Verkehrsberuhigte Lesezonen

Eigentlich lese ich schnell, schnell und viel, und das immer schon.
Manche Texte lese ich in großen Happen, ich überspringe nichts, schlinge die Zeilen aber im Ganzen herunter. Auch ohne gründlich zu kauen (für jeden Buchstaben einmal kauen etwa? Aber das kann ich schon beim Essen nicht, für jeden Zahn einmal malmen), auch ohne gründlich zu kauen weiß ich meist ziemlich genau, was ich gelesen habe. Wenn ich einen Text ausnehmend schön finde, kann ich das Tempo auch drosseln und der Satzmelodie hinterherhören. Gedichte lese ich trotz ihrer mundgerechten Länge nicht auf einen Atemzug. Wenn ich einen richtig guten Roman zum ersten Mal lesen, nehme ich manchmal auch am Ende noch einmal bewusst Tempo heraus, um länger was davon zu haben.
Bei der Zeitungslektüre möchte ich eigentlich nicht mitsingen, und ich habe in der Regel auch genug Zeitung für die ganze Woche und muss das Ende der Papierstapel nicht künstlich herauszögern. Es gibt aber immer mal wieder Texte, die keinen Langsam-Genuss-Lese-Genres angehören, sich aber dennoch nur in reduzierter Geschwindigkeit lesen lassen. Bei komplexen Theorie-Texten lasse ich mir das gefallen, da muss man eben gründlicher kauen, wird aber auch satt.
Nervös werde ich allerdings, wenn die Sätze merkwürdig gebaut sind (und mit ‚merkwürdig‘ meine ich keine literarischen Sätze, sondern Fehlkonstruktionen, bei denen man am Ende noch einmal vor dem letzten Komma ansetzen muss, um ungefähr folgen zu können). Lesehindernisse sind für meine Augen falsch gesetzte Kommata, vor allem vor „als“, wenn es als Vergleichswort fungiert und keinen temporalen Nebensatz einleitet. Wer hat das eigentlich erfunden? Ich stolpere in all meinen Zeitungen darüber: „Die Mutter ist ein gutes Stück größer, als ihre Kinder.“ Nein! Kein Komma! Bitte! Ich bleibe auch hängen, wenn der Satz nach dem Subjekt noch einmal mit einem Pronomen neu ansetzt: „Das Haus, es steht an der Ecke.“ Diesen Satz muss ich in seiner ganzen Belanglosigkeit gleich zwei oder drei Mal lesen, um dann zum Schluss zu kommen, dass die Betonung wohl doch nur schlechter Stil ist und keine Bedeutungsänderung herbeiführen sollte. Aber diese Form scheint sich durchzusetzen.
Ausgebremst werde ich auch bei E-Mails, die mit abgekürzten Schluss-Floskeln arbeiten:
LG, J.“ oder „HDH Stephan“ .
Ich habe LG oder GVLG oft genug gesehen, um diese Kürzel zu entschlüsseln, doch funktioniert das ‚Lesen auf einen Blick‘ hier nicht: Mein stilles Hinzubuchstabieren der fehlenden Zeichen braucht länger als das Schreiben der ganzen Wörter.
Bei „HDH“ nimmt mein Hirn außerdem den Umweg über das Englische, was zwar Blödsinn ist, mich aber immer wieder in die selbe Sackgasse führt: „Hope D…“ Oder? Heißt es vielleicht doch „Hope (it) Does Help„?! Ich kurve dann jedenfalls zurück und entscheide, dass wohl es „Hoffe Das Hilft“ heißen muss. Für die Floskel am Mail-Ende brauche ich also – mit allen Umwegen – länger als für die Lektüre der ganzen Post vorweg.
Am Wochenende habe ich gemerkt, dass mein Schnell-Lesen auch noch anders ausgebremst werden kann. Mit dem Interview mit dem österreichischen Bundeskanzler Gusenbauer im Spiegel bin ich überhaupt nicht vorangekommen. Es war eigentlich ein gut lesbarer Text ohne die oben genannten Schwellen zur Verkehrsberuhigung, dennoch las er sich wie in der 30-Zone. Den Verfassern ist nichts anzulasten, diesmal hat mich nur mein Hirn gefoppt – ohne zu wissen, was Kanzler Gusenbauer für eine Stimme hat und wie er spricht, habe ich seine Antworten immer in österreichischem Tonfall gelesen – und das heißt vor allem: langsam! Nachdem ich das gemerkt hatte, habe ich versucht, die Handbremse zu lösen und die Vokale beim leisen (!) Lesen nicht mehr zu dehnen. Ich kann ja auch gar kein Österreichisch!
Der Dialekt-Modus war aber nicht abzuschalten; ich habe die Lektüre schließlich abgebrochen.