(Auch wenn der Titel es suggeriert: 12 Tage Santiago werden sicher nicht so ausfühlich hier Platz finden wie 40 Tage Buenos Aires, die Vertrautheit mit der Stadt ist eine andere, vor allem aber Dauer und Art des Aufenthaltes. Dennoch mag ja vielleicht der ein oder andere Fotos sehen, und dazu gibt es ja möglicherweise auch mal was zu erzählen.) Zum, wenn ich richtig gezählt habe, achten Mal nach Südamerika geflogen, wieder einen der Einreisestempel mit rot-blauem Farbverlauf bekommen (Stempel sind es mehr als acht, denn die Reisen von einem Land ins nächste habe ich nicht gezählt). Die letzte Etappe der langen Reise begann im Dunkeln, wir warteten auf die Starterlaubnis, während vor uns ein Flugzeug nach dem anderen vampirgleich in den (fast runden) Vollmond abhob. Schließlich auch wir. Dieser Mond beleuchtete die dicken Regenwolken von oben, eine unwirkliche Landschaft in Dunkelgrau, unbewohnt und gespenstisch schön. Ein Blitzen über dem Flügel entpuppte sich dann als Gewitter, was auf Augenhöhe und im Mondlicht von atemberaubender Schönheit ist – ein anthrazitfarbener Wolkenberg, von oben vom Vollmond aufgehellt, leuchtet durch den völlig strukturlosen Blitz auf einmal von innen heraus als Ganzer auf, die gessamte große Wolke zitternde Energie und Licht. Ich habe beim Staunen und Schauen kurzzeitig meine Kamera verflucht und die alte analoge zurückgewünscht, die sich nicht mit dem Kommentar „Motiv zu dunkel“ dem Auslösen verweigert. Leider kein Gewitterbild.
Im Flugzeug von Atlanta nach Santiago das ganze bunte Programm Südamerikareisender. Um mich herum ausgewanderte Familien auf Heimaturlaub, eine allein im Ausland studierende Architektin auf dem Weg zur Abschussfeier ihrer Tochter, eine Gruppe jugendlicher US-Amerikaner in kurzen Hosen und Strohhüten mit Skistiefeln über der Schulter, die den Landeanflug „amazing!“ finden. Womit sie Recht haben, auch wenn man auf dieser Route nicht den spektakulären Sturzflug in die Andengipfel beginnt, der dann doch auf dem überraschend hinter der letzten verschneiten Bergkette auftauchenden Flughafen endet, sondern über das Meer kommt und lange im Dunkeln an der endlosen Küstenlinie entlangfliegt. In etwa 3000m Höhe das Gebiet überflogen, wo die verschütteten Minenarbeiter in 700m Tiefe eingeschlossen sind, und das wahrscheinlich noch bis in den Advent, was ihnen selbst noch verschwiegen wird.
Das Titelthema heute war neben den eingeschlossenen Minenarbeitern das große Erdbeben vom 27. Februar, auf der gesamten Fahrt vom Flughafen in die Stadt gab es Radiofeatures dazu, was ist in den letzten sechs Monaten passiert, wo leben die Menschen noch immer auf der Straße oder in Notunterkünften, welche Brücke ist wieder aufgebaut, welche Versprechen wurden gehalten und was funktioniert noch lange nicht wieder. Unterdessen konnte ich einige der in Santiago ja nur bedingt sichtbaren Schäden des Erdbebens sehen, eingeknickte Stahlträger einer Lagerhalle neben dem Flughafen, der Flughafen selbst zu weiten Teilen Baustelle, wo eingestürzte Teile wieder aufgebaut werden, große Betonbrocken auf dem zerbröselten Mittelstreifen der Straße, die in die Stadt führt und die es damals zusammengeschoben hatte, eine Brücke ohne Geländer und mit zackiger Abbruchkante, durch Pilonen gesichert. Je näher wir dem Zentrum kamen, desto weniger wurden die Schäden.
Ich bin gut in Santiago angekommen, mein Gepäck allerdings nicht, das ist in Atlanta geblieben. Es wäre schön, wenn es morgen ankäme, so das ein oder andere könnte ich gebrauchen. Das Allernötigste habe ich mir gleich nach der Ankunft besorgt, Handtuch und Deo zum Beispiel, dabei gemerkt, welche Details ich vergessen hatte: Dass es phänotypbedingt hier kein Volumen-Shampoo gibt zum Beispiel. Im Hostal wieder daran erinnert, dass manche Lichtschalter auf Schienbeinhöhe liegen. Und der Geruch – den hatte ich nicht wirklich vergessen, hätte ihn aber, wie bei Gerüchen meist, auch nicht klar erinnern und schon gar nicht beschreiben können, aber jetzt ist er wieder da und ganz vertraut, wie auch die Geräusche. Komisch, dass ganze Länder einen Eigengeruch haben können.
Da ich kaum 500m von meiner Unterkunft von vor fünf Jahren entfernt wohne, ist auch das direkte Umfeld vertraut, und das Vertraute habe ich heute gesucht. Nur hat mir jemand gefehlt, mit dem ich das teilen kann, die Erinnerungen wie das Neue, erzählen und mich oder uns begeistern. In einer schlichten Cafetería um die Ecke habe ich, wie damals gelegentlich mit dem Mitbewohner, einen „Barros Luco“ gegessen, ein Sandwich aus Hamburgerbrötchen mit Fleisch und geschmolzenem Käse, und selbst die Bedienung war die gleiche.
Praktischer Reiseipp: Den Ketchup vorsichtig dosieren, das in der roten Plastikflasche ist nämlich Chilie-Sauce.
In meinem Stamm-Café – die Café-Kultur ist hier lange nicht so ausgeprägt wie nebenan in Argentinien, und ich war 2005 froh, überhaupt ein Café zu finden, wo man länger sitzen kann – habe ich anschließend an meinem Vortrag gearbeitet.
In einen südlichen Spätwinter katapultiert habe ich nach einem sonnig milden Tag dann doch in meinen zwei Strickjacken gefröstelt, während draußen die Leute den Frühling witterten: Einzelne Büsche trugen zartes Grün, die Kirschen einzelne Blüten und die Menschen kurze Ärmel zu den dicken Schals und flanierten Eis schleckend vorbei.
Frühling auch auf dem Heimweg durch die Victoriano Lastarria, wo der Buchflohmarkt selbst im Dunkeln noch reges Interesses findet, die Straßen summend voll und alle Tischchen vor den Kneipen besetzt, ich habe mich gefreut über die Gesprächsfetzen, Gerüche und Leute, bin aber vorbeigegangen, nach der mehrtägigen Reise über drei Kontinente und der Zeitumstellung zu müde für Draußen.