Zurück ins Regal [3]

Marisha Pessl: Die alltägliche Physik des Unglücks (Fischer 2007), übersetzt von Adelhaid Zöfel.
(Gebunden, 601 Seiten, rotes Lesebändchen.)

Die alltägliche Physik des Unglücks (Original: Special Topics in Calamity Physics, 2006) ist der Erstling einer US-amerikanischen Autorin (Jahrgang 1977, seufz). Kurz nachdem er auf Deutsch erschienen war, habe ich eine enthusiastische Kritik dieses Romans gelesen, ihn vor Weihnachten nun zufällig als Mängelexemplar gefunden, im Laden angelesen und gekauft. An Beschreibungen der Handlung konnte ich mich nicht erinnern, aber „verblüffend“ fällt in den Rezensionen häufiger, auch im Klappentext bejubelt „The Independent“ das Buch als „prall, brillant, verrückt“, „Die Zeit“ findet es unter anderem „[a]nspielungsreich, pointensicher […] sprachlich funkelnd“, und das alles stimmt, und es stimmt auch für die Übersetzung.
Die 600 Seiten sind in 3 Teile gegliedert, und diese wiederum in Kapitel, die alle die Titel von Werken der Weltliteratur tragen, von Othello über Herz der Finsternis bis Metamorphosen. Der Roman endet mit dem Kapitel Abschlusstest.
Das ist mehr als Spielerei: Die Protagonistin und Ich-Erzählerin Blue van Meer ist zur erzählten Zeit Schülerin der Abschlussklasse der High-School, vor allem aber ist sie die hochbegabte Tochter eines Politik-Professors, der mit ihr seit ihrer frühen Kindheit von Uni zu Uni durch die USA tingelt und ihr einen großen Teil ihrer Bildung im Auto vermittelt. Ein bisschen Nabokov ohne Inzest. Einen guten Teil dieses Wissens spuckt die Erzählerin im Text wieder aus, als wissenschaftliche Belege an allen möglichen und unmöglichen Stellen, so etwa nach vielen der Vergleiche, die sie permament bringt. Die
(teils fiktiven? überwiegend fiktiven?) bibliographischen Angaben im Text scheinen mir zusammen mit den Vergleichen eines der hervorstechenden Stilmittel des Textes zu sein. Das kann man vermutlich mühsam finden, aber mir hat die Lektüre viel Spaß gemacht.
Das sieht dann z.B. so aus:

Nigel war die Nullziffer (siehe „Negative Space“, Art Lesson, Trey, 19773, S. 29). Auf den ersten Blick (und auch noch auf den zweiten und dritten) war er ganz normal. Sein Gesicht – oder besser, sein ganzes Wesen – war wie ein Knopfloch: klein, schmal ereignislos. (107)

Oder so:

Als wir beschlossen, nicht mehr betrunken zu sein (der Tod hatte den gleichen Effekt wie sechs Tassen Kaffee und ein Sprung in die Beringsee), gingen wir zurück ins Wohnzimmer. Ein neuer Beamter hatte die Sache in die Hand genommen, Officer Donnie Lee, ein Mann mit einem kugeligen, schiefen Gesicht, das an eine missratene Vase auf einer Töpferscheibe erinnerte. Er ließ die Gäste antreten, „bitte geordnet, Leute“, mit der manischen Geduld eines Activities Director auf einem Kreuzfahrtschiff, der einen Landausflug organisiert. Nach und nach ringelte sich die Menge durch den Raum. (206)

Oder auch so:

Sie erwartete, dass ich protestieren, auf die Knie fallen, jammern würde, aber das konnte ich nicht. Es war mir nicht möglich. Ich musste an etwas denken, was Dad einmal gesagt hatte: Dass manche Leute die Antwort auf alle Lebensfragen schon am Tag ihrer Geburt parat haben und es keinen Sinn hat, ihnen etwas Neues beibringen zu wollen. „Sie haben geschlossen, obwohl sie um elf Uhr öffnen, Montag bis Freitag, was ziemlich verwirrend ist“, sagte Dad. Und wenn man versuchte, das, was sie denken, zu verändern und ihnen etwas zu erklären, weil man hoffte, sie könnten vielleicht doch auch eine andere Sicht der Dinge verstehen, war das ein sehr anstrengendes Unterfangen, weil man nichts erreichte und einem hinterher alles wehtat. Es war, als wäre man ein Gefangener in einem Hochsicherheitstrakt, der wissen wollte, wie sich die Hand eines Besuchers anfühlte (siehe Leben im Dunkeln, 1967). Egal, wie verzweifelt man es sich wünschte und seine stumme Handfläche gegen die Glasscheibe drückte, genau an der Stelle, wo der Besucher seine Hand hatte – man spürt sie nicht. (434f.)

Neben Erwachsenwerden und Vater-Tochter-Beziehung und Clique und Schule passieren in diesem letzten High-School-Jahr eine Menge wenig alltäglicher Dinge, und die Zahl der überraschenden – aber stets vorbereiteten – Wendungen in der Handlung nimmt gegen Ende des Romans immer mehr zu. Darunter auch der „fabelhafte Grund“, um ihre Lebensgeschichte auf und über ihre Kindheit zu schreiben, „[…] vor allem über das Jahr, in dem sie aufgeribbelt wurde wie ein alter Wollpullover“ (9).

Lesen.
Die alltägliche Physik des Unglücks steht nun zwischen Dave Eggers: Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität (großartig!) und Haruki Murakami: Mister Aufziehvogel.

3 Gedanken zu „Zurück ins Regal [3]

  1. Hach wie schön, ja das isses! Und herzlichen Dank für die Mühe. Das kann man ja gar nicht hoch genug loben, was die Blogger alles so ins Netz einarbeiten. Ihr handfeger

  2. Ich hingegen finde das niederträchtig und gemein, was Blogger so alles in dieses Netz einarbeiten, denn man kommt ja mit dem Lesen gar nicht mehr hinterher. Mannmann. (Und Deine Bücher-Ordnung macht mich immer noch fertig.)

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