Aus Anlass meiner Kündigung bei Brotjob 1 (ich habe ein Stipendium! Ich habe ein Stipendium!) hier ein altes Posting, was ich noch bearbeiten wollte und dann vergessen habe. Jetzt unbearbeitet und mit einem halben Jahr Patina.
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Letzte Woche haben die Putzfrauen in der Bibliothek aus irgendeinem Grund mitten am Tag alle Glastüren geputzt. Ich saß mit dem Rücken zu einer Frau, die eine große Scheibe wienerte und sich wirklich sehr bibliotheksleise verhielt. Dennoch konnte ich mich nicht auf meinen Text konzentrieren, weil ich mich so unwohl gefühlt habe: Da zu sitzen und zu lesen, während sie dort arbeitet.
Es hat eine Weile gedauert, bis ich darauf gekommen bin, dass das was ich da tue, auch Arbeit ist. Auch wenn ich keine Gummihandschuhe dabei trage.
Den Studenten im allgemeinen und uns Geisteswissenschaflern im besonderen wird gerne unterstellt, wir würden in den Tag hineinleben, bis Mittag schlafen und danach, wenn wir Literaturwissenschaftler sind, quasi zu unserem Vergnügen Romane lesen und das Studium nennen.
Nach einigen Erfahrungen im (Niedriglohn-)Arbeitsleben (vgl. dazu die Kampagne „Mileurista = Tausendeurist“) komme ich zum Schluss, dass das Zeitmanagement tatsächlich eines der Geisteswissenschaftler-Probleme ist, allerdings ganz anders, als das Klischee will.
In meinem Brotjob 1 sitzt neuerdings eine Azubine im Zimmer nebenan, sie lernt Sachbearbeiterin (vulgo Sekretärin, oder?) und soll für die nächsten Wochen in unserer Abteilung arbeiten und lernen. Ich bin deshalb gebeten worden, sie bei interessanten Fällen zu mir zu holen und bei Fragen ihrerseits zu helfen und zu erklären, ihre Arbeit aber nicht zu erledigen, außerdem solle ich gelegentlich Aufgaben abgeben. Die Azubine trägt kurioserweise den Namen eines sehr schlanken Baumes, nennen wir sie hier Frau Fichte; ihr Körper entspricht dem Bild aber gar nicht, sie ist, wie sagt man das pc, „gewichtsmäßig herausgefordert“ und bewegt sich betont langsam. Sie geht aber relativ regelmäßig aus dem Büro und dem Gebäude, und ich habe mich immer gefragt, wo sie hin will, bis mir gestern aufging, dass sie einfach Pause macht. Da wir anderen drei v.a. Beratung machen und eigentlich immerzu jemanden im Zimmer oder am Telefon haben, ist „Pause“ eine ganz neue Idee. Gut, sie soll Pausen machen!
Mein Morgen bei Job 1 sieht normalerweise so aus, dass ich Menschen berate, lange Gespräche in allen verfügbaren Sprachen oder notfalls mit Zeichensprache und Bildchen führe und versuche, sie einen Schritt weiter zu bringen auf dem Weg hin zu Kommunikation und Integration. Außerdem führe ich Papierkrieg mit verschiedenen Ämtern und Einrichtungen, beantworte Mails und Telefonate, schicke Briefe nach Tunesien, in den Gaza-Streifen oder Kamerun, und zwischendurch renn ich immer die Wendeltreppe in den 2. Stock hoch, um im Postraum Pässe und Anträge zu kopieren.
Alles ganz normal. Ich gehe zwar nicht erst, wenn ich mit allem fertig bin, aber doch auch nicht, bevor nicht alle Leute, die vor der Tür warten, einmal bei mir waren. Dienstschluss ist darum ein dehnbarer Begriff. Wie gesagt, alles ganz normal und kein Grund, sich zu beschweren.
Am Ende des gestrigen Tages mit Frau Fichte wurde mir plötzlich die grundsätzliche Differenz zwischen einem Geisteswissenschaftler üblicher Prägung und einem Azubi oder ehemaligen Azubi üblicher Prägung klar.
Ich hatte seit etwa 20 min Schluss und musste dringend zu Brotjob 2, hatte gerade noch einen Brief zugeklebt, der ebenfalls dringend weg musste. Natürlich könnte ich ein weiteres Mal die Wendeltreppe zum Postraum im 2. Stock hochlaufen und mache das üblicherweise auch mit der Post der Zimmernachbarn. Ich war aber wirklich in Eile und fragte, während ich packte, Frau Fichte, ob sie noch einmal hochgehen würde.
Frau Fichte: „Ja.“
Percanta: „Schön. Wären Sie so nett und würden den Brief hier mit in den Postraum nehmen?“
Frau Fichte [guckt mich lange an]: „In den Postraum? Naja… SO hoch wollte ich eigentlich nicht gehen. Nur in den ersten Stock.“
Percanta: „Ach, Frau Fichte, wenn Sie es dennoch irgendwie einrichten könnten, wäre ich Ihnen wirklich sehr verbunden.“
Sie hat dann nachgegeben.
Daraus abgleitete Erkenntnisse am Abend:
Geisteswissenschaftler lernen im Studium vor allem dies:
Dass es normal ist, zu frei definierbaren Zeiten zu arbeiten. Frei definierbar heißt vielleicht im Studium auch mal „irgendwann anfangen“, heißt aber insbesondere, keinen Endzeitpunkt zu haben. Um von Überstunden zu reden, müsste man ja erst mal die normale Arbeitszeit definieren, was üblicherweise wegfällt. Also ist mehr arbeiten ganz normal.
Dass man zwar lange studiert, aber dafür weder als Praktikant noch im Job Geld verlangen kann. Wir machen ja etwas, was Spaß macht, und andere Germanisten/ Romanisten/ Historiker gibt es wie Sand am Meer.
O-Ton eines Telefonats, in dem meine Dienste als Übersetzerin angefragt wurden: „Mein Chef hat gesagt, ich soll erst mal fragen, ob Sie es umsonst machen.“ Äh – nein?! Inzwischen nicht mehr. Es sei denn, ein Verlag haut mich übers Ohr.
Frau Fichte dagegen ist es glaube ich völlig klar, dass sie für das, was sie tut, auch Geld verlangen kann. Und wieviel.
Wir müssen das erst mühsam lernen.
Und aufhören und Nein sagen und nach Hause gehen auch.
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So, jetzt lese ich weiter und nenne es „Arbeit“.