicht mit zur Preisvergabe durfte, weil seine Anwesenheit angeblich Pech bringt), wer sollte ihn dann noch ertragen! Nun ertragen sie, und glücklich.
Und schließlich wurde hier wieder eine Bank über ein Tunnelsystem ausgeraubt. Nachdem dies vor kurzem bereits einmal passiert war, titelten alle Zeitungen und Nachrichtensender, das sei der „Raub des Jahrhunderts“. Dieses Mal führte der Tunnel in den Raum mit den Tresoren und privaten Safes, es sind über 200 Safes aufgebrochen und geleert worden und man spricht von einer Beute von etwa 10 Millionen US-Dollar, auch wenn man das nie genau wissen wird. Die Leute sind fassungslos und wütend, besondere Aufmerksamkeit erregt allerdings ein Detail: Die Bankräuber waren so dreist und nervenstark, dass sie innen an die Wand des Tresorraums geschrieben haben: „Dies ist nicht der Raub des Jahrhunderts. Dies ist der Raub des Jahrtausends.“ Ich finde ja, auch das verdient zumindest eine Nominierung für die Oskars, Kategorie „Raub & Überfall“.
40 Tage Buenos Aires [21]
Tag 21, 8. März 2010: Mar de las Pampas / Las Gaviotas. Provinz Buenos Aires, Atlantikküste. Wir fahren 415 km einfache Strecke, um innerhalb der Provinz Buenos Aires ans Meer zu kommen. Um 7 Uhr brechen wir mit zwei müden, aber tapferen Kindern auf, E fragt bereits bei den Kränen vom Hafen von Buenos Aires „Ist das das Mee‘?“, und so fragt sie bei jedem Fluss und Tümpel, an dem wir vorbeikommen. Auf dem Hinweg halten wir wir alle anderen Ausflüger auch in „Atalaya“, dem Ort der – so heißt es – besten Medialunas Argentiniens. Mehr als über die leckeren Medialunas mit Milchkaffee freue ich mich, dass schon zwei Stunden außerhalb der Hauptstadt die Männer tatsächlich Boinas (das sind die landestypischen Baskenmützen), Tücher, Bombachas de Gaucho (die hiesigen Cowboyhosen) und Stoffschuhe tragen.
Die Landschaft bietet spärlichen Baumbewuchs, sehr viele Kühe und einige Pferde, dazu Windräder. Gerade wegen der Windräder finde ich es schade, dass man auf der Autobahn-ähnlichen Ruta nicht halten kann, so ein Windrad im Morgenlicht ist schon sehr Postkarte. Abgesehen davon hätten die Fotos allerdings vermutlich ausgesehen wie eine schneefreie Version von Ostfriesland.
Wir finden für die Nacht eine preiswerte Holzhütte in Mar de las Pampas / Las Gaviotas, einem kleinen Badeort am Atlantik mit Sandwegen und Pinienwäldern, zum Strand klettern wir nur einmal über eine kleine Düne, und da ist, das Mee‘.
Pinienwälder bis in den Sand, Dünen, Hügel. Ich staune immer wieder, wie ähnlich manche skandinavische Strände solchen aus dem Mittelmeerraum oder Südamerika sind. Bei Pinienwäldern am Meer ruft meine Erinnerung „Italien!“ und „Ostsee!“ gleichzeitig.
Die nächsten beiden Tage verbringen wir mit Wellenspringen, Kinder eincremen, Sonne aufsaugen, Burgen bauen und Türmchen zerstören, Muscheln ins Meer zurückwerfen, Trinkflaschen entsanden, Ballspielen, Matetrinken und Fotografieren.
Der Samstag ist bedeckt, Sonntag ist strahlende Sonne und es ist heiß. Das Meer ist respektgebietend, es zerrt am Bikini und an den Füßen und Schleudergang ist kaum vermeidbar. Kein Badeplatz für Kinder, für Erwachsene eigentlich ebenfalls kaum, die rote Fahne ist auch die ganze Zeit gehisst. Wir halten nur die Kinderfüße ins Wasser und heben sie, selbst bei einem größeren Bauch sofort bis zum Bauch nass, quietschend in die Höhe und baden selbst nur wenig und einzeln, gucken stattdessen den Wellenreitern und Anglern zu.
B trägt am Strand Shirt und Hut (und am Samstag als einziges Baby keine Hose, was befremdliche Blicke provoziert, auch die Jüngsten zeigen sich hier züchtig bedeckt) und ist die ganze Zeit mit 50er-Sonnenschutz eingecremt, die nächste Stufe wäre ein Gips. Meine Schultern sind ein klein bisschen rot, sonst endlich ein anderes bisschen Farbe bekommen.
Ich hab großartiges und endlich tatsächlich wirksames Anti-Juck-Zeug gefunden: Caladryl. Hilft tatsächlich bei Insektenstichen, außerdem angeblich bei Verbrennungenund Sonnenbrand. Gibt es das in Deutschland? Sonst müsste ich größere Mengen importieren.
Die Rückfahrt wird gesellig, da halb Buenos Aires am Sonntag aus den Badeorten und Estancias auf dem Land in die Stadt zurückrollt – bzw. gemeinsam vor ihren Grenzen und auf der Stadtautobahn steht. Irgendwann sind beide Kinder hin, aber es war schön. Wie macht das Meer nur, dass es so gut tut.
(*) irgendein klares Ausschlusskriterium für die Bilderflut muss ich von vornherein festlegen…
Morgens. Im Dunst der nächste größere Badeort, Villa Gesell.
Drama-Queen („Das Licht!“)
Möwe und Angler (und ich denke an Bruder #1, der sich als kleiner Junge beschwerte: Ich will nicht, dass die Eule mir beim Pieseln zuguckt…)
Halbzeit: 20 / 40 Buenos Aires
Es sind schon ein paar Dinge genannt worden, ich würde mich über mehr Kommentare dazu freuen. Letztlich mach ich natürlich trotzdem, was ich will. Nein, im Ernst, ich schreibe über das, was sich anbietet, aufdrängt, gerade passiert, aber manchmal ist ja auch nicht viel los, dann könnte ich ein Wunschthema angehen, oder ich könnte gezielt auf Fotojagd gehen.
Die este Reaktion kam heute von Malte auf Twitter, und er sagte: „@percanta ich mag ja elefantenbilder…“
Elefantenbilder sind einfach, Elefantenbilder kann ich, Elefantenbilder werden sofort erfüllt:
Bitteschön, Malte. Soweit zu Elefanten.
Was gibt es sonst für Wünsche? Nur zu.
40 Tage Buenos Aires [20]
Dies ist geschummelt, ich bin Samstag und Sonntag mit der befreundeten Familie von gestern und Baby B am Meer. Am Meer, hurra! Ich freu mich auf den Atlantik, die Küste, die Möwen. Allerdings habe ich dort kein Internet, darum lade ich das Foto aus der Stadt schon jetzt hoch und gebe es für den Abend des sechsten frei. Einmal geschummelt, morgen wieder regulär.
Wir fahren um 7 Uhr früh los, also geh ich jetzt duschen und schlafen.
40 Tage Buenos Aires [19]
Links in Gaucho-Outfit (mit dem Pampa-Tuch samt Schließe (Leder oder Silber), hellem Rohledergürtel und Hut – und mit Schnurrbart, por supuesto) und rechts ein Polizist. Der Herr in der Mitte mit Baseball-Kappe ist der Händler, der zu dem Stand mit Mates im Vordergrund gehört. Dass die drei auch Mate trinken, kann man an der Thermoskanne des Gauchos erkennen, darin heißes Wasser für die Aufgüsse.
Die Hitze ist zurück, die schwüle Luft und die Mücken. Heute war Kindertag, B und ich sind U-Bahn gefahren und haben deutsch-argentinische Freunde samt Tochter besucht. Die Kinder haben haben am gleichen Tag Geburtstag, weshalb E der Meinung ist, dass B eigentlich ein Geschenk zu ihrem zweiten Geburtstag war, den sie in unserer Heimatstadt verbracht haben, samt Besuch auf der Wochenstation am nächsten Tag. E findet Babys großartig und war hingerissen von B, dass er nach drei Stunden immer noch da war und in der kühlenden Wanne, in die wir die beiden nach dem Spielplatz gesteckt hatten, auch noch spritzte, fand sie dann langsam weniger lustig. „Das macht man nicht, auch Baby nicht.“
Die Familie wohnt nicht mehr ganz im Zentrum, und mit jedem Viertel weiter entfertnt von den innerstädtischen „Mikrocentros“ werden die Häuser niedriger. Wir wohnen in einem zehnstöckigen Haus, sie in einem vierstöckigen und man sieht in Villa Crespo noch ein paar Hochhäuser, in die andere Richtung aber nur noch flache Gebäude, Stockwerke mit abnehmender Tendenz bis hin zu Bungalows.
Wir waren kurz im Supermarkt, der dort eine umgebaute bzw. erweiterte Fleischerei ist. Zwei lange Theken, eine nur mit Fleisch samt Schweinepfoten, Pansen und einem ganzen Schweinekopf, der bei einer Gruppe Kinder eine längere Diskussion auslöste – ist das Auge noch da? Guckt das Schwein? Lebt es vielleicht noch, wenn es noch Augen hat? Die andere funktionierte als Kühltheke eines Tante-Emma-Ladens, man sagte dem jungen Mann alles, was man brauchte, und er packte es in einen großen Korb, den man am Schluss mit den Käufen aus den Regalen hinter einem (Brot, Kekse) und eventuellen Fleischwaren bei einer dritten Person bezahlte. Der Laden war schlicht, aber offenbar vernünftig gekühlt, jedenfalls ging es trotz der Aufteilung Hälfte Fleisch / Hälfte alles andere mit dem Geruch. Grenzwertiger war der kleine kombinierte Fleisch- und Obstladen an der Ecke, der eine Wand und die Regale vor der Tür mit Obst hatte, den Rest voller Fleisch. Man hat das Gefühl, Fleischtrauben zu kaufen. Alle Supermärkte haben lange Fleischregale am hinteren Ende und oft einen halboffenen Zugang zur Fleischverarbeitung, das nächste ist dann Milch und Obst. Manchmal riecht es zwischen Kartoffeln und Joghurt so penetrant nach rohem Fleisch (und Innereien), dass ich würgen muss.
Etwas befremdlich finde ich, dass es überhaupt keine normale Milch gibt, nicht nur wird wie bei uns zwischen normal fetter und fettarmer und fettfreier (haha) Milch sowie Frisch- und H-Milch unterschieden, außerdem hat jede Milch ihre eigene Gruppe Zusätze: angereichert mit Vitmin A, B und C, mit extra viel Calcium, mit Calcium und Eisen, mit Vitaminen und Eisen, mit Vitamin D und sonstwas. Außerdem noch spezielle Kindermilch bis 3 Jahre. Ich habe lange nach einer normalen Milch gesucht und keine einzige gefunden. Das kannte ich schon von Joghurt, alle zeigen sich irritiert, dass B normale Joghurts isst und keine „Nachtische für Kinder“, die so etwas wie Fruchtzwerge sind – extra viel Zucker und Farbe, und auf dem Etikett versprechen sie extra viel Vitamine, Eisen, Calcium. Das müsse ich ihm geben, für die Vitamine! Und Joghurt tut doch nicht gut! Ich geb ihm für die Vitamine ja lieber Obst und Gemüse und nach wie vor praktisch keinen Zucker (außer in gesüßtem Gebäck inzwischen).
Dass es keine einfache, sondern nur noch angereicherte Milch gibt, erklärt sich damit, dass bei den letzten Gesundheitsstudien bei den argentinischen Kindern ein im Schnitt deutlicher Vitamin- und Eisenmangel festgestellt wurde. Vitaminmangel hatten übrigens schon die oben genannten Gauchos aus der Gründerzeit, sie haben sich in den weiten Ebenen des Landes, wo sie die Viehherden hüteten, vorwiegend von Fleisch ernährt, das hatten sie ja praktischerweise immer dabei. Eine entscheidende Komponente war von daher der traditionelle Mate, die Yerba (das, was man in Deutschland zu absurden Preisen als Mate-Tee bekommt) kann notfalls als Gemüseersatz fungieren und hält auch die Gedärme in Schwung.
Eisenmangel finde ich interessant in einem Land, das so viel rotes Fleisch isst und das als Hauptgemüse für Tarte und Empanadas Spinat verwendet. Und der Vitaminmangel ist schon traurig, außer Fleisch wächst in diesem Land mit allen (!) Klimazonen, die es überhaupt auf der Erde gibt, schließlich auch Obst und Gemüse aller Arten und Farben. Die Reaktion auf diese Studie war jedenfalls, dass angeordnet wurde, dass jede Milch, die hier in den Handel kommt, mit Vitaminen und/oder Eisen angereichert sein muss, denn wenn die Kinder schon kein Obst und Gemüse essen, Milch bekommen sie alle. Außer B, der hat heute lieber Spinat-Empanada und Oliven gegessen.
40 Tage Buenos Aires [18]
La Boca, das pintoreske Hafenviertel, Heimat der Boca Juniors, hunderttausendfach fotografierte Gasse „Caminito“, hunderttausendfach auf Postkarten verschickte Holz- und Wellblech-Häuser. Dazu Wolken und Sonne: Fotosafari-Tag!
Meine Fotos von heute sind nicht schlecht, manche sogar gut, aber eben: schon hunderttausendfach gesehen. Eines meiner besten Bild aus La Boca ziert bereits seit acht Jahren den Einband des schönen Erzählungs-Bandes Zerfurchtes Land, und so fiel die Auswahl heute schon angesichts der schieren Menge an Postkartenmotiven schwer. Vielleicht gibt es nochmal eine Serie „Fenster“, denn die Entscheidung war: And now something completely different. Diese Turnschuhe – und noch viel mehr – hängen über Kabeln über der Kreuzung neben dem kleinen Sportplatz parallel zur Touristenecke „Caminito“. Ich weiß nicht, ob sie dort als Talismane hängen oder weil ein anderer Spieler sie nach der Partie aus Jux dort hochgeworfen hat, aber dort hängen sie, dicht an dicht wie die Tauben.
Die berühmte Bonbonera der Boca Juniors kann man übrigens prima sehen, wenn man mit dem 29er-Bus aus der Innenstadt kommt. Der Legende nach kommen die blau-gelben Vereinsfarben vom Schornstein eines schwedisches Dampfers, der im Hafenbecken lag. Sie spielen immer sonntags, diese Woche auswärts, und mit Kind ist ein Stadionbesuch auf den hüpfenden, wippenden Tribünen wohl eher mäßig angebracht. Leider.
Etwas nervig an La Boca ist, dass die drei Straßen am alten, gammligen und fast wasserfreien Hafen so absolut auf Touristen ausgerichtet sind, dass kaum etwas mehr authentisch wirkt, selbst Percanto wird ständig auf Englisch angesprochen, alle 20 Meter werde ich gefragt, ob ich ein Foto in Tangopose will (von mir in Tangopose oder vom Fragenden in Tangopose, oder beides), oder „want a picture“ von einem Maradona-Double. Wenn ich selbst etwas anderes als Häuser fotografiere, zum Beispiel die als Abwechslung zum Tango Chacarera oder Zamba tanzenden Paare, stürzt gleich jemand auf mich zu und fordert mich auf, für die Bilder zu zahlen. Das ist okay, aber insgesamt so künstlich wie die Pappmaché-Figuren von Evita Perón und Carlos Gardel, die an so vielen Balkonen stehen, breit grinsen und an deutsche Karnevalsumzüge erinnern.
Wenn Ihr Euch übrigens fragt, wo dieses „Buenos Aires“ eigentlich liegt, hier noch ein Schnappschuss, der diese Frage endlich klären dürfte: