Recoleta ist neben Chacarita der berühmteste Friedhof der Stadt, und es ist eine eigene kleine Stadt mitten im gutbürgerlichen Viertel Recoleta. Eine Stadt der Toten und der Engel, die Toten wohnen unten in den Mausoleen, die Engel oben auf den Dächern. In den Mausoleen stehen die Särge zum Teil im Keller, zum Teil auf Augenhöhe in Regalen, unter Altaren, unter Spitzendeckchen verborgen oder ganz offen der Gittertür. Manchmal stehen die großen Särge im Untergeschoss, und oben steht ein furchtbar kleiner. Außen an den Wänden sind die Namen der Familien eingemeißelt, der einzelnen Toten, und es sind Metall-Plaketten mit Liebesschwüren und Erinnerungen angebracht. Die meisten Mausoleen scheinen Tote aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu bergen, ihre Fotos zeigen sie bei ihren Hochzeiten, als steifes Portrait oder ihren Leichenzug. Manche Nischen sind verfallen und voller Müll, „Pax Eterna“ steht über einem Haufen Plastikflaschen hinter Gittern und zerbrochenen Scheiben. Einzelne Pflanzen haben sich den Weg gebahnt und umranken die Särge und Kruzifixe, die Vasten auf den kleinen Altären sind längst leer, andere Familiengruften sind auf Hochglanz poliert, an einem Mausoleum mit blitzenden Scheiben drehte sich eine Klimaanlage. Es gibt Mausoleen, wo die Türen aufgebrochen sind und man die Stufen zu den Särgen hinabsteigen könnte, in anderen liegen zwar welke, aber doch immerhin Blumen, andere werden von den Wächtern gepflegt, da dort Familien ruhen, die in den Reiseführen auftauchen und wo die Friedhofsführungen Halt machen. Auch Evita (um die Argentinien nicht weinen soll) liegt hier. In den Gassen sonnen sich Katzen, bei der Statue eines betenden Kindes, die von blühenden Sträuchern überwuchert war, stand auf einmal sirrend ein Kolibri im Licht. Einige Dachsimse tragen streng blickende Büsten der Verstorbenen, andere Kreuze oder steinere Flammen. Das schönste am Friedhof aber sind die Statuen, die zahllosen Engel und Madonnen auf den Dächern der Mausoleen. Sie sind ja wohl wegen der Toten da, aber auf ihren Kuppeln balancierend scheinen sie doch ganz in ihrer eigenen Welt zu bleiben, über die Sterblichen, auf deren letzten Häusern sie stehen, und über uns Touristen erhaben. Nach zwei Stunden unter Engeln frage ich mich, wann sie die Arme zu uns auf der Erde herabgesenkt haben und wann sie einen Arm, eine geöffnete Hand energisch in die Luft werfen, als wollten sie sagen, „heppa, hoch mit Dir, Toter, auf den Himmel, hopp…“. Einige ruhen aufgestützt, manche haben Hängeflügel, andere scheinen gerade von einer Wolke zu fallen. Einer weint schwarze Tränen, anderen wachsen Heiligenscheine aus Gras. Ein Engel hält eine Frauenfigur vor dem Bauch und zieht sie nach oben, ein bisschen erinnern die beiden mich an die Plakat-Szene aus „Titanic“. Meine Lieblingsstatue aber ist eine Figur ohne Flügel, eine weiße marmorne Jugenstilstatue am Mausoleum von „Rufina Cambaceres“, die ganz sanft die Tür aufschiebt (oder zuzieht?), wunderschön. Ich liebe sie schon lange und bin auch heute zuerst zu ihr gegangen.
Da ich mich zwischen all meinen Engeln heute nicht entscheiden konnte, gibt es die sanfte Jugendstildame und eine größere Auswahl weiterer Figuren auf Flickr, den Link setze ich morgen separat rein – heute habe ich einige Schwierigkeiten mit der Stromversorgung und kann keine Bilder mehr hochladen, auch keine geflügelten.
Es wird Zeit, dass ich das Thema wechsel, gestern die grausigen Fotos in der Ausstellung, vorgestern die Verschwunden, heute Friedhof. Zu viele Tote. Im realen Leben hier allerdings auch ein paar Schwierigkeiten, die Mutter der Tante ist gestern gestürzt und hat sich den Oberarm gebrochen. Zum Glück muss sie nicht operiert werden, aber schön ist das nicht mit 84 Jahren, zumal sie nach der Beerdigung ihrer Schwester am Freitag ziemlich angegriffen ist. Sie wohnt nun auch hier, in dem Zimmer, wo bisher wir untergebracht waren, wir sind erst mal zu dritt ins winzige alte Dienstbotenkabuff gezogen, wo nun wegen der Matratze auf dem Boden die Tür nicht mehr aufgeht, und der jüngste Sohn schläft im Sprechzimmer. Auf Dauer werden wir wohl eine andere Lösung finden müssen. Die „Abuelita Angelita“ (irgendwie passt dann doch immer alles zusammen) ist eine so reizende Person, tapfer und eigentlich ganz fröhlich und redselig. Neben den Schmerzen und der Sorge ärgert sie sich nun, dass sie die letzten Tage Freibad und das Abschlussfest ihrer Ferien-Kolonie mit ihren „Chicas“ verpasst. Aber die Chicas, ihre 70- bis 94-jährigen Freundinnen, werden sie nun hier besuchen kommen. Was natürlich nicht das gleiche ist wie ein Picknick im Freibad, aber sie ist, wie gesagt, sehr tapfer.