Ich mag es ja, nicht so klassisch im Urlaub zu sein. Ein bisschen habe ich Freund J.-E. damals darum beneidet, ganz Südamerika auf einer großen Rundreise kennenzulernen, und ich wünsche mir immer noch, einmal eine Reise vom Norden Argentiniens bis ganz in den Süden zu machen, nach Feuerland und zu den Gletschern und Pinguinen, und dann dort umdrehen, wo der Kontinent in kleine Inseln zersplittert und auf der chilenischen Seite wieder hochfahren, durch den „großen Süden“, wo die Vulkane mit den Füßen im Pazifik stehen, bis hoch in den Norden, und dann auf der Querseite des Dreiecks Cono Sur durch die Wüste und Gegenden wie Jujuy bis zu den Wasserfällen zwischen Brasilien und Argentinien wieder zurück zum Ausgangspunkt. Dafür wäre viel Zeit und Geld nötig und ein etwas größeres Kind. Aber obwohl ich mir eine solche Reise wünsche, habe ich mich zur gleichen Zeit, als J.-E. all dies und noch viel mehr sah, ganz bewusst dafür entscheiden, für noch mehr Monate an einen einzigen Ort zu gehen, dort nicht auf Durchreise zu sein, sondern dort zu leben, das ganz normale Alltagsleben zu teilen und die echte Welt der Menschen einzutauchen.
Ein bisschen ist es jetzt wieder so, auch wenn ich ehrlicherweise auf jede Frage nach meinem Status hier (Lebst Du hier? Bist Du nur kurz da?) antworte, dass ich nur „de paso“ da sei, nur vorübergehend. Aber ein normaler Urlaub sind sechs Wochen an einem Ort, den man kennt, eben auch nicht. Ich gehe sicher viel weniger in Museum als die Kurzzeittouristen, schade, aber dafür mehr auf den Spielplatz, ich kenne die Preisunterschiede in den verschiedenen Supermärkten, Maxi-Kiosken und den schmalen chinesischen Supermärkten, und ich nehme hier eben teilweise am ganz normalen Leben teil, mit dem Privileg, nicht zu arbeiten. (Ich habe Arbeit dabei, das ja, aber ich muss ja abends immer bloggen.) Heute habe ich zum Beispiel die kleine Tochter der Freunde H. & J. aus dem Kindergarten abgeholt, wir haben dann zusammen gegessen, Mittagsschlaf gehalten und gespielt, bis ihre Mutter von der Arbeit kam. Also stand ich um 11 Uhr vormittags mit einer Traube von Müttern, Großmüttern und Nannys vor den hohen Mauern des Kindegartens „Heiliger Johannes Wort Gottes“ und wartete darauf, dass sich die große Metalltür öffnen würde und eins nach dem anderen die Kinder in ihren weiß-grünen Uniformen beim Namen genannt und bei Identifikation des Abholenden geküsst und ins Licht hinausgeschubst würden. Am Vortag hatte die Mutter in das Mitteilungsbuch geschrieben, dass ich (voller Name, Passnummer) heute E. abholen würde. E. tauchte als eine der letzten im Türspalt auf, nachdem ich mich ausgewiesen und E. bestätigt hatte, dass sie mich kennt, durfte ich sie mitnehmen. „Sie hatte einen guten Tag, sagen Sie das der Mutter von E.“ Diese Sicherheitsmaßnahmen sind wohl nötig in einem Land, in dem überdurchschnittlich viele Kinder verschwinden, es ist ein Durchgangsland für Zwangsadoptionen und Kinderprostitution, das war mir auch nicht klar. Ob es aber wirklich die beste Methode ist, die Kinder etwa eine halbe Stunde lang hinter einer Metalltür sitzen zu lassen, bis jedes einzelne von drei Erzieherinnen in grünen Uniformen gemeinschaftlich hinausbefördert wird? Sicher trainiert es die Geduld und die Fähigkeit des Schlangestehens. Auch die frühe Abholzeit, die es überhaupt erst nötig machte, dass H. & J. außer Großeltern, Nachbarn und anderen Kindergarteneltern auch den Besuch aus Deutschland einspannten, dient dem Schutz der Kinder und scheint sie mir doch mehr als alle andere zu belasten. Jedes einzelne Schuljahr (und die Kindergartenkinder gehen hier zur Schule, sie gehen lernen, und das auch im Kindergartenbereich nicht altersgemischt) beginnt mit einer „Gewöhnungsphase“. Die Kinder im 1. Jahr, also die Einjährigen, gehen die ersten vier Wochen lang nur halbstündig bis eine Stunde pro Tag, und das auch nicht immer zur gleichen Zeit: Der Enkel der Tante musste jeden Tag zu einer anderen Zeit zur „Gewöhnung“, damit er jeden Tag auf andere Kinder trifft und am Ende des Monats alle Kinder einmal gesehen hat. Am Ende des Monats ist wahrscheinlich auch das Betreuungsguthaben bei den Großeltern aufgebraucht, denn die Eltern schicken ihr Kind ja nicht aus Lust und Laune mit einem Jahr in die Kita, sondern weil sie arbeiten müssen – und das ist mit über vier Wochen täglich wechselnden Eingewöhnungs-Halbstündchen kaum zu vereinbaren, weshalb überall die Großeltern und andere Verwandte ranmüssen. Und was ein Baby davon hat, am Ende des Monats wieder mit den Kindern zusammenzutreffen, die es vor vier Wochen – das ist ein Zwölftel Leben für den kleinen Chulis! – einmal für eine halbe Stunde gesehen hat, sei dahingestellt. Die Wiedersehensfreude ist bestimmt groß. Ich hatte das für eine etwas überzogene Maßnahme dieses einen Kindergartens gehalten, aber bei E. ist es genauso. Sie geht nun das dritte Jahr in diesen Kindergarten, mit den gleichen Erzieherinnen und den gleichen Mitschülern. Und sie muss jedes Jahr durch die Gewöhnung, die für sie vor allem bedeutet, dass sie jeden Tag von jemand anderem abgeholt oder mitgenommen wird und jeden Tag woanders Mittag isst, und ihre Eltern sie erst dann selbst abholen können, wenn diese Phase vorbei ist. Ich würde mal vermuten, dass die Gewöhnung leichter fällt, wenn jeder Tag gleich verläuft, aber ich bin natürlich kein Pädagoge. Auf die Förderung der (Mittelschichts-)Kinder wird viel Wert gelegt, die Kinderbücher sind wahnsinnig pädagogisch, ich kenne mehrere Eltern, die ihre Kinder zweisprachig erziehen, obwohl sie selbst es nicht sind. Allerdings scheinen mir auch da – aber ich bin natürlich kein Pädagoge – die Freiräume zu fehlen. E. brachte heute ihre Kunstwerkte aus der Kita mit, eines hatte ganz offenbar die Erzieherin gemalt, aber die kann hübsche Sonnen und Blumen zeichnen. Auch die Eltern müssen ständig viele Beiträge dieser Art leisten, zum Beispiel nach einem vorgegebenen Schnittmuster ein Kissen für das Kind nähen, das es dann in der Kita hat, oder zu Hause grüne Knete kochen – weil wir zusammen am Strand waren, hat H. ihrer Tochter einen Topf gekaufte Knete mitgegeben und einen Entschuldigungsbrief dazu, sie seien am Meer gewesen und hätten es nicht geschafft, für den Moment mögen sie doch diese benutzen. Heute kam der Tiegel wieder zurück, „vielen Dank für die Nachricht, anbei die Knete, die Sie geschickt haben; jetzt haben Sie ja Zeit und können E. das mitgeben, was wir aufgetragen haben.“ Vermutlich versuchen sie so, die Aktivitäten des Kindergartens mit denen zu Hause zu verknüpfen, was ja an sich eine nette Idee ist, und sicherzustellen, dass sich die Eltern mit den Kindern beschäftigen und sie nicht vor dem Fernseher parken. Allerdings kann eine Mutter auch gut alleine Knete kochen, hat vielleicht auch kaum eine andere Wahl, wenn sie spät von der Arbeit kommt, das gemeinsame Erleben mit dem Kind ist durch diese Aufgabe jedenfalls nicht gesichert, und ich finde es schon recht dreist, arbeitenden Eltern die knappe gemeinsame Freizeit mit ihren Kindern mit solchen Pflicht-Aktivitäten zu füllen.Das heutige Foto ist von einem Spielplatz, wo es außer der üblichen Sandkiste und Schaukeln auch kreative Angebote gab. Neben dem umzäunten Spielgelände standen ordentlich aufgereiht sechs kleine Staffeleien mit bunten Plastikstühlchen, es sah ein bisschen aus wie bei Schneewittchen im Atelier.
Auch hier aber gelenkte Kreativität: Die einladende Farbe in den Bechern sollte dazu verwendet werden, die auf den Staffeleien stehenden kopierten Vorlagen von Disney-Figuren hübsch ordentlich auszumalen. Hier wird nicht rumgeschmiert, hier wird ein Winnieh-the-Pooh ausgemalt, wie es sich gehört.
Wenn die lieben Kleinen dann Zahlen lesen können, machen wir mit Malen nach Zahlen weiter, das trainiert bestimmt auch die mathematischen und künstlerischen Fähigkeiten gleichzeitig. Aber ich bin ja kein Pädagoge.
Was aber sehr positiv auffällt, und das möchte ich an dieser Stelle nachdrücklich unterstreichen, sind die Hilfe und Liebenswürdigkeit, die einem mit Kind entgegengebracht werden. Vielfache Angebote von Männern wie Frauen, mir den Wagen die U-Bahn-Treppe runterzutragen, und als ich heute in der Schalterschlange mit Kind und Wagen und Tasche jonglierte und dabei Kleingeld für die Fahrkarte suchte, hat ein junger Mann kurzerhand für mich bezahlt. Auch in Cafés, die eigentlich nicht für Kinder ausgerichtet sind, geben die Kellner B. ausdrücklich die Lizenz zum Krümeln und Löffel werfen, und an der Supermarktkasse werde ich eigentlich immer vorgelassen, damit ich mit Kind nicht so lange warten muss. Das ist toll, und ich fürchte, das werde ich in Deutschland vermissen.