Archiv für den Monat: März 2010
40 Tage Buenos Aires [40]
Unter dem Obelisken bietet ein Mann einen Blick durchs Teleskop an, einmal ganz nah an den Mond für 2 Pesos.
Heute fliegen wir. Wir haben die hiesige Großmutter nach einem allerletzten Ausflug zum Spielplatz und zur Parrilla verabschiedet, Baby B schläft gerade Siesta und wir haben fast alles gepackt, „der Rest reist oben“, viel Handgepäck. Der Rest sind Formalia, die Wohnung besenrein zurückgeben, alle Schlüssel retour, und dann wir selbst. Remis kommt um 5, Freitag Nachmittag im Feierabendverkehr aus Buenos Aires herauszufahren, könnte zeitaufwendig werden.
Und dann? Dann haben wir diesen Tango im Kopf – „Mein geliebtes Buenos Aires, /wenn ich dich wiedersehe werde / wird kein Schmerz noch Vergessen mehr sein.“
Aber hoert selbst.
(Wenn der verborgene Link schon wieder nicht geht: http://www.todotango.com/spanish/las_obras/letra.aspx?idletra=223)
Mi Buenos Aires querido
cuando yo te vuelva a ver,
no habrá más pena ni olvido.
El farolito de la calle en que nací
fue el centinela de mis promesas de amor,
bajo su quieta lucecita yo la vi
a mi pebeta, luminosa como un sol.
Hoy que la suerte quiere que te vuelva a ver,
ciudad porteña de mi único querer,
y oigo la queja
de un bandoneón,
dentro del pecho pide rienda el corazón.
Mi Buenos Aires
tierra florida
donde mi vida
terminaré.
Bajo tu amparo
no hay desengaños,
vuelan los años,
se olvida el dolor.
En caravana
los recuerdos pasan,
con una estela
dulce de emoción.
Quiero que sepas
que al evocarte,
se van las penas
de mi corazón.
La ventanita de mi calle de arrabal.
donde sonríe una muchachita en flor,
quiero de nuevo yo volver a contemplar
aquellos ojos que acarician al mirar.
En la cortada más maleva una canción
dice su ruego de coraje y de pasión,
una promesa
y un suspirar,
borró una lágrima de pena aquel cantar.
Mi Buenos Aires querido,
cuando yo te vuelva a ver,
no habrá más pena ni olvido.
(Le Pera / Gardel)
„… ein Versprechen / und ein Seufzer / es löschte eine Träne des Schmerzes dieser Gesang.“
Zu tragisch?
Dann nehmen wir das gleiche Motiv, aber modern – der Titelsong der beliebtesten Telenovela des Jahres, „Valientes“, heißt „Volver“, und er wird im Radio rauf und runter gespielt. Eine echte
Latin-Pop-Schnulze.
Aber bevor wir hierher zurückkommen, kommen wir erst nach Deutschland zurück. Ich wünsch uns eine gute Reise und bis morgen!
40 Tage Buenos Aires [39]
(Foto von vorgestern, was sich da nicht hochladen ließ.)
Man ahnt es bei der laufenden Ziffer 39 von 40, was heute vor allem Tagesprogramm war: Abschied nehmen, Teil 1-3.
Am Morgen haben wir noch ein paar Dinge erledigt, jede Menge Yerba für Mate gekauft, Mate cocido und Alfajores, also Lebensmittel, die man (anders als Choripan) gut mitnehmen kann, aber schlecht bekommt in Europa. Während der Siesta habe ich schon mal mit Packen angefangen, gut dass wir für sowas wie sechs Kilo Yerba, die Bücher und Schuhe eine leere Tasche mitgenommen hatten. Dann Abschied Teil 1: Wir gehen zur Tante, kaufen auf dem Weg Facturas (ich mag Medilunas, finde die meisten anderen aber, unter uns gesagt, relativ austausch- und letztlich verzichtbar) und trinken dann bei der Tante Mate. Da der Sohn die Nacht krank war, trinkt er aus einem eigenen Mate, Onkel und Tante trinken keinen, die Tante aber einen Tee mit Milch, die Abuelita isst Obst. Keine ganz korrekte Mate-Runde also, aber halbwegs gesellig ist es trotzdem. Am Ende schalten sie noch den verschobenen SUPERCLASICO ein, das Fußballspiel der beiden Top-Clubs, die eine innige Feindschaft pflegen, Boca Juniors (blau-gelb) und River (weiß-rot). Eigentlich ist Donnerstag kein Fußballtag, aber die Partie ist am Sonntag wegen heftigen Regens (der gleiche, der meinen Ausflug aufs Land ins Wasser fallen ließ) abgebrochen und auf heute verlegt worden. Boca hat, das in aller Kürze, 2:0 gewonnen, mit beiden Toren durch den Chilenen Medel, und River sah wohl nicht gut aus.
Bester Spieler sei aber nicht Medel gewesen, sondern Riquelme – der Ex-Nationlteam-Riquelme, der mit Maradona nicht zurecht kommt und jener nicht mit ihm, und wegen deren Differenzen – vorsichtig ausgedrückt – Riquelme nicht mehr in der Selección spielt und Maradona nicht mehr in der Bombonera aufgetaucht ist. Heute war Mardona beim Spiel seines Vereins, und die Fans haben nach Riquelmes Vorlage zum 1:0 in Sprechchören die Wiederaufnahme des alten Spielmachers in die Nationalmannschaft gefordert. Aber das scheint, wenn man den Zeitungen glauben darf, trotz Diegos anerkennender Worte zu Riquelmes Leistung, ein abgeschlossenes Kapitel zu sein.
Maradona, die schillernde Figur, ist nicht allzu wohl gelitten. Natürlich hat er weiterhin seine hysterischen Fans, aber die meisten Leute, die ich kenne, haben seine Arbeit zunächst mit Skepsis, dann mit Entsetzen verfolgt. „Trainingsmethode von Diego?“, fragte einer, „alle folgen der weißen Linie!“, natürlich eine Anspielung auf seine Kokain-Abhängigkeit – und die fehlende „Linie“ im Spiel. Argentinien hat sich furchtbar durch die Qualifikation zur WM gezittert, allerdings hat Diego wieder etwas Popularität gewonnen, als er nach dem letzten Sieg, der das extrem knapp erreichte Ticket nach Südafrika bedeutete, die vorher schimpfenden und (zu Recht) Bedenken tragenden Journalisten mit einem sehr obszönen Spruch abkanzelte, „que la sigan chupando“, das gibt es mittlerweile natürlich auch auf T-Shirts. Weiter stieg die offizielle Stimmung nach dem Sieg gegen Deutschland kürzlich, aber doch bleibt die WM-Euphorie exrtem verhalten, ernsthafte Hoffnungen macht sich wohl kaum jemand, wohl aber Sorgen um eine Blamage mit Maradona.
Durch den Sieg von Boca ist aber zumindest der heutige Tag gerettet.
Abschied, Teil 2: Noch einmal unser Spielplatz. B. klettert inzwischen alleine die Treppe zur Rutsche hoch, läuft immer noch an der Hand, das aber auch über Hängebrücken, schaukelt nach wie vor begeistert und spielt im Sand, versuchsweise auch mit anderen Kindern. Ein schöner Spielplatz, halbwegs zu Fuß erreichbar, das wird uns fehlen, auch wenn wir viele kleine und dann einen tollen großen etwas weiter weg auch zu Hause haben. Vielleicht aber nicht ganz das zuverlässige Wetter.
Abschied, Teil 3: Am Abend kommen die Freunde H. und J. mit Töchterchen E., zum Resteessen. Gemüsematsch (allerdings leckerer, Süßkartoffeln, Kürbi, Möhren, Mais zusammen in Brühe gekocht, Frühlingszwiebeln angebraten, Ricotta untergehoben) ist nun eigentlich wirklich kein Gäste-Essen, auch mit kleinen Kindern nicht, die frischen Ravioli danach schon eher. Trotzdem, keine echte Abend-Einladung, dabei hat klein E. extra ihre Holzkette samt Armband angelegt. Zum Nachtisch hole ich Eis von unten. Das lose Eis in Buenos Aires ist ziemlich gut. Man kauft es in den Eisdielen nach Größe des Behältnisses gestaffelt, immer zwei Sorten, aber entweder ein kleines pappiges Hörnchen, ein größeres, ein richtiges Hörnchen, eine flache Waffel, oder ein Schokohörnchen, alles zu unterschiedlichen Preisen mit variierenden Eismengen. Die beiden Sorten werden dann mit einem Spatel zu einem spitzen Berg geformt, manchmal gibt es noch etwas wie Schokostreusel drauf, und dann schmilzt das Eis blitzschnell. Eis kaufen geht wie fast alles im Einzelhandel in mehreren Schritten, einer hinter der Theke kassiert – beim Eis zuerst -, einer bedient. In der Bäckerei muss man erst eine Nummer ziehen, kommt dann mit der Nummer an den Tresen, wird von einer von 2 bis 3 Mädchen bedient, bekommt das Brot in einer Tüte in die Hand und den Preis gesagt, und den sagt man dann vorne bei einer weiteren Person, die nur kassiert, und zahlt. Die Prozedur beim Eis wird auch eingehalten, wenn ausnahmsweise nur einer bedient. Ich habe am Puerto Madero ein Eis bestellt, nur der eine Verkäufer und ich waren da. Zuerst habe ich an der Kasse ein normales Hörnchen bestellt und bezahlt, er hat meinen Bon gestempelt und ihn mir gegeben, dann sind wir zwei Schritte nach links gegangen, er hat den gestempelten Bon, Beleg, dass ich das Eis bezahlt habe, das ich nun verlange, wieder an sich genommen und ich habe bei ihm nochmal ein normales Hörnchen bestellt, mit den beiden Sorten Schokolade mit Mandeln und Zitrone. Sehr zu empfehlen ist auch Sambayón, Zabaione. Nicht mein Fall, aber in vielen Abstufungen vertreten und sehr beliebt, ist Dulce-de-leche-Eis. Einfach, doppelt, mit Splittern, mit diesem, mit jenem, und alle Varianten sehr süß.
Was man außer Waffeln noch kaufen kann, sind Behälter mit 1/4, 1/2, 3/4 oder einem ganzen Kilo Eis. Dann kann man 4 oder 5 Geschmacksrichtungen auswählen, die nebeneinder in einen großen Styroportopf mit Deckel kommen, das große Familieneis zum Mitnehmen. Das habe ich uns heute Abend auch gekauft, mit 5 Sorten war für uns alle was dabei, für die Argentinier auch Dulce de leche granizado. Es ist natürlich teurer als ein Liter industrielles Eis aus dem Supermarkt, aber auch viel leckerer – und viel schöner.
Nun sind unsere Freunde weg, das Eis leer und eine weitere Tasche gepackt. Morgen kommt Teil 4 des Abschieds, die hiesige Oma, oh weh. Morgen Abend fliegen wir dann – ich werde aber noch etwas für Tag 40 schreiben und zu Hause dann noch mindestens zwei Foto-Serien bloggen, die sich die letzten Tage nicht laden ließen. Wenigstens die Tango-Serie und die Arbeit-auf-der-Straße-Bilder versuche ich dann noch zu zeigen.
Abschiedsworte gibt es dann morgen an dieser Stelle, nun mache ich nur den Ventilator aus und gehe noch einmal schlafen in Buenos Aires.
40 Tage Buenos Aires [38]
Den 24. März habe ich schon einmal in Argentinien erlebt, 2001, als sich der Militärputsch zum 25. Mal jährte. In die Manifestationen auf der Plaza de Mayo war ich damals zufällig geraten, bin dann ins Wohnheim geeilt und habe mehr Filme geholt und mein Diktiergerät und den Nachmittag auf der Plaza verbracht. Im Zentrum standen vor neun Jahren sehr deutlich die Mütter und die Kinder der Verschwundenen, ich hatte ständig Gänsehaut, als alle gemeinsam die Internationale sangen zum Beispiel, vor allem aber wenn jemand „30.000“ rief und der ganze Platz geschlossen „presentes!“ brüllte, „anwesend“. 30.000, das ist die Zahl der Verschwundenen der Militärdiktatur, Opfer, die gefoltert und umgebracht wurden, ohne das irgendjemand davon Nachricht erhalten hätte. Viele der Leichen sind nie aufgetaucht, manchmal gibt es Zufallsfunde wie beim Umbau einer innerstädtischen Autobahn, wo an den Stützpfosten einer Brücke einige Leichen gefunden wurden, manchmal gibt es noch späte Hinweise auf Verstecke. Viele andere werden nie gefunden werden können, vor allem bei denjenigen, die betäubt aus Flugzeugen über dem Río de Plata geworfen wurden, gibt es keine Hoffnung auf Spuren. Doch möchten die Familien zumindest das wissen, was ist geschehen, wo ist ihr Kind, ihr Mann, ihre Mutter geblieben.
Dieses Jahr im Prinzip das gleiche. Dieses Mal weiß ich aber bescheid und gehe gezielt und mit vollem Akku zu den Sammelpunkten auf der 9 de Julio, unterhalte mich zunächst länger mit einem jungen Mann, der an der politischen Kultur in Deutschland interessiert ist und wie uns die Krise getroffen hat, und lasse mich dann ein bisschen in die Av. de Mayo hineinziehen. Wie auch damals sind außer den Angehörigen-Gruppen auch zahllose andere politische Aktivisten da, die Evita-Jugend, die Jungen Peronisten, die Jungen Gewerkschafter, die Arbeiterpartei, Homosexuellen-Gruppierungen, die „Hemdlosen“, Organistationen zum Schutz von Kindern in bestimmten Stadtteilen, alle möglichen Fakultäten aller möglichen Universitäten, Linke Lastwagenfahrer, Arbeiterorganisation der Müllabfuhr, Unterstützer des Kirchner-Regimes, Tupac Amaru – es sind alle da. Auf der Av. de Mayo formiert sich ein Zug aus hunderten von Angehörigen von Verschwundenen, die gemeinsam ein schier endloses Transparent tragen mit den Fotos, Namen und Verschwinde-Daten ihrer Familienangehörigen. Ich frage eine Frau, neben der ich immer wieder lande, ob sie auch direkt bei ihren Verwandten gehe, nein, ihr Mann ist ein Verschwunder, Juan, aber sie habe ihn auf dem langen Plakat und bei den vielen Menschen nicht gefunden, also geht sie irgendwo – ich soll die Augen offen halten. Die Kinder der Toten haben heute oft das Alter dieser auf ihren Fotos, und bei einzelnen Trägern ist die Ähnlichkeit mit den Abgebildeten frappierend, das sind wieder Gänsehautmomente. Ansonsten sind es dieses Jahr fast zu viele verschiedene Gruppen, viele haben eigene Trommelgruppen dabei, andere Lastwagen mit Lautsprechern, und wenn mehrere Gruppen in unmittelbarer Nachbarschaft ihre Slogans brüllen und trommeln, ist es einfach nur noch laut – von der Botschaft hört man wenig. Es werden auch die „Klassiker“ gesungen, und auch dieses Mal schallt oft das „30.000“ – „presentes“ durch die Menge, aber meist irgendwo inmitten des Tumultes aus anderen Gesängen. Und protestiert wird gegen alles mögliche, von vielen Gruppen gegen die Bezahlung der Auslandsschulden.
Neben den Angehörigen, die das Transparent tragen, sind auch die Organisationen der Mütter da, an die komme ich dieses Mal aber nicht heran, die Bühne ist zu weit weg (letztes Mal haben sie mich für eine Journalistin gehalten und hinter und auf die Bühne gelassen), und einzelne Demonstranten in der Menge halten Schilder mit den Fotos ihrer Angehörigen hoch oder haben deren Bild mit Daten um den Hals hängen oder auf ein T-Shirt gedruckt. „Alles hängt irgendwie mit allem zusammen“, kommentiert eine der Frauen am Transparent den Protest einer Arbeitergruppe, aber vor allem bin ich doch ihretwegen da, wegen der Verschwundenen und ihren tapferen, kämpfenden Familien.
Eigentlich soll es ab 17 Uhr ein Konzert geben (auch das heiß diskutiert – Musik und Vergnügen an so einem Tag, es gäbe doch nichts zu feiern, auch wenn es politisch engagierte Musiker seien), im Höllenlärm der Trommelgruppen – außer den Trommlern sind die Arbeiterpartei, die Militante Arbeiterpartei und die Studierendengruppen besonders laut und gut mit Lautsprechern ausgerüstet – bekomme ich den Beginn aber nicht mit, später in der Nähe der Bühne stehe ich genau zwischen den Blöcken und höre eine mäßige Tangosängerin zwischen den skandierten Slogans der Piqueteros und dem „Wer jetzt nicht hüpft, ist Kapitalist“ der Studenten. Eigentlich wollte ich gerne Victor Heredia hören, einer der ganz Großen, aber das Vorhaben gebe ich irgendwann auf.
Es ist unglaublich voll, von 50.000 Menschen vor der Casa Rosada ist die Rede, dabei ziehen die meisten im Protestzug auf die Plaza und hinter der Kathedrale wieder herunter, nur die „losen“ Protestanten bleiben auf dem Platz. Da ist zum Teil auch Volksfeststimmung, es werden Hamburger gebraten und es riecht nach Hasch. Wir haben weiße Papierherzen bekommen, die wir uns um die Handgelenke oder den Hals binden, andere dieser Herzen hängen in langen Ketten an den Laternen, die genaue Bedeutung kenne ich nicht, manche beschriften sie mit Namen, andere mit Slogans.
Leider bin ich ja hier nicht zu einem Fußballspiel gegangen, aber einen Teil des Fanblockgefühls hole ich auf der Plaza nach. Es ist eng, es wird gedrängelt, und ich habe die besondere Begabung, immer genau da zu stehen, wo sich ummittelbar danach ein Durchschlupf bildet, Schneise wäre zuviel gesagt, jedenfalls stehe ich immer dort, wo dann plötzlich ganz viele Leute durchwollen. Dann kommt eine hüpfende und Fahnen schwenkende Gruppe vorbei, die Gesänge sind zum Teil ebenfalls die gleichen wie beim Fußball, nur mit anderen Texten, auch heute sangen wir „Olé olé olá…“ – nur dass es dieses Mal weiterging mit „es wird euch wie den Nazis gehen, wir werden euch verfolgen und eines Tages seid ihr dran…“ Als dieses Lied mit dem Nazivergleich von recht vielen Demonstranten gleichzeitig und Fäuste schwingend gesungen wird, fragt neben mir eine junge Asiatin einen Mann, der ein Plakat trägt, ob das eigentlich die Nationalhymne sei. Nicht ganz, aber bekannt sei es schon. Einige Gruppen der Arbeiterpartei kommen schließlich mit Bengalenfeuern und Raketen, insgesamt ist es den Bildern aus den Stadien nicht unähnlich. Nur sind wir heute nicht zwei Gruppen mit ihren je eigenen Gesängen, sondern hunderte, und bei so vielen Anliegen gleichzeitig gehen die einzelnen fast unter – hören oder verstehen kann man die einzelnen Texte jedenfalls nicht mehr. Nach sechs Stunden spreche ich noch einmal mit einem Sohn von einem Verschwundenen, der ein Foto um den Hals trägt, das ebensogut eines von ihm selbst sein könnte. Die Ähnlichkeit ist verblüffend, als wäre es er, nur in schwarz-weiß; seine Mutter und Schwester haben das gleiche Bild vor der Brust. Ich bitte ihn um ein Foto, was ich gerne machen darf, und frage nach dem Mann auf dem Bild. Er stellt sich und seinen Vater vor, und zusammen mit dem Namen des Vaters – Florencio – nennt er das Datum seines Verschwindens, 14. April 1976. Diese Daten gehören untrennbar zu diesen Menschen, und ihre Angehörigen fordern auch nach 34 Jahren noch, etwas über deren Todesumstände zu erfahren – und dass endlich den Tätern der Prozess gemacht werde, „Memoria y justicia.“
Edit:
Eine kleine Auswahl meiner Fotos von heute gibt es hier bei Flickr.
40 Tage Buenos Aires [37]
Tag 37, Dienstag, 23. März 2010: Los Lagos de Palermo mit Tretbooten und Brücke zum Rosengarten.
Den Nachmittag verbringen wir in einem der Erholungsgebiete der Stadt, zunächst im Japanischen Garten und dann in direkter Nachbarschaft dazu an einem der Lagos de Palermo, ein See im Viertel Palermo. Um die Seen von Palermo herum sind Parks und waldähnliche Anlagen, und das Grün wird für allem für Sport genutzt, zahllose Jogger, Skater, Radfahrer kurven über rote Wege zwischen hohen Bäumen, Palmen, Araucanias und Platanten, und an den Ufern entlang. Um den See herum, der dem Zoo nahe liegt, ist eine stillgelegte Straße, für die Schilder regeln, in welcher Richtung Radfahrer und Jogger jeweils zu zirkulieren haben. Am Straßenrand ein ambulanter Inliner-Verleih, ein Fahrradverleih, zur anderen Seite hin ein Tretboot- und Ruderbootverleih. Außerdem Eisbuden und Kioske, auf einem geraden Stück spielen ein paar junge Leute Rollschuhhockey, am Ufer trinken sie Mate oder angeln. Auf der Wiese grasen Gänse. Wir haben uns etwas lange im Japanischen Garten aufgehalten und dort den schlechtesten Kaffee der Stadt getrunken, als wir am See sind, wird dort schon der Rosengarten geschlossen.
Am Abend gehe ich (endlich mal wieder oder schon wieder) aus, ich habe beim Theater „Presidente“ um die Ecke ein Konzertplakat gesehen und auf einen Gesangsabend getippt. Sechs junge Frauen ohne Instrumente auf einem Balkon. Der Name hätte mir aber mehr verraten können, „De Rojo Carmesí“ ist ein Zitat aus einem Tango, und tatsächlich sind die sechs ein junges Tango-Orchester. Sie sind gut, sie sind jung und nett anzusehen in ihren gleichen Kleidern und jede mit einer roten Blüten an anderer Stelle, sie sind professionelle Musiker, aber sie haben noch keine abgenutzte Routine. Das Orchester besteht aus zwei Geigen, Cello, Kontrabass, Klavier und Bandoneon, das Theater ist eine schlichte schwarze Schuhschachtel und die Bühne ohne jeden Tango-Schnickschnack, außer den Musikerinnen und ihren Instrumenten, Notenständern und Stühlen nur noch die Technik, Lautsprecher, Lampen und Kabel.
Bei zwei Stücken holen sie einen guten Sänger dazu, bei zwei anderen ein Showtanzpaar. Dieses Tangopaar ist albernerweise eines, was ich von einem Workshop aus Göttingen kenne (Ruth und Andreas), die Welt ist ein Taschentuch, wie man hier sagt, und Taschentücher sind noch deutlich kleiner als Dörfer.
Dsa Schlussstück ist „Yumba“, dafür holen sie noch mehr Streicher und gleich zwei weitere Bandoneonisten auf dei Bühne, für den nötigen Wumms.
Tango liegt ja irgendwo zwischen Klassik, Jazz und Folklore. Die sechs Frauen orientieren sich zu Beginn des Abends eher an Klassik, dann spielen sie sich frei und rutschen ins Jazzigere, sehr schön. An den Ansagen merkt man, dass sie bei aller musikalischen Professionalität noch relativ neu auf der Bühne sind, sie verhaspeln sich in den Texten oder fangen an zu lachen, das ist aber sehr nett und familiär – überhaupt überträgt sich die Nervosität und der Stolz der offenbar im Publikum anwesenden Familien. Vor „Yumba“ bauen sie etwas um, und vergessen dabei wohl, dass sie alle offene Mikrophone haben. Es gibt zwischen den Geigen etwas Gedrängel und Unklarheiten, wer wo zu stehen hat, und die eine zarte Erscheinung mit langem Haar und Violine in der Hand schimpft lachend „Pero ustedes son una porquería“, „aber ihr seid ja wohl eine Schweinerei“, vielleicht eher „ein blöder Sauhaufen“. Ich weiß nicht ob sie realisiert hat, dass der ganze Saal darum lachte, weil dieser Kommentar über die Lautsprecher glasklar übertragen wurde.
Danach habe ich noch einen Rotwein getrunken und etwas gelesen. Morgen ist Feiertag und ich will nochmal den Museumsbesuch angehen, auch wenn ich inzwischen gelernt habe, dass das mit den Plänen nicht zu ernsthaft zu betreiben ist .
(Platzhalter Foto Bandoneon und Kontrabass. Grmpf.)
40 Tage Buenos Aires [36]
Initiationsrituale sind eine merkwürdige Sache, aber man kann sich das Prinzip ja erklären, der Neuling muss durch schwere Prüfungen, muss sich durch Scham an die neue Gruppe binden und mit Mutproben beweisen, dass er ihrer würdig ist. Und vielleicht kann man die Rituale, die einen Lebensabschnitt beenden, ja genauso verstehen, ist das Ende doch wiederum ein Anfang. Zu dem Verdoktorungsritual, das ich selbst mitgemacht habe, gehörte ebenfalls ein Moment des Zurschaustellens, eine leichte Form des Spotts, wenn der neue Doktor im Bollerwagen hockend durch die Stadt gezogen wird. Das Küssen der Figur auf dem zentralen Brunnen dann leitet sich wohl daraus ab, dass der ehrenwerte Akademiker, kaum in den höheren Stand gehoben, gleich mit einem Gesetz brechen soll, wohl um die neue Würde nicht allzu ernst zu nehmen. Das Erklimmen des Brunnens ist letztlich ganz aufregend und der Moment des Kusses ein besonderer. Man steht hoch über den applaudierenden Freunden, Verwandten und Kollegen samt Prüfern und drückt einer Metallfigur einen Kuss auf, vielleicht albern, aber dann erst zählt es wirklich, doch, das war unabhängig von den möglichen Ursprüngen des komischen Brauchs tatsächlich erhebend.
Hier wird das Ende des Studiums mit Ritualen begangen, die an Initiationsriten erinnern. Ich weiß von jungen argentinischen Ärzten, die nackt an Laternen auf der Hauptstraße gefesselt wurden, vor allem werden die jungen Akademiker allesamt nach der letzten Prüfung auf der Straße mit Ei und Mehl und anderen farbigen und klebrigen Lebensmittel beschmiert. Die erfolgreichen Absolventen der Universitäten erkennt man also daran, dass ihnen Ei aus den Haaren tropft und sie über und über mit Mehlkleister, Senf und Tomatensoße bedeckt sind. Sie werden direkt vor den Toren ihrer Institute von Kommilitonen und anderen Freunden solcherart geteert und gefedert und verbringen den restlichen Tag in diesem Aufzug. Bei der jungen Ärztin oben haben sie gerade erst angefangen, noch ginge das vielleicht als kleiner Küchenunfall durch, doch die Umstehenden waren mit Eiern und mehr Senf bewaffnet. Warum mit Lebensmitteln? Eine Theorie besagt, dass Ei und Mehl besonders gut kleben und nach einer Weile streng riechen, der Effekt also von Dauer ist. Die Eier-Mehl-Kruste scheint mir ja auch den Ausdruck „frisch gebacken“ zu versinnbildlichen, aber das ist natürlich eine Kurzschlussübersetzung aus dem Deutschen.
Heute Nachmittag war ich nach dem Spielplatz trotz der wenigen Tangos, die ich hier getanzt habe, neue Tangoschuhe kaufen. Meine alten Schuhe sind immer noch meine allerersten Tanzschuhe und sie werden nach 10 Jahren vor allem von gutem Willen zusammengehalten, und vielleicht ergibt sich ja doch nochmal die Gelegenheit, wieder länger Tango zu tanzen.
Ich habe – surprise – sehr lange gebraucht, um mich zu entscheiden, es aber noch vor Ladenschluss geschafft. Die Tangoleserinnen, von denen ich inzwischen weiß, werden nun eines wollen: Fotos! Leider lässt mich auf den letzten Metern dieser Reise die Technik im Stich, ich habe es zwar endlich geschafft, eines der beiden Bilder von gestern und die Absolventin oben hochzuladen, das zweite Foto will sich aber wieder nicht einstellen lassen. Die Fehlermeldung behauptet, es sei ein Serverproblem. Ich versuche es weiter und reiche Bilder nach, wollte sowieso noch eine Tangoserie posten.
Es gibt mit dem Tangoboom nicht wenig spezielle Tangoschuhgeschäfte, die besten scheinen aber sehr diskret zu sein. Für Percanto haben wir ja schon ganz zu Anfang im Laden Tango Brujo Trainingsschuhe gekauft, und dieser Laden verbarg sich in einer Privatwohnung im 10. Stock eines normalen Wohnhauses, kein Schild verriet draußen etwas von seiner Existenz. Heute fiel die Wahl auf den auf Damentangoschuhe spezialisierten Laden Comme il faut. (Link führt zu einem spärlichen Foto vom Innenraum und einem von der Passage.) Ein bisschen leichter als der erste Laden war er zu finden, denn in der Passage hing am 1. Stock ein kleines Hinweisschild mit nichts weiter als dem Namen. Der Laden besteht aus einem kleinen Raum, rechts geht es auf einen Balkon und in einen weiteren Raum, der Raum ist das Lager und auch auf dem Balkon stapeln sich die schlicht weißen Schuhkartons.
Das Parkett des Verkaufsraums ist mit einem quadratischen grauen Teppich fast vollständig abgedeckt, die probierenden Damen müssen auf dem Teppich bleiben und dürfen nicht aufs Parkett stöckeln. In U-Form stehen drei niedrige schwarze Bänke mit goldenen Beinchen im Rokoko-Schwung, an der vierten Seite ein großer Spiegel mit Goldrahmen. Der Raum ist voll, obwohl sich die meisten schneller entscheiden als ich, sind heute Nachmittag ständig vier bis zu zehn Frauen da, die Schuhe probieren, dazu Männer, die an der Wand neben der Eingangstür stehen und mehr oder weniger qualifizierte Kommentare abgeben, sowie die Verkäuferinnen, die uns betreuen. Alles ist wunderbar dekorativ und ein ziemliches Spektakel, leider hängen überall „Foto verboten“-Schilder, auf die ein begleitender Herr mit Canon um den Hals auch nachdrücklich hingewiesen wird. Auch mit dem Versprechen, damit Werbung zu posten, darf ich keine Bilder amachen, schade. Das Schuhekaufen selbst läuft wie folgt ab: Was man sucht, braucht man nicht zu erklären, es gibt ja nur Tangoschuhe. Ich werde nach meiner Schuhgröße gefragt, 39 oder 40, bekomme einen Platz auf der mittleren Bank zugewiesen und mir werden zwei Schuhe gebracht, um die Größe festzustellen. Welches Modell ist erst einmal egal, und ich kann sowieso nicht auf eines zeigen, was mir gefiele: Es sind überhaupt keine Schuhe ausgestellt, sie befinden sich alle entweder an den Füßen oder um die probierenden Kundinnen herum oder in Kartons nebenan. Es gibt kein Schaufenster, keine Regale, keine Ausstellung. Ich ziehe ein rot-schwarzes Paar in 39 an, die Verkäuferin findet es zu groß, nimmt das Paar in 40 gleich wieder mit und bringt mir 38. Ich wundere mich, 38 habe ich nun wirklich nie, aber probiere das nächste Beispielpaar in 38, blau-gold. Besser, stimmt. Ich stehe und gucke auf meine Zehen, die Inhaberin des Ladens wirft einen kritischen Blick auf meine Füße und ordert 37. Das ist albern, ich hatte mal 40/41 und inzwischen 39/40, aber 37? Doch ich spiele mit und bekomme sie an den Fuß, finde ihn aber zu eng und der Mittelzeh steht über, wenn ich das Gewicht auf das Bein lege. Die Inhaberin tendiert zu 37, ist aber auch mit 38 einverstanden. Dann kann es losgehen, Modelle in 38. Die Verkäuferin fragt auch weiterhin nicht nach meinen Vorstellungen, sondern kommt mit einem Stapel Kartons, öffnet einen nach dem anderen, zeigt und lässt mich probieren. Den rosa Schuh mit Rüsche und Schleife lasse ich ebenso unprobiert zurückgehen wie den mit dem Kilo Goldglitzer am Absatz, auch den orangefarbenen Lackschuh mit lila Riemen lasse ich aus. Ansonsten probier ich fast alles an, am liebsten mag ich ja immer schon die Tangoschuhe mit Mittelriemen oder gekreuzten Riemen, davon sind nicht viele dabei. Nach einer langen, langen Probierphase, in der ich auch mal auf einen Schuh einer anderen Kundin zeige – den? „Den gibts nur in 39“ – oder die anderen kkundigen Kundinnen klar Ablehnung oder Zustimmung formulieren – bei dem hier steht das eigentlich kaum vorhandene Überbein raus, der ist toll, der rote verlängert Dein Bein, der silber-blaue ist wunderschön, aber hast Du blaue Tangokleider? Der schwarze mit der echten Schleife verkürzt optisch, der blau-glitzernde ist mir selbst zu sehr Rummel, beim Lack-und-Silber-Schuh macht Percanto Halsabschneidegesten. Ich sortiere alle aus, die hinten offen sind, dafür sind meine Füße nicht gemacht, und alles was Pink oder Lila ist. Am Ende hab ich nur je einen mit gekreuzten Riemchen (rot-schwarz, normale Sandalenform, schwarzer Absatz mit rotem Ende) oder Mittelriemen (schwarz-gold), aber auch diese beiden werden es letztlich nicht, der mit den Kreuzriemen bietet nicht genug Halt für einen Tanzschuh und der andere fällt beim Publikum durch. Eine Venezolanerin probiert vor allem die Farben, die ich gleich aussortiere, und kauft schließlich gleich sieben Paar; eine ältere Argentinierin verlangt ein „schönes Paar“, weil sie morgen gefilmt wird; zwei Deutsche sind gemeinsam da, aber nur die eine probiert Schuhe, weil die andere bereits woanders Tangeschuhe gekauft hat, worüber sie sich nun ärgert; die graumelierte Argentinierin neben mir greift sich über die Ordnung der Verkäuferinnen hinweg immer meine Schuhe, findet dann aber die Absätze für ihr Alter zu hoch, „für Dich sind die toll, aber ich fall damit einmal hin und steh nie wieder auf“, lacht sie, ist jedoch offenbar eine sehr geübte Tänzerin; eine ganz in schwarz gekleidete Asiatin dreht sich wortlos auf metallfarbenen Absätzen vor dem Spiegel.
Schließlich verlasse ich den Laden mit zwei Paaren, beide sind vorne offen und aus Wildleder, der eine recht schlicht schwarz mit kupferfarbenen (huch! Kupfer! Sieht aber erstaunlich gut aus, und erstaunlich unauffällig) Riemen und Absatz, der andere ein klischeehafter Tangoschuh, schwarze Basis mit rotgeschwungenen Rändern und Riemen, der Absatz rot. Die Absätze sind sicher 2cm höher als die meiner alten Tangoschuhe, deren Absatz ich eigentlich immer für 7cm gehalten habe. Außerdem sind es Bleistiftabsätze statt des alten Barockabsatzes. Ich stehe sehr hoch auf wenig Grund. Vor der Tür fühle ich mich in meinen normalen flachen Straßensandalen klein und, trotz nettem Kleid, unelegant. Kleider machen Leute, Schuhe machen Tänzer.
40 Tage Buenos Aires [35]
Tag 35, Sonntag, 21. März 2010: Herbstanfang und Tagesende, Blick aus E.s Kinderzimmerfenster Richtung Villa Crespo.
„Morgen fahre ich aufs Land“, schloss ich gestern, und das Land hieß San Antonio de Areco, eine Kleinstadt im Norden der Provinz Buenos Aires, 112 km von der Hauptstadt entfernt und attraktiv wegen der traditionellen Bauweise aus der Postkolonialzeit und den noch gepflegten Gebräuchen des Landlebens. Heute würde ich Gauchos sehen, Pferde, bestimmt auch eine Parrilla, auf der halbe Ziegen gebraten werden, einen Fluss und und eben Land. Ein bisschen hab ich mich schon auf schöne Bilder von Gauchos mit Hut und Folklorepaspeln an der Hose, von Pferden und Mate im Schatten gefreut. Aber, wie ich ebenfalls gestern sagte, ist das Pläneschmieden manchmal für die Katz. H. und J. haben heute früh vor der Abfahrt noch die Wettervorhersage konsultiert, und die sagte zum heutigen Herbstanfang Regen und Gewitter in der Provinz voraus. Noch während wir telefonierten, um uns darüber abzustimmen, wie ernst wir das nehmen, donnerte es auch hier im Zentrum. Ob es regnet, kann ich oft schlecht hören, weil in meinem Innenhof auch die Klimaanlagen der riesigen Wohnblocks rauschen und tropfen. Der Regen des letzten Monats hat uns vielleicht zu vorsichtig gemacht, dachten wird, aber eine Landpartie im Regen, um nach langer Fahrt mit zwei Kindern die leeren Weiden vom Auto aus anzugucken, oder den Schlamm („was Du da bei Regen siehst, ist Schlamm, sonst nichts“, sagten sie mir), ist weniger romantisch als einfach eine schlechte Idee.
Also haben wir den Ausflug abgeblasen und uns Alternativen mit Indoor-Anteil überlegt. Plan B ist ebenfalls ins Wasser gefallen, die Feria de Mataderos beginnt nämlich dieses Jahr erst im April. Feria de Mataderos ist quasi die städtische Variante des Gaucho-Ausflugs, nämlich ein alter Viehmarkt mit normalen Kram-und-Kruschtständen, aber eben auch noch ländlicher Parrilla mit halber Kuh auf dem Grill, mit Folklore und auch lebenden Tieren im Randviertel Mataderos, wo früher die Schlachthöfe waren und wo, wenn ich das richtig lokalisiere, auch die grausame und viel vom Nationalcharakter reflektierende Erzählung aus den jungen Jahren der Republik spielt, „El matadero“ von Esteban Echeverría (1838).
Plan C war dann ein einfacher, wir sind an die Costanera Norte gefahren, den Küstenstreifen am Rio de la Plata, wo am Stadtrand eine ganze Reihe sauberer Spielplätze angelegt wurde. Dort haben wir gebuddelt und gerutscht und den braunen Fluss angeguckt, bis es wie angekündigt heftig zu regnen begann. Die ganze Ecke sah etwas nach Nordsee aus, das schlammige Wasser, der bedeckte Himmel, Schiffe am Horizont, die Möwen – allerdings waren die Möwen gar keine Möwen, sie klangen nur von fern so, aus der Nähe waren es Schwärme kleiner grüner Papageien. Hach, Papageien! Und direkt in der Nachbarschaft der innerstädtische Flughafen, weshalb man bei den landenden Flugzeugen fast die Schrauben der ausgefahrenen Fahrwerke zählen kann.
Mit einsetzendem Regen sind wir dann zu J.s Bruder in die Provinz gefahren und haben am traditionellen Familien-Asado am Sonntag teilgenommen. Die Männer kümmern sich um den Grill, der vor der Küche im noch überdachten Bereich ist, die Frauen bereiten Salate zu (Blattsalat, Tomate und Zwiebel, Möhrensalat) und decken den Tisch. Erst isst man Choripan, das ist aufgeschnitte dicke und kurze Bratwurst auf mitgeröstetem Brot, oder andere Würste, auch Morcilla, Blutwurst von fast flüssiger Konsistenz. Danach kommt das eigentliche Fleisch, Rind vor allem, aber auch etwas Schwein und Hühnerbeine vom Grill, wer möchte. Dazu Rotwein, und drei Generationen plus wir Gäste zusammen an einer langen Tafel. Nach dem Essen Cafecito, dann wurde abgewaschen oder herumgespielt, sich unterhalten, Siesta gehalten, von der Großmutter wurden in Fett gebackene Süßigkeiten zubereitet, später gibt es noch Mate, und zwischendurch geht immer mal jemand an die Fliegengitter der Küchentür und seufzt, dass es immer noch regnet, und wie, und wie gut, dass wir nach San Antonio gefahren sind. Ein perfekter Familien-Regensonntag.
(Hier fehlt immer noch das Foto von der Parrilla)
40 Tage Buenos Aires [34]
An manchen Tagen läuft fast alles anders als geplant. Da heute die Schwiegermutter da und mit Mann und Kind auf dem Spielplatz war, bin ich alleine losgezogen und war am Puerto Madero zum Fotografieren. Es waren auch gute Motive, halbwegs vernünftiges Licht und Lust vorhanden, es sind auch einige brauchbare Bilder dabei, nur hat bei mir am Ende wie immer Architektur wenig Chance gegen Menschen. Auf dem Weg zum Hafen bin ich in einen aufwendigen Filmdreh geraten; ich hatte schon die Konfetti im Rinnstein fotografiert, als ich merkte, dass die gesamte Avenida Corrientes jenseits der 9 de Julio gesperrt war, ein Kamerakran und riesige Beleuchtungsanlagen schwebten über der Straße. Und auf dem Asphalt etwa 50 gleich (knapp) gekleidete Mädchen mit weißblonden Perücken und silbernen Pompons, die wieder und wieder ordentlich in drei Reihen die Corrientes herunterrollten, den Obelisken im Rücken, ein strahlendes Lächeln im Gesicht und die Pompons in der Luft. Ich hab mich eine Weile mit einem sich wichtig machenden Mitglied des Filmteams geredet, der am Rand herumstand und mich auch in die abgesperrte Zone gelassen hat, „ein Fotograf muss frech sein“, meinte er augenzwinkernd, die zentral aufgenommen Bilder finde ich allerdings wie erwartet langweilig. Das Ganze wird ein Werbefilm für die Kaugummimarke Trident, ich soll ihn dann mal im Internet suchen.
Dann ein Hafenrundgang auf den edel hergerichteten Docks – als ich vor neun Jahren hier war, waren im äußersten Teil auf der Höhe von San Telmo noch verfallene Lagerhäuser, das fand ich ja reizvoller, nicht nur für die Fotografenseele. Puerto Madero hatte ich immer für den alten Holzhafen gehalten, von madera = Holz, auch wenn das grammatikalisch noch nie hinkommen konnte, es stimmt auch nicht. Madero war einfach der Name des Architekten, der den Hafen Ende des 19. Jahrhunderts entworfen hat. Kaum war er fertig, wurde allerdings für inzwischen deutlich größere Schiffe ein größerer Hafen gebraucht, und das Vierte verfiel. Seit etwa 20 Jahren wird die Hafengegend nun modernisiert, in den edel renovierten alten Lagerhallen sind teure Restaurants untergebracht, im Hafen angesagte Diskotheken und Yacht-Clubs, dahinter entstehen mal wieder Hochhäuser, hier in der Luxusvariante und voll verspiegelt. La Boca ist der pintoreske Hafen der Armen, Puerto Madero das neue Reichenviertel direkt am Río de la Plata. Sogar das Eis der Kette „Freddo“ ist in der Filiale hier noch einen Peso teurer als im schon gut betuchten Viertel Recoleta.
Die Straßen tragen hier alle Frauennamen, eine weiße und etwas pieksig nach oben geschwungene Fußgängerbrücke, die die Richtung Stadt gelegenen Docks mit der Hochhaus-Wohngegend am Fluss verbindet und „Wahrzeichen, Wahrzeichen“ zu rufen scheint, heißt auch „puente de la mujer“, Fauenbrücke.
Auf dem Rückweg höre ich noch eine Weile Straßenmusikern zu und versuche wieder mal vergeblich, in Chile anzurufen. Schließlich hocke ich eine kleine Ewigkeit auf dem Platz vor dem Justiztpalast auf dem Pflaster und versuche Blattschneideameisen bei der Arbeit zu fotografieren, was aber vor allem eine langwierige und nicht befriedigend endende Auseinandersetzung mit dem Autofokus im Makro-Modus ist. Ich habe nun einige von der Tiefenschärfe her interessante Bilder von den Fliesen auf Plaza Lavalle, sie sehen in Nahaufnahme fast wie das Holocaust-Mahnmahl in Berlin aus. Nach einigen halbwegs erwischten Ameisen gebe ich auf, bevor mir noch die Kamera abhanden kommt; auf dem Platz sind regelrechte Behelfs-Siedlungen aus Planen entstanden, in einigen dieser Zelte wohnen ganze Familien, und einige der Halbobdachlosen beobachten seit einiger Zeit die bekloppte Blonde, die vor dem Baum hockt und den Fußboden fotografiert.
Dann wollen wir nochmal gemeinsam los, im Parque Rivadavia soll ein Tanz-Spektakel stattfinden, das wir uns anschauen möchten. Es soll um 18 Uhr losgehen, als wir um kurz nach sechs aus dem Bus steigen, ist der Park zwar voll und sehr belebt, aber von einer Show keine Spur. Nur vier deutlich übergewichtige Damen in Leggings üben auf einer Rasenfläche in einer Reihe hintereinanderweg Spreizsprünge, das ist als absurdes Tanztheater schon ziemlich gut, aber doch nicht das Angekündigte.
Wir streifen ein bisschen um die antiquarischen Buchstände und fliegenden Händler um den Park herum, fragen nach dem Tanz, aber keiner weiß etwas, anscheinend ist die Show ausgefallen. Dafür gehe ich am Abend noch ins Theater, „Antígonas“ von Alberto Muñoz im Kulturzentrum Floreal Gorini gleich um die Ecke. Der Saal ist klein und die Aufführung mäßig besucht, ich habe die vorletzte siebte Reihe ganz für mich allein. Das Stück habe ich etwas zufällig ausgesucht (eigentlich wollte ich in die Oper, aber das würdevolle Teatro Colón wird erst am 25. Mai neu eröffnet, und die Aufführungen von Aida und Turandot in der anderen Oper sind nur Übertragungen aus New York, auf Großleinwand, das hab ich dann doch nicht gemacht), es entpuppt sich als Zwei-Personen-Stück. Zwei Frauen spielen vier mal zwei Frauen in unterschiedlichen Situationen. Leider wird mir zu wenig gespielt und zu viel Dialog gesprochen, es passiert einfach nichts. Zudem steht das Stück für mich schnell unter Esosterik-Verdacht, es geht immer um irgendwas Besonderes in der Wahrnehmung der Frauen, was aber nicht recht benannt werden kann. Bei der dritten Szene gefällt mir die visuelle Umsetzung, die beiden Frauen – in diesem Moment Schwestern – sitzen auf einer Art Wipp-Brett, das sie selbst bewegen und mit Unterstützung von zwei Stöcken als Riemen so ein Ruderboot in den Wellen darstellen. In der vierten Szene mag ich den Text eines Dialogs, in dem eine Patientin und eine Therapeutin gegeneinander rezitieren. Erst unterhalten sie sich über Beipackzettel, die mit Literatur analog gesetzt werden („der Schluss ist immer der gleiche“), am Ende der Szene sagt die Patientin Beipackzettel auf und die Therapeuting spricht gleichzeitig Gedichte dazu, das wird gut.
Ansonsten muss ich mich aber der Frau der ersten Szene anschließen, die zu einer Schönheitskur will und einer mystisch-religiös-erweckten Behandlung unterzogen wird, Gott sei für die Männer, aber Christus, Christus sei für die Frauen. „Ich will das hier nicht, ich bin für etwas anderes gekommen“, jammert sie, und die andere erwidert: „Wir alle sind für etwas anderes gekommen“, und dem musste ich zustimmen.
Zum Abschluss noch ein Gegenentwurf zu den Dutzenden bonbonfarbener uniformierter Rollergirls, eine junge Frau auf den Stufen des Justizpalasts „Tribunales“.
Und morgen fahre ich aufs Land.
Superhelden gesucht
40 Tage Buenos Aires [33]
(Kein Foto von heute, ausnahmsweise, heute gab es nur eine langweilige Fassade und ein paar Schilder.) Nachdem wir gestern in einer Touri-Milonga waren, haben wir heute mal was ganz anderes gemacht, uns unters Volk gemischt quasi, um hier nochmal von einer ganz anderen Facette des Lebens in Buenos Aires zu berichten.
Baby B. ist die vorletzte Nacht einmal und letzte Nacht mehrmals mit quietschender Atemnot aufgewacht, fiependes Einatmen, Weinen, Würgen. Außerdem hatte er letzte Nacht Fieber. Meine private Diagnose war Pseudo-Krupp, und ich habe mich entsprechend verhalten, ihn natürlich beruhigt und dann zusammen längere Zeit die Ravioli im Tiefkühlfach bei offener Klappe angeschaut und die kalte Luft eingeatmet, bis er wieder normal Luft bekam. Heute morgen fiepte er wieder beim Atmen, war natürlich unausgeschlafen und heiser, und so sind wir heute zur Abwechslung mal ins Hospital de Niños gefahren, um das abklären zu lassen.
Das Kinderkrankenhaus ist eine Art Poliklinik mit offener Sprechstunde. Es liegt mitten in Palermo, eigentlich gute, beste Lage, wenn ich auch selten so viel Hundekacke in einem einzigen Straßenblock gesehen haben und darum würgend und mit Ekel-Gänsehaut in die Anmeldung kan. Aber um mich ging es nicht. Wir mussten erst am zentralen Schalter eine Nummer ziehen, dann zur Voranmeldung und dort zwei Damen in grünen Hemden schildern, was B hat. Mit einem gestempelten Laufzettel, auf dem sein Alter und Grund unseres Besuchs vermerkt waren, wurden wir dann in die entsprechende Abteilung geschickt, Pabellón L, allgemeine Fälle offenbar.
Dort wimmelte es von Kindern und Eltern, wir mussten wieder eine Nummer ziehen, „67“, die elektronische Anzeige stand auf „8“, hurra. Es stellte sich aber schnell heraus, dass die Anzeige nicht funkionierte, die jeweilige Ärztin streckte nach jedem Patienten den Kopf aus einem der drei aktiven Sprechzimmer und fragte in die Runde, welche Nummer nun dran sei. Auch wenn das Krankenhaus in einem noch etwas besseren Viertel liegt als unser Lieblingsspielplatz, war das Publikum doch deutlich anders. Der Altersdurchschnitt natürlich ähnlich, aber die mit uns wartenden Mütter waren deutlich weniger blond und ihre Kurven deutlich weniger fitnessstudio-definiert als bei den Spielplatzmamis.
Ich hatte heute andere Dinge zu tun und im Kopf und habe jetzt leider nicht das Gesundheitssystem Argentiniens aufgearbeitet, um es hier kompetent darzustellen, aber die Krankenhäuser teilen sich in Hospitales, Clínicas und Sanatorios, und sie teilen sich in öffentliche und private Krankenhäuser verschiedener Träger. Bei uns zu Hause um die Ecke ist ein Krankenhaus der „Obra Social“, das riesige Universitäts-Krankenhaus der medizinischen Fakultät der größten staatlichen Universität ist ebenfalls in unserem Viertel, es gibt französische oder nach Heiligen benannte Kliniken, aber auch die einzelnen Krankenversicherungen unterhalten eigene Kliniken und Notarzt- bzw. Rettungswagen-Systeme. Um die Kliniken herum siedeln sich Fachgeschäfte für Zahnarztstühle, Nahtmaterial, Prothesen oder medizinische Lehrmodelle an, hier in der Nähe gibt eine ganze Reihe „Ortopedias alemanas“, deutscher Orthopädie-Geschäfte, eine Art Sanitätshäuser, wenn ich das recht sehe. Das Hospital de Niños ist öffentlich, die Sprechstunde der Guardia (Ambulanz) ist für uns alle kostenfrei, und es hat eigentlich einen guten Ruf. Die Ärztinnen stellen eine (erste) Diagnose und schicken die Patienten weiter, in eine andere Abteilung oder mit einem Rezept in die Apotheke, ob man das Medikament dann selbst bezahlen muss, hängt dann davon ab, ob man eine Versicherung hat und welche. Ich habe auch erst jetzt herausgefunden, wo ich anrufe, wenn tatsächlich ein Notfall eintritt – so etwas wie das „112“ habe ich gestern Nacht nicht gefunden, eben auch darum, weil der Bereich so zersplittert ist, dass man zum Beispiel ein konkretes Ambulanz-Unternehmen anrufen kann, wenn man einen Krankenwagen braucht. Die Freunde, die ich heute um Rat fragte, rufen immer direkt bei ihrer Krankenkasse an, und die würde ihnen dann einen Krankenwagen schicken, der bei ihnen unter Vertrag schickt. Eine etwas generalisierte Nummer habe ich heute aber herausgefunden, das ist wohl die „107“. Ich hoffe, wir werden sie nicht brauchen. Auf den Fluren sieht es aus wie in einem der vielen Krankenhaus-Bilderbücher, ein Wimmelbild, auf dem man fast alles findet: Kinder im Rollstuhl, Kinder mit Augenklappe, Kinder mit Nasensonde. Weinende Kinder auf dem Arm ihrer Eltern, schlafende Kinder, spielende Kinder. Die Eltern und Großeltern sehen etwas erschöpft aus, wahrscheinlich haben wir alle schlechte Nächte hinter uns. Die Stuhlreihen im Wartebereich sind so eng gestellt, dass nicht mal die Kinder einfach so zwischen den Knien der einander gegenüber Sitzenden durchschlüpfen können, und wenn die wartenden Patienten bisher nichts hatten, haben sie jetzt Gelegenheit, sich mit irgendetwas anzustecken. In den Ecken läuft auf Fernsehern der Comic-Kanal, es schaut aber keiner recht hin.
Das Krankenhaus-Personal trägt alle Varianten von Uniform, offener Kittel über dem Sommerkleid, bunter Kasack, OP-Overall, die meisten Kinder kommen offenbar direkt von zu Hause und sind „zivil“ da. Nur einmal läuft eine schnatternde Gruppe von drei Grundschülern in Schulinform aus dem Chirurgie-Bereich kommend durch unsere Wartezone, vielleicht ein Unfall in der Pause, die kleinen Jungen in ihren weißen Kitteln mit Heften unter dem Arm sehen auf den Krankenhausfluren ganz rührend aus.
Als wir schließlich als fast die letzten des Vormittags dran sind, hört sich die junge und strahlende Ärztin meine Beschreibung der Symptome an, nickt, ich meine, für mich würde das wie „Pseudo-Krupp“ klingen, sie nickt wieder, „seudo-crup“, denkt sie auch. Sie hört B. ab, er muss sich noch einmal für einen Blick in den Hals auf das zerknitterte Papier der Liege des winzigen Sprechzimmers legen, dessen hinterer Ausgang zu einem weiteren Gang hin offen ist, dann bestätigt sie unsere Diagnose: Pseudo-Krupp. Sie nennt den Namen eines Medikaments, ich frage, ob das Cortison sei, sie lacht, ja, Diagnose stimmt, Medikamt stimmt, das sollen wir ihm drei Tage lang geben, wenn er nicht darauf anspricht, wieder eine Ambulanz aufsuchen. Sie schäkert noch etwas mit B. und stellt die Rezepte für die Apotheke aus, und ansonsten hätte sie noch einen Geheimtipp für die Nächte, wenn es akut ist. Ich schlage die offene Tiefkühltruhe vor, sie lacht wieder, genau, aber ich wisse ja alles,“nächstes Mal kommst Du alleine“, sagt sie zu Percanto, „sie ist ja nur mit, weil sie das Rezept mit Stempel braucht, aber so ist das ja langweilig, wenn sie schon alles weiß, macht das keinen Spaß.“ Als wir rauskommen, hat sich der Trakt fast geleert, den Wartenummern zufolge waren wir heute Vormittag etwa 70 Patienten nur im Bereich „zum ersten Mal hier“, und alles war für uns alle umsonst, egal ob und wie wir versichert sind, das ist ganz schön beachtlich. Insgesamt stehen die öffentlichen Krankenhäuser gerade in der Provinz allerdings arg in der Kritik, der hygienische Zustand sei katastrophal, viele Patienten würden nicht behandelt, andere schlecht. Wir können uns heute nicht beschweren. Am Nachmittag gehen der kleine Patient und ich nur kurz zur Tante und dann schaukeln, im Sand buddeln und ein Eis essen, er mag Zitroneneis, und zu Hause kochen wir die Ravioli, die wir mitten in der Nacht schon im Tiefkühlfach angeschaut haben. Das Kulturprogamm für heute Abend, ich wollte ins Kino oder Theater, ist darum gestrichen. Dafür im Fernsehen gezappt, in einem Programm taumeln Moderatoren in roten Badeanzügen und farbigen 3D-Brillen durcheinander und versuchen irgendwelche an Schnüren hängenden Dingen zu fangen, im nächsten mehrere Jahrzehnte altes Bildungsfernsehen über korrektes Autofahren, in einem anderen erklärt Eduardo Galeano hinter einem Schreibtisch mit güner Lampe die Welt. Galeano! Ich hab mal für Galeano eine Lesung mit Diskussion gedolmetscht und mit ihm Abendbrot gegessen. Davon erzählt er natürlich nichts.
Vielleicht sollte ich für Notfälle noch etwas Spielzeug in den Kühlschrank legen. Wenn wir heute Nacht wieder kalte Luft brauchen, was ich nicht glaube, sind dort nur noch ein paar triste Eiswürfel anzutreffen, die werden B. nicht lange dazu animieren, ins Eisfach zu atmen.