Kinder, unsortiert

Percanto zeigte den Kindern im Kindergarten – seine Gruppe trägt den schönen Namen „Baustelle“ – mit einem Beamer Fotos von einem gemeinsamen Ausflug. Da man alles didaktisch einführen und keine Gelegenheit zum Welterklären auslassen sollte, gab er die Frage nach dem Unterschied zwischen „Beamer“ und „Kino“ an die Gruppe weiter.
Gemeinsames Grübeln, kurz, dann meldete sich ein Junge: „Im Kino gibt es Popcorn.“

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Am Wochenende war das Familientreffen der gesamten Sippe mit mehr als einem Dutzend Kinder unter 1,50m. Viele der Mädchen trugen modegerecht Röckchen und Stiefel, so auch Sophie, 6, ein sehr schickes Paar brauner Wildlederstiefel. Sie putzte sie mit Hingabe an der Schuhputzmaschine im Keller des Hotels und nötigte Percanto, dort auch seine alten Turnschuhe zu putzen, „aber zuerst eincremen.“
Percanto lobte ihre Stiefel, die seien wirklich besonders schön, geputzt oder ungeputzt.
Sophie beugte sich zu ihm und senkte die Stimme: „Ja, und teuer, der Papi hat auch sehr geschimpft.“

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Beim gleichen Familientreffen, im gleichen Keller, Toilettentrakt. Aus der Herrentoilette kam lautes Kinderweinen, ich näherte mich, hörte keine weiteren Stimmen, sah dafür aber Blut an Tür und Klinke. Ich klopfte kurz und rief „hallo“, es hätte ja auch sein können, dass da außer dem Kind auch der Vater war und eventuell andere Männer. Das Weinen verstummte augenblicklich und ein kleiner, nicht zur Familie gehörender Junge im Anzug, der so gerade an die Klinke kam, öffnete mir. Das Gesichtchen verweint und die Lippe blutig, „ich bin hingefallen“, schluchzte er. Ich nahm ihn in den Arm, tröstete ein wenig und sagte, „komm, wir gehen hoch und suchen Deine Eltern, ja? Zu wem gehörst Du denn?“ – „Zu meiner Mami…“

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Wunderbare Blättergeschichte mit dem Gregorzwilling im Hotel Mama.

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Die Taufe meines zweiten Patenkindes fand im Rahmen eines zunehmend langen und weiligen und unfestlichen „Kinder- und Familiengottesdienstes“ statt. Der Mutter, die eine klassische Sängerin für eine Bach-Arie engagiert hat, war das Unbehangen deutlich anzumerken, tapfer sangen wir uns durch alle Strophen „Danke“ (für diesen schönen Morgen), klatschten auch beim „Spatzenchor“ und seinem „Oh Masala, die Welt ist rund“ mit und klimperten auf Kommando mit den Schlüsselbunden, wurden bei einem Predigtersatz mit zwei Handpuppen, die nicht auf den Punkt kamen, ähnlich unruhig wie die vielen Kinder, und verloren jedes Verständnis, als lange nach dem toten Punkt aus den früh von den Kindergartenkindern nach vorne gebrachten Früchten noch ein „Mandala“ gebastelt werden, dieses mit bunten Seidentüchern verziert und dann von den Kindern unter vielfachem Absingen von „Vom Aufgang der Sonne“ umtanzt werden sollte. Auch bei den beteiligten Kindern waren deutliche Müdigkeitserscheinungen erkennbar. Als einer der wachen Jungen das von den Handpuppen zurückgelassene Mikrophon enterte und in den Schlusssegen (es nahte dann doch ein Ende) mit kippender Stimme ein fröhliches „Hallo hallo!“ rief, sprang eine Furie aus der Bank, riss ihn herunter und drückte ihn mit ihrem Gewicht auf den Boden. Es war wohl seine Mutter. Der Rest der Gemeinde hielt entsetzt den Atem an; Kind und Mikrophon haben den Angriff überlebt.
Ach ja, irgendwann zwischen „Masala“ und „Mandala“ wurden in einem schnellen und überaus unfeierlichen Aufwasch drei Kinder getauft, das war ja der eigentliche Anlass für den Festgottesdienst. Mein Patenkind war neben der etwas penetranten, klatschenden und tanzenden Kindergärtnerin als einziger der ganzen Gemeinde bester Stimmung, zeigte mit fröhlichem „da!“ auf das Wasser im Taufbecken und hat sich mit seinen neun Monaten überhaupt prächtig amüsiert. Sein Bruder dagegen, zweieinhalb Jahre, machte seinen Eltern kurz vor Ende des vermeintlichen Kindergottesdienstes einen konstruktiven Vorschlag: „Papi, unser nächstes Baby taufen wir einfach zu Hause, ja?“

Kompliziert

J, bald zweieinhalb Jahre alt, ist gerade in der schönsten Warum-Phase. Es ist ja auch alles nicht so einfach. Warum fällt die Käsescheibe um? Warum ist es kälter? Warum wird es Herbst? Warum kommt Papi später? Warum muss er noch arbeiten? Warum bin ich noch klein? Warum spiele ich mit dem Bagger? Warum macht mir das Spaß?
Wir sitzen zusammen auf dem Sofa und gucken uns eines der Wimmelbücher an, was macht der Hund da? Und was sagt der Mann dann? Warum sagt er das?
Zwischendurch entschuldige ich mich, ich müsse mal kurz aufs Klo.
„Warum musst Du aufs Klo?“
„Ich muss mal eben pieseln.“
„Hast Du auch ein Schwänzchen?“
„Nein, ich habe kein Schwänzchen.“
„Warum nicht?“
„Ich bin eine Frau, und Frauen und Mädchen haben kein Schwänzchen.“
„Aber wie kannst Du dann pieseln?“
„Hm, das geht trotzdem… einen, nun, Ausgang haben wir schon.“
„Ich komme mal mit.“
Besser ist das. Wir gehen also zusammen aufs Klo, er begleitet uns öfter, selbst aufs Töpfchen zu gehen ist ihm aber suspekt und kommt ohne Windel und hochgezogene Hose gar nicht in Frage.
„Ich stell mich mal hier hin“, sagt er, guckt im Wechsel interessiert in die Badewanne und mir zu. Als ich die Hose zumache, schüttelt er den Kopf.
„Aber wenn Du eine Frau bist, warum hast Du dann einen Gürtel?“
Die Welt ist ein komplizierter Ort.

Kinder

Wenn das deutsche Durchschnittspaar 1,4 Kinder hat, heißt das wohl – da ich wenig knapp halbe Kinder kenne und auf dem Spielplatz vorwiegend entzückende Geschwisterpärchen zu beobachten sind, erst ein rosa, dann ein blaues Kind, oder umgekehrt, und wenige mit zwei oder mehr Geschwistern -, dass es sehr viele Einzelkinder gibt. Ich bin mit einem solchen verheiratet, das allerdings aus einem Land kommt, in dem ein Einzelkind ein naher Verwandter des Einhorns sein muss, zumindest was die Verbreitung angeht, und so richtig geplant war das wohl auch nicht. Er meint, das sei nicht schlimm, er hätte niemanden vermisst, aber so wie er sich um seine Freunde kümmert, ein Hütehund, der die Herde zusammenhält, so wie er sich in seine Ersatzfamilien integriert hat mit seinen Leihbrüdern, so denke ich doch, hätte er sie gehabt, den Bruder, die Schwester, er wüsste schon, was ihm fehlt.
Seine Mutter ist dafür die Jüngste von zwölf, und ein Glück, dass die Eltern so lange ausgehalten haben, denn was wäre sonst mit dem Einzelkind an meiner Seite und dem Wesen von 14 cm in meinem Bauch.
Heute waren wir auf einer Beerdigung, und wenn es außer der sowieso oft von mir gehaltenen Plädoyers für Geschwister noch einen guten Grund für mehr als ein Kind gebraucht hätte, dann mag der Anblick der Tochter der Verstorbenen genügt haben, sich Brüder und Schwestern für sein Einzelkind oder sein Erstgeborenes zu wünschen.
Die Frau, der die Trauerfeier galt, war nicht alt, sie lebte seit über 20 Jahren von ihrem Mann getrennt, hatte nach der Trennung damals ihre kleine Tochter mit nach Deutschland genommen und sie hier alleine aufgezogen. Vielleicht wollte sie mehr Kinder haben, aber dann kam die Trennung dazwischen, vielleicht wollte sie auch nur dieses eine, die Herzenstochter, weil es ihr selbst mit sechs Kindern zu Hause viel zu viel war, ich weiß es nicht, ich werde es auch nie erfahren. Gestorben ist sie nun wieder in dem Land, wo ihr Mann lebte und wo das Kind geboren wurde, ihr Herz hat einfach aufgehört zu schlagen, eine Woche, nachdem sie dort noch einmal neu anfangen wollte.
Die Tochter ist jung und schön, enthusiastisch und stark. Und selten habe ich einen Menschen gesehen, der inmitten anderer so alleine war wie diese junge Frau. Die Traueranzeige war nur von ihr unterschrieben, im Gottesdienst sprach der Pastor außer ihrer toten Mutter nur sie mit Namen an, neben ihr saßen wohl die Onkel und Tanten, doch sie ging als erste und allein den Mittelgang der Kapelle hinunter, schluchzend und das Gesicht rotfleckig. Auf dem Vorplatz stand sie mit Abstand zu Familie und Freunden, die sich alle gegenseitig hielten, und erwartete die Kondolenzen, alle umarmten sie, nur sie, denn wer zur Familie gehörte, war dort nicht mehr zu erkennen, zwischendurch stand sie mit hängenden Schultern, allein in der Septembersonne. Mehr als um den frühen Tod der Frau, die beerdigt wurde, habe ich heute um die Einsamkeit ihrer Tochter geweint.

voll geil


Wir wohnen in der Innenstadt, unsere besprayte, dreckige, beklebte und beschriebene Haustür liegt in einer alten Hofdurchfahrt, die Pennern als Regenschutz dient, guten Bürgern als Müllablage und Hunden als Toilette, und allen Leuten zwischen Innenstadt und Parkhaus als Durchgang. Manchmal, wenn ich – anständig angezogen, nett und adrett – das Haus verlasse oder am Briefkasten stehe, werde ich mit offenem Mund angestaunt. Exemplarisch der Kommentar eines kleinen Mädchens: „Mama, kann man dahinter WOHNEN?!“

Schon, auch wenn Penner, die einem den Keller vollkotzen, geklaute Fahrräder, eine eingetretene Haustür und mit Böllern aufgesprengte Briefkästen nicht nur Freude bereiten.
Unser Schlafzimmer liegt genau über dem Durchgang, und als ich heute Nacht um 4 im Bett lag und hellwach in den sich aufklarenden Himmel schaute, kam unten ein Grüppchen junger Leute vom Feiern zurück, offenbar drei Männer und eine Frau. Die Akustik im Hof ist ausgezeichnet. Sie lachten und redeten, und als sie durch den Durchgang kamen, kommentierte die Frau: „Und hier kann man voll geil Zeitungen klauen!“ Alle lachten, nur einer der Männer meinte, mit wem sie sonst so zusammen sei, er würde eigentlich keine Zeitungen klauen, Gelächter, „voll geil“, sie freute sich wie über eine gute Pilz-Stelle, klar, eine Zeitlang gab es eine ganz gute Auswahl (Süddeutsche, Spiegel, Frankfurter Sonntagszeitung), der Briefkasten draußen, aber schön regengeschützt und so bequem auf dem Weg.
Leider habe ich das gekippte Fenster nicht schnell genug aufbekommen, um ihr meine Wut hinterherzurufen, dass das unsere Zeitungen gewesen seien, dass da tatsächlich Leute wohnen, die übrigens morgens im Schlafanzug auf die Straße laufen, um sich die Frühstücklektüre zu holen und dann kopfschüttelnd in die Wohnung zurückkommen, und dass wir die Sonntagszeitung auch darum nicht mehr abonniert haben, weil wir zu selten was davon hatten, denn mindestens jede zweite Woche hatte sie jemand, der diesen Service voll geil findet, vor uns aus dem Kasten genommen.

Medley

J., 2 Jahre alt, und ich spielen mit Duplo. Aus dem Tor wird ein Kran wird ein Haus wird ein Bett wird ein Auto. Mit diesem Auto fahren J.s rechte Hand „Papa“ und J.s linke Hand „J.“ halsbrecherisch hinter der Feuerwehr her und bauen dabei einen schweren Unfall. Die linke Hand „J.“ liegt verletzt auf dem Boden und jammert.
Ich komme mit dem Krankenwagen angebraust, streichle den kleinen Patienten „linke“ Hand“ alias „J.“ und sage „Heile, heile, Segen…“. Sofort kommt J.s kleine rechte Hand dazu, hochkant schiebt er sie auf seinem linken Handrücken hin und her und ergänzt den Reim: „… voller Tücke in die Brücke eine Lücke!“
Textsicher.

Wenn das Volk keine Knödel hat

Wir hängen im Winter immer einen Meisenknödel ans Küchenfenster, den wir an einen an die Fassade genagelten und getapeten Laternenstab knoten. Stab und Knödel sind sehr nah am Fenster, aber inzwischen wissen die Meisen, dass wir drinnen da nur sitzen, und sie drücken sich auch nicht ihre Nasen zu Wellensittichschnäbeln platt. Im Sommer hängt zwar kein Meisenknödel, aber die Meisen können dort landen und verschnaufen und in die Küche gucken. Das tun sie offenbar, jedenfalls kennen sie sich bestens bei uns aus.
Wir hatten Bauarbeiter am Haus, die die Fassade neu gemacht haben, dabei haben sie viel Dreck gemacht, wie die Meisen auf einem Baugerüst am Küchenfenster gesessen, zu uns hinein geguckt und außerdem den Laternenstab entfernt.
Letzteres war den Vögeln offenbar nicht recht, und so sind sie reingekommen, um sich ihre Futterrationen selber zu holen. Ich kam jedenfalls mittags in die Küche, und eine Meise hüpfte auf dem Küchentisch herum. Ich fragte sie, was sie denn da mache, und sie tschilpte, hüpfte auf das gekippte Fenster, guckte mich an, tschilpte mir noch etwas zu und flog wieder raus.
Am nächsten Tag das Gleiche: kleine Meise auf Küchentisch, antwortet auf Anrede mit Tschilpen und hüpft aufs gekippte Fenster. Und auf dem Küchentisch hatte sie Muttis selbstgebackenen Sandkuchen aus der Alufolie ausgepackt und einen guten Teil vom Rand abgepickt.
Wenn die Meisen keine Knödel haben, sollen die Meisen doch Kuchen essen!

Federvogel

Ein Wochenende auf dem Land. Friederike, 3, nimmt mich an die Hand und wir suchen gruselige Tiere mit wenigen Beinen. Im kleinen Steinbruch findet Friederike eine Feder, die sie mir nach kurzem Nachdenken gibt.
„Die Feder ist mein Geschenk für Dich.
Wenn Du zu Hause bist, musst Du sie in ein Glas mit Wasser stellen. Dann wird daraus ein Vogel. Den Vogel musst Du in ein Nest setzen, und wenn er groß geworden ist, musst Du ihn wieder fliegen lassen.
Die Feder schenke ich Dir. Aber nicht vergessen: Du musst sie zu Hause in ein Glas mit Wasser stellen!“

Versprochen.

Vielfüßler

Ein Wochenende auf dem Land. Friederike, 3, nimmt mich an die Hand, „komm, ich zeig Dir mal die Pferde, ja?“
Die Pferde sind zwei Stuten mit Fohlen, eins noch ganz klein, es liegt neben seiner Mutter im Stroh und schläft.
Friederike ist an der Wand der Box hochgeklettert, ich halte sie fest und wir gucken uns Mutter und Kind an, reden über Namen von Tierkindern. „Weißt Du, wie das Fohlen wieder aufsteht?“, fragt sie mich dann, „das ist nämlich so: Erst kommen die hinteren Beine, dann kommen die rechten Beine, dann kommen die unteren Beine, dann kommen die anderen Beine, und am Ende kommen die vorderen Beine. Und dann steht es.“