Jetzt wird’s langweilig: Ich arbeite. Heute habe ich keinen Pulverkaffee im Hostal gefrühstückt, sondern bin an diesem eisigen Wintermorgen – Handschuhwetter! – mit der Metro losgefahren ins nächste Viertel bergaufwärts, um dort in ein Café zu gehen, wo ich vor Jahren mit dem Doktorvater war und später noch ein paar Mal allein, um dort den Vortrag endlich fertig zu bekommen und dann noch durch die Buchhandlungen nebenan. Metro im Berufsverkehr, so etwa stellt sich der Südamerikareisende Tokio vor. Es ist gesteckt voll, manchmal muss man mehrere Züge durchlassen, und ich kann nicht mit Sicherheit sagen, was eigentlich die Aufgabe der alle 5 Meter an der gelben Abtandslinie postierten Bahnsteig-Aufpasser ist, die nur zur „hora pic“ da sind: Sollen sie verhindern, dass sich Leute von außen an die Waggons hängen, oder sollen sie uns ein bisschen weiter durch die Türen quetschen, damit noch ein Dutzend Passagiere mehr mitkommt? Im Zug kann man nicht umfallen und ich bin ganz froh, größer als der Durchschnitts-Chilene zu sein und halbwegs Luft zu bekommen. Ich bin in „Los Leones“ ausgestiegen und hatte das Gefühl, richtig zu sein. Genau konnte ich es nicht mehr wissen, denn wie ich heute früh festgestellt habe, steht das Stadtplanbuch von Santiago, in dem auch alle Telefonnummern und Geheimtippadressen notiert sind, noch neben den Reiseführen im Regal zu Hause, mitgenommen habe ich stattdessen den Stadtplan von Buenos Aires. Damit komm ich hier nur bedingt weiter. Ich hatte also immerhin das Gefühl, richtig zu sein, den Namen des Cafés wusste ich auch nicht mehr, nur dass es in einer Galerie liegt, deren Namen ich auch nicht erinnerte. Calle (?) Vitacura hatte ich als fixe Idee im Kopf, ohne Gewähr. Ich bin von der U-Bahn aus weiter bergauf gegangen, es musste auf der linken Straßenseite, soweit war ich sicher, aber vielleicht deutlich weiter oben. Zwei Cuadras lang kam mir alles sehr bekannt vor, aber als ich die nächste U-Bahn-Station zu Fuß längst hinter mir gelassen hatte und es fremder wurde, musste ich mir eingestehen, dass die Richtung wohl nicht stimmte. Also umgedreht, wieder vorbei an den Obsthändlern, die gerade die Avocados und die Nuss-Tüten auf Tüchern auf dem Bürgersteig sortieren oder die Bananen an die Stange über dem Obstkarren hängen, vorbei an fliegenden Händlern mit Räucherstäbchen, im Strom der Leute, die zur Arbeit gehen, die Schüler sind schon durch. Als ich den Namen des Cafés sehe, weiß ich es wieder. „Tavelli“, genau. Und die Galerie ist auch noch da, und die Buchhandlung, und er Laden mit den Stoffen und indigen angehauchten Klamotten, in dem sich vor 5 Jahren mal jemand verschanzt hatte, während eine Frau in der Galerie herumlief und uns alle anbrüllte, die seien Räuber, Diebe, unehrenhaftes Gesindel, die nicht das bezahlen, was sie an Waren ankaufen, dann Polizei und das Ende haben wir sie lieber ohne uns ausmachen lassen. Alles noch da, außer dem Schmuckstand in der Mitte der Galerie, dort verkaufen sie jetzt Chile-Bücher und Postkarten. Ich installiere mich im Café und arbeite bis nachmittags, mit Kaffee und Himbeersaft und Crêpes, anschließend gebe ich mein restliches Geld für Bücher aus, die ich für die Lesungen im Herbst brauche – und finde zufällig einen Text-Bild-Band, an dem eine ehemalige Kommilitonin beteiligt ist, allerdings ist, was wirklich gemein ist, ihr Name auf dem Cover falsch geschrieben, und was dann noch übrig ist, investiere ich im Wollpullover – der hier zu Ende gehende Winter ist sicher bald bei uns. Den Heimweg teile ich mit zahllosen Mädchen in Schuluniformen, alle in Dunkelblau mit kurzen Röckchen, die meisten noch mit dicken Schuhen und Stulpen über den Strumpfhosen, einzelne haben nach dem frühlingshaften Wochenende nur Kniestrümpfe unter dem Rock an und darum die Beine farblich passend zur Schuluniform. Und alle haben lange Haare. Im Park haben sich die Pärchen vom Rasen auf die Bänke geflüchtet, überall küssende Schüler unter blühenden Zweigen. Entweder hat dieser Frühling schon mehr Durschlagkraft, als man ihm bei den Temperaturen zutraut, oder es gibt hier mehr Liebespaare, oder sie knutschen mehr, oder sie haben weniger Zimmer für sich allein. Vielleicht auch eine Kombination aus all dem.
Die Berge hängen unsichtbar hinter Wolken, Nebel und Smog, sonst würde ich sie Euch gerne mal zeigen. Am Abend ist im Centro Cultural Mapocho die Eröffnung des Kongresses. Das Centro Cultural Mapocho ist der alte Bahnhof, ein imposantes Gebäude, in dem auch die Buch- und andere Messen stattfinden.
Leider ist es kein Bahnhof mehr, denn Chile hat die Eisenbahn abgeschafft – was eigentlich nicht zu verstehen ist, denn wenn ein Land für die Eisenbahn gemacht zu sein scheint, dann Chile mit seiner „loca geografía“. Man bräuchte nur eine einzige lange Bahnlinie, nur einen Schienenstrang, oder zwei parallele, damit man gleichzeitig in den Süden und den Norden fahren könnte, und damit wäre das ganze Land versorgt. (Der chilenische Anti-Poet Nicanor Parra meint zum Bahnverkehr in Chile folgendes: La locomotora del tren instantáneo
está en el lugar de destino (Pto. Montt)
y el último carro en el punto de partida (Stgo.) la ventaja que presenta este tipo de tren consiste en que el viajero llega
instantáneamente a Puerto Montt en el
momento mismo de abordar el último carro en Santiago
lo único que debe hacer a continuación
es trasladarse con sus maletas
por el interior del tren
hasta llegar al primer carro
una vez realizada esta operación
el viajero puede proceder a abandonar
el tren instantáneo que ha permanecido inmóvil
durante todo el trayecto
Observación: este tipo de tren (directo)
sirve sólo para viajes de ida [Aus: Hojas de Parra.] )
Die Eröffnung findet im Untergeschoss des Centro Cultural statt und lässt mir fast drei Stunden Zeit, über Sinn und Unsinn dieser Reise nachzudenken. Wir sitzen in einer Art leerem Beton-Schwimmbecken auf Klappstühlchen oder auf den Stufen am Rand, ich friere mir langsam die Beine ab, während vorne erst eine geschlagene Stunde lang Grußworte gelesen und zur Versicherung der gegenseitigen Freundschaft Bücher unterschrieben werden. Und im Anschluss wird ein Buch vorgestellt, für das zahllose Dichter und bildende Künstler sich vom Nationalepos Araucana haben inspieren lassen. Die Installationen der Künstler sind draußen zu bewundern, aber die Gedichte sollen wir uns anhören – gleich 16 Dichter haben sie eingeladen, ihre Texte bei der Kongresseröffnung zu lesen. Ich liebe Lyrik und ich arbeite furchtbar gerne mit Gedichten, aber so etwas strapaziert meine Geduld. Eine schier endlose Lyrik-Lesung, die furchtbar gut gemeint ist und an der sicher auch gute Leute beteiligt waren, die man aber hinter ihrem Tisch nicht sehen konnte und die fast alle ihre Lesung mit umständlichen Dankesworten für die Einladenden begannen, und deren Texte ich dann einmal höre, ohne die Wörter zu sehen oder einen spitzen Stift zur Hand zu haben, das ist nicht meins. Wäre es noch länger gegangen, sie hätten mich eine veritable Identitätskrise gelesen. Ein Drittel der Poeten widmetete das Gelesene den gefangenen Mapuche, die sich im Hungerstreik befinden, ein Dichter schloss sich dieser Widmung an und ergänzte dann, dass seine Lektüre außerdem den Minenarbeitern im Norden gewidmet sie, denn dort, so ergänzte er etwas schamhaft, komme er her. Höflicher Applaus für diese Ergänzung. Das Auditorium begleitete die Lesungen etwa zur Hälfte frenetisch, die andere Hälfte war eher still oder schlich sich irgendwann raus. Der anschließende „Cóctel“ zur Eröffnung löste sich dann auch entsprechend schnell auf. Ich kannte (oder erkannte) niemanden, den Namen nach müsste ich eigentlich einige kennen, aber Namensschilder gibt es erst morgen und die Namen, zu denen ich bereits ein Gesicht habe, waren nicht da, auch mein Dichter war verhindert, nur ein älterer Dozent der Universität Arica, der kaum mehr Leute kannte als ich, blieb treu an meiner Seite. Fröstelnd erklärten wir das Fest dann relativ bald für beendet. Morgen geht es hier mit Arbeit weiter, ich hoffe, es gibt zwischendurch auch was zu erzählen. Und Licht und Fotos. [Apropos Licht: Oh, Stromausfall!]
Die Berge hängen unsichtbar hinter Wolken, Nebel und Smog, sonst würde ich sie Euch gerne mal zeigen. Am Abend ist im Centro Cultural Mapocho die Eröffnung des Kongresses. Das Centro Cultural Mapocho ist der alte Bahnhof, ein imposantes Gebäude, in dem auch die Buch- und andere Messen stattfinden.
Leider ist es kein Bahnhof mehr, denn Chile hat die Eisenbahn abgeschafft – was eigentlich nicht zu verstehen ist, denn wenn ein Land für die Eisenbahn gemacht zu sein scheint, dann Chile mit seiner „loca geografía“. Man bräuchte nur eine einzige lange Bahnlinie, nur einen Schienenstrang, oder zwei parallele, damit man gleichzeitig in den Süden und den Norden fahren könnte, und damit wäre das ganze Land versorgt. (Der chilenische Anti-Poet Nicanor Parra meint zum Bahnverkehr in Chile folgendes: La locomotora del tren instantáneo
está en el lugar de destino (Pto. Montt)
y el último carro en el punto de partida (Stgo.) la ventaja que presenta este tipo de tren consiste en que el viajero llega
instantáneamente a Puerto Montt en el
momento mismo de abordar el último carro en Santiago
lo único que debe hacer a continuación
es trasladarse con sus maletas
por el interior del tren
hasta llegar al primer carro
una vez realizada esta operación
el viajero puede proceder a abandonar
el tren instantáneo que ha permanecido inmóvil
durante todo el trayecto
Observación: este tipo de tren (directo)
sirve sólo para viajes de ida [Aus: Hojas de Parra.] )
Die Eröffnung findet im Untergeschoss des Centro Cultural statt und lässt mir fast drei Stunden Zeit, über Sinn und Unsinn dieser Reise nachzudenken. Wir sitzen in einer Art leerem Beton-Schwimmbecken auf Klappstühlchen oder auf den Stufen am Rand, ich friere mir langsam die Beine ab, während vorne erst eine geschlagene Stunde lang Grußworte gelesen und zur Versicherung der gegenseitigen Freundschaft Bücher unterschrieben werden. Und im Anschluss wird ein Buch vorgestellt, für das zahllose Dichter und bildende Künstler sich vom Nationalepos Araucana haben inspieren lassen. Die Installationen der Künstler sind draußen zu bewundern, aber die Gedichte sollen wir uns anhören – gleich 16 Dichter haben sie eingeladen, ihre Texte bei der Kongresseröffnung zu lesen. Ich liebe Lyrik und ich arbeite furchtbar gerne mit Gedichten, aber so etwas strapaziert meine Geduld. Eine schier endlose Lyrik-Lesung, die furchtbar gut gemeint ist und an der sicher auch gute Leute beteiligt waren, die man aber hinter ihrem Tisch nicht sehen konnte und die fast alle ihre Lesung mit umständlichen Dankesworten für die Einladenden begannen, und deren Texte ich dann einmal höre, ohne die Wörter zu sehen oder einen spitzen Stift zur Hand zu haben, das ist nicht meins. Wäre es noch länger gegangen, sie hätten mich eine veritable Identitätskrise gelesen. Ein Drittel der Poeten widmetete das Gelesene den gefangenen Mapuche, die sich im Hungerstreik befinden, ein Dichter schloss sich dieser Widmung an und ergänzte dann, dass seine Lektüre außerdem den Minenarbeitern im Norden gewidmet sie, denn dort, so ergänzte er etwas schamhaft, komme er her. Höflicher Applaus für diese Ergänzung. Das Auditorium begleitete die Lesungen etwa zur Hälfte frenetisch, die andere Hälfte war eher still oder schlich sich irgendwann raus. Der anschließende „Cóctel“ zur Eröffnung löste sich dann auch entsprechend schnell auf. Ich kannte (oder erkannte) niemanden, den Namen nach müsste ich eigentlich einige kennen, aber Namensschilder gibt es erst morgen und die Namen, zu denen ich bereits ein Gesicht habe, waren nicht da, auch mein Dichter war verhindert, nur ein älterer Dozent der Universität Arica, der kaum mehr Leute kannte als ich, blieb treu an meiner Seite. Fröstelnd erklärten wir das Fest dann relativ bald für beendet. Morgen geht es hier mit Arbeit weiter, ich hoffe, es gibt zwischendurch auch was zu erzählen. Und Licht und Fotos. [Apropos Licht: Oh, Stromausfall!]
„Ich installiere mich im Café“- werde diesen bezaubernden Hispanismus mal im deutschen Alltag testen.
Café-Installateur könnte ich mir als Berufsbild auch viel eher vorstellen, als Elektro-Installateur.
Erwischt! Hehe.