Noch mehr Spaß vor unserer Tür

Letzte Nacht keine Zeitungsdiebe, sondern Fahrradzerstörer. Wir haben gerade eine bunte Folge von Flohmarkt der Nachbarn und Sperrmüll vor der Tür, außerdem stehen im Hof und an der Straße die Fahrräder von uns und den anderen Bewohnern, seit uns unser herziger Vermieter verboten hat, sie im Keller aufzubewahren.
Heute Nacht um zwei wurde ich vom hysterischen Gekicher mehrerer Männer unter meinem Fenster wach, dazu rhythmisches Scheppern einer Fahrradklingel. Sie diskutierten kurz darüber, ob besser „dies“ oder „das hier“, lautes Kichern, Krachen und Klirren, Metall auf Metall, dann zerrte einer von ihnen – ich inzwischen am Fenster – ein Fahrrad aus dem Durchgang hervor. Zwei liefen voraus, der dritte trat das Fahrrad voran, das offenbar noch an einer Stelle ein Schloss hatte und sich nicht einfach schieben ließ – Tritt, Scheppern, Quietschen, Tritt, Scheppern, Quietschen, die drei Männer machten sich fast nass vor Lachen, bei jedem Tritt des Dritten gegen das Hinterrad oder Tretlager gingen die ersten weiter in die Knie, lachend und nach Luft schnappend. Das Fahrrad klang entsetzlich. Ich überlegte, was ich tun sollte, doch sie kamen nur ein paar Meter weit, dann rief ein anderer Nachbar aus dem Fenster, er würde die Polizei rufen, sie ließen das Rad mit einem letzten Krachen fallen und rannten laut lachend über den Hof ins Dunkle.
Heute morgen lag das Fahrrad mit verdrehten Rädern und zertretenem Kettenschutz auf dem Weg.
Ich will hier weg.


voll geil


Wir wohnen in der Innenstadt, unsere besprayte, dreckige, beklebte und beschriebene Haustür liegt in einer alten Hofdurchfahrt, die Pennern als Regenschutz dient, guten Bürgern als Müllablage und Hunden als Toilette, und allen Leuten zwischen Innenstadt und Parkhaus als Durchgang. Manchmal, wenn ich – anständig angezogen, nett und adrett – das Haus verlasse oder am Briefkasten stehe, werde ich mit offenem Mund angestaunt. Exemplarisch der Kommentar eines kleinen Mädchens: „Mama, kann man dahinter WOHNEN?!“

Schon, auch wenn Penner, die einem den Keller vollkotzen, geklaute Fahrräder, eine eingetretene Haustür und mit Böllern aufgesprengte Briefkästen nicht nur Freude bereiten.
Unser Schlafzimmer liegt genau über dem Durchgang, und als ich heute Nacht um 4 im Bett lag und hellwach in den sich aufklarenden Himmel schaute, kam unten ein Grüppchen junger Leute vom Feiern zurück, offenbar drei Männer und eine Frau. Die Akustik im Hof ist ausgezeichnet. Sie lachten und redeten, und als sie durch den Durchgang kamen, kommentierte die Frau: „Und hier kann man voll geil Zeitungen klauen!“ Alle lachten, nur einer der Männer meinte, mit wem sie sonst so zusammen sei, er würde eigentlich keine Zeitungen klauen, Gelächter, „voll geil“, sie freute sich wie über eine gute Pilz-Stelle, klar, eine Zeitlang gab es eine ganz gute Auswahl (Süddeutsche, Spiegel, Frankfurter Sonntagszeitung), der Briefkasten draußen, aber schön regengeschützt und so bequem auf dem Weg.
Leider habe ich das gekippte Fenster nicht schnell genug aufbekommen, um ihr meine Wut hinterherzurufen, dass das unsere Zeitungen gewesen seien, dass da tatsächlich Leute wohnen, die übrigens morgens im Schlafanzug auf die Straße laufen, um sich die Frühstücklektüre zu holen und dann kopfschüttelnd in die Wohnung zurückkommen, und dass wir die Sonntagszeitung auch darum nicht mehr abonniert haben, weil wir zu selten was davon hatten, denn mindestens jede zweite Woche hatte sie jemand, der diesen Service voll geil findet, vor uns aus dem Kasten genommen.

Medley

J., 2 Jahre alt, und ich spielen mit Duplo. Aus dem Tor wird ein Kran wird ein Haus wird ein Bett wird ein Auto. Mit diesem Auto fahren J.s rechte Hand „Papa“ und J.s linke Hand „J.“ halsbrecherisch hinter der Feuerwehr her und bauen dabei einen schweren Unfall. Die linke Hand „J.“ liegt verletzt auf dem Boden und jammert.
Ich komme mit dem Krankenwagen angebraust, streichle den kleinen Patienten „linke“ Hand“ alias „J.“ und sage „Heile, heile, Segen…“. Sofort kommt J.s kleine rechte Hand dazu, hochkant schiebt er sie auf seinem linken Handrücken hin und her und ergänzt den Reim: „… voller Tücke in die Brücke eine Lücke!“
Textsicher.

Wenn das Volk keine Knödel hat

Wir hängen im Winter immer einen Meisenknödel ans Küchenfenster, den wir an einen an die Fassade genagelten und getapeten Laternenstab knoten. Stab und Knödel sind sehr nah am Fenster, aber inzwischen wissen die Meisen, dass wir drinnen da nur sitzen, und sie drücken sich auch nicht ihre Nasen zu Wellensittichschnäbeln platt. Im Sommer hängt zwar kein Meisenknödel, aber die Meisen können dort landen und verschnaufen und in die Küche gucken. Das tun sie offenbar, jedenfalls kennen sie sich bestens bei uns aus.
Wir hatten Bauarbeiter am Haus, die die Fassade neu gemacht haben, dabei haben sie viel Dreck gemacht, wie die Meisen auf einem Baugerüst am Küchenfenster gesessen, zu uns hinein geguckt und außerdem den Laternenstab entfernt.
Letzteres war den Vögeln offenbar nicht recht, und so sind sie reingekommen, um sich ihre Futterrationen selber zu holen. Ich kam jedenfalls mittags in die Küche, und eine Meise hüpfte auf dem Küchentisch herum. Ich fragte sie, was sie denn da mache, und sie tschilpte, hüpfte auf das gekippte Fenster, guckte mich an, tschilpte mir noch etwas zu und flog wieder raus.
Am nächsten Tag das Gleiche: kleine Meise auf Küchentisch, antwortet auf Anrede mit Tschilpen und hüpft aufs gekippte Fenster. Und auf dem Küchentisch hatte sie Muttis selbstgebackenen Sandkuchen aus der Alufolie ausgepackt und einen guten Teil vom Rand abgepickt.
Wenn die Meisen keine Knödel haben, sollen die Meisen doch Kuchen essen!

wieder da

Nach dem letzten Blogeintrag brachen zehn Tage voller Glück und Glücksfälle über mich hinein; ich weiß gar nicht, wo ich mich zuerst freuen soll.

Da außerdem mein Internet zu Hause nicht funktioniert (das fällt nicht unter die Glücksfälle im engeren Sinne, aber gerade auch nicht sehr ins Gewicht), komme ich überhaupt nicht zum Bloggen. Aber jetzt vielleicht mal wieder. Ich geb mir Mühe.
Und freu mich einfach weiter.

Die Zeit heilt alle Wunden, es geht vorbei

„Sein Vater ist seit 30 Jahren tot, und er vermisst ihn immer noch“, sagte die Frau in dem Film über den Mann auf dem Sofa, „er war die wichtigste Person in seinem Leben.“ Und sie gucken ein wenig konsterniert, gucken wie „rührend irgendwie, das mit dem Vermissen, aber hey, 30 Jahre“.
Ich habe keine Ahung, worum es ging, wer die Figuren waren und welche Schauspieler sie darstellten. Aber gehalten hat sich mein Unverständnis angesichts des Unverständnisses der Frau, angesichts des betonten „immer noch“.
Der wichtigste Mensch ist keine Kategorie, die ich besonders mag, so wie ich auch das Bibelwort „Darum wird ein Mann seine Mutter und seinen Vater verlassen, und seinem Weib anhangen“ nicht mag. Ich will mich nicht entscheiden müssen, wer wichtiger ist, der Ehemann oder die Eltern, der Vater oder die Mutter (und wir hatten uns als Kinder schaudernd überlegt, wie wir entscheiden würden, müssten wir entscheiden, zu wem würdest DU gehen, wenn Mutti und Papi sich scheiden ließen?, aber wir waren sicher, dass sie es nicht tun würden, dass wir es durchspielen könnten, weil es Spiel bliebe; bei den Überlegungen, wie ich meinen Bart tragen würde, wäre ich ein Mann und bekäme ich einen, habe ich das Hypothetische der Prämisse mal vergessen, bei diesem Beraten und Abwägen vergaßen wir es nie), nein, nicht entscheiden, ob Vater oder Mutter, nicht welcher der Brüder, nicht ob die Tochter, die Mutter oder die Großmutter mehr zu lieben sei.
Ich glaube, meine Mimi hat ihre älteste Tochter ihr Leben lang vermisst, und sie wird auch ihre Mutter vermisst haben, auch nach 25 Jahren noch. Und ich weiß, dass ihre zweite Tochter, die älteste der lebenden und meine Mutter, sie vermisst, und auch ich vermisse sie. Wir reagieren inzwischen seltener falsch, ich wähle zum Beispiel nicht mehr ihre Nummer, wenn ich traurig bin, und muss dann nach drei oder vier Zahlen auflegen, wenn ich es merke, und ich will auch nicht mehr ihrer Freundin sagen, was sie ihr erzählen soll, weil ja vielleicht wenigstens sie noch Kontakt hat. Trotzdem bin ich der Mann auf dem Sofa, und ich tropfe auch nach 6 Jahren noch auf den Schreibtisch und wusste den ganzen Tag nicht, was schreiben und was zu Mutti sagen, obwohl wir fast eine Stunde telefoniert haben und ich wusste, dass der vierte Juli war.
In der Nacht, als sie starb, kam erst der Anruf, sie habe einen Herzinfarkt, sie sei im Krankhaus, und die Stimme meines Vaters, und dass es mein Vater war, und um diese Zeit. Ich habe im Bett gesessen und den winzigen Holzengel angeschaut, ein kleiner, flacher Engel im weißen Hemd, an einem Band mit Glöckchen, ich glaube nicht an Engel, auch nicht an hölzerne, aber sie hatte ihn mir geschenkt, den Engel, an einem Weihnachtsgeschenk hängend, nun hing er an meinem Bett und ich habe ihn angeschaut, fest, und immer wiederholt: nicht, nicht, nicht, nicht. Bitte nicht, bitte, bitte, bitte nicht. Er hat es nicht geschafft, sie hat es nicht geschafft.
Es ist sechs Jahre her, und gestern Nacht sprang mich der Schmerz wieder genauso an, direkt in den Hals, und natürlich vermissen wir sie, was sollen wir denn sonst tun.
Ein paar Monate später kam Percanto nach Deutschland, dann sind wir umgezogen. Das Engelchen hängt noch immer an meinem, an unserem Bett, und ihre letzte Postkarte steht dort, wir konnten nicht wissen, dass es die letzte Postkarte sein würde, und untypischerweise zeigt auch sie Engel. Sie steht seit 6 Jahren dort, und irgendwann habe ich gemerkt, dass der Teil, der über die wechselnden Bücher ragt, ausgeblichen ist vom Tageslicht, die Schrift fast vollständig verschwunden, nur an den Enden der Wörter waren noch Punkte zu sehen, wo sich die Tinte gesammelt hatte. Ich weiß, was dort stand, wenn man die Karte schräg halt, konnte man es erraten, also habe ich es abgeschrieben auf einen Klebezettel und ihn über die obere Hälfte geklebt, als Lichtschutz. Ich hätte die Karte rahmen sollen, spätestens dann. Ich hätte den Text hinten auf den Rahmen schreiben sollen. Ich hätte die verbliebenen Wörter vor dem Licht schützen sollen. Aber ich konnte mich nicht auch noch vom unteren Teil trennen, von ihrer Handschrift, ihrem Namen, Alles Liebe Deine Mimi.
Darum sind nun auch die letzten vier Zeilen bleich und fast verschwunden, aber ich konnte sie nicht wegsperren und schon jetzt vermisse ich auch sie.