40 Tage Buenos Aires [38]

Tag 38, 24. März 2010: Demonstrationen zur Erinnerung an die Militärdiktatur, die heute vor 34 Jahren mit einem Putsch begann. Angehörige von Verschwundenen tragen ein mehrere hundert Meter langes Transparent mit Bildern, Namen und Daten des Verschwindens der Opfer der Diktatur. Avenida de Mayo, auf dem Weg zur Plaza de Mayo.

Den 24. März habe ich schon einmal in Argentinien erlebt, 2001, als sich der Militärputsch zum 25. Mal jährte. In die Manifestationen auf der Plaza de Mayo war ich damals zufällig geraten, bin dann ins Wohnheim geeilt und habe mehr Filme geholt und mein Diktiergerät und den Nachmittag auf der Plaza verbracht. Im Zentrum standen vor neun Jahren sehr deutlich die Mütter und die Kinder der Verschwundenen, ich hatte ständig Gänsehaut, als alle gemeinsam die Internationale sangen zum Beispiel, vor allem aber wenn jemand „30.000“ rief und der ganze Platz geschlossen „presentes!“ brüllte, „anwesend“. 30.000, das ist die Zahl der Verschwundenen der Militärdiktatur, Opfer, die gefoltert und umgebracht wurden, ohne das irgendjemand davon Nachricht erhalten hätte. Viele der Leichen sind nie aufgetaucht, manchmal gibt es Zufallsfunde wie beim Umbau einer innerstädtischen Autobahn, wo an den Stützpfosten einer Brücke einige Leichen gefunden wurden, manchmal gibt es noch späte Hinweise auf Verstecke. Viele andere werden nie gefunden werden können, vor allem bei denjenigen, die betäubt aus Flugzeugen über dem Río de Plata geworfen wurden, gibt es keine Hoffnung auf Spuren. Doch möchten die Familien zumindest das wissen, was ist geschehen, wo ist ihr Kind, ihr Mann, ihre Mutter geblieben.
Dieses Jahr im Prinzip das gleiche. Dieses Mal weiß ich aber bescheid und gehe gezielt und mit vollem Akku zu den Sammelpunkten auf der 9 de Julio, unterhalte mich zunächst länger mit einem jungen Mann, der an der politischen Kultur in Deutschland interessiert ist und wie uns die Krise getroffen hat, und lasse mich dann ein bisschen in die Av. de Mayo hineinziehen. Wie auch damals sind außer den Angehörigen-Gruppen auch zahllose andere politische Aktivisten da, die Evita-Jugend, die Jungen Peronisten, die Jungen Gewerkschafter, die Arbeiterpartei, Homosexuellen-Gruppierungen, die „Hemdlosen“, Organistationen zum Schutz von Kindern in bestimmten Stadtteilen, alle möglichen Fakultäten aller möglichen Universitäten, Linke Lastwagenfahrer, Arbeiterorganisation der Müllabfuhr, Unterstützer des Kirchner-Regimes, Tupac Amaru – es sind alle da. Auf der Av. de Mayo formiert sich ein Zug aus hunderten von Angehörigen von Verschwundenen, die gemeinsam ein schier endloses Transparent tragen mit den Fotos, Namen und Verschwinde-Daten ihrer Familienangehörigen. Ich frage eine Frau, neben der ich immer wieder lande, ob sie auch direkt bei ihren Verwandten gehe, nein, ihr Mann ist ein Verschwunder, Juan, aber sie habe ihn auf dem langen Plakat und bei den vielen Menschen nicht gefunden, also geht sie irgendwo – ich soll die Augen offen halten. Die Kinder der Toten haben heute oft das Alter dieser auf ihren Fotos, und bei einzelnen Trägern ist die Ähnlichkeit mit den Abgebildeten frappierend, das sind wieder Gänsehautmomente. Ansonsten sind es dieses Jahr fast zu viele verschiedene Gruppen, viele haben eigene Trommelgruppen dabei, andere Lastwagen mit Lautsprechern, und wenn mehrere Gruppen in unmittelbarer Nachbarschaft ihre Slogans brüllen und trommeln, ist es einfach nur noch laut – von der Botschaft hört man wenig. Es werden auch die „Klassiker“ gesungen, und auch dieses Mal schallt oft das „30.000“ – „presentes“ durch die Menge, aber meist irgendwo inmitten des Tumultes aus anderen Gesängen. Und protestiert wird gegen alles mögliche, von vielen Gruppen gegen die Bezahlung der Auslandsschulden.
Neben den Angehörigen, die das Transparent tragen, sind auch die Organisationen der Mütter da, an die komme ich dieses Mal aber nicht heran, die Bühne ist zu weit weg (letztes Mal haben sie mich für eine Journalistin gehalten und hinter und auf die Bühne gelassen), und einzelne Demonstranten in der Menge halten Schilder mit den Fotos ihrer Angehörigen hoch oder haben deren Bild mit Daten um den Hals hängen oder auf ein T-Shirt gedruckt. „Alles hängt irgendwie mit allem zusammen“, kommentiert eine der Frauen am Transparent den Protest einer Arbeitergruppe, aber vor allem bin ich doch ihretwegen da, wegen der Verschwundenen und ihren tapferen, kämpfenden Familien.
Eigentlich soll es ab 17 Uhr ein Konzert geben (auch das heiß diskutiert – Musik und Vergnügen an so einem Tag, es gäbe doch nichts zu feiern, auch wenn es politisch engagierte Musiker seien), im Höllenlärm der Trommelgruppen – außer den Trommlern sind die Arbeiterpartei, die Militante Arbeiterpartei und die Studierendengruppen besonders laut und gut mit Lautsprechern ausgerüstet – bekomme ich den Beginn aber nicht mit, später in der Nähe der Bühne stehe ich genau zwischen den Blöcken und höre eine mäßige Tangosängerin zwischen den skandierten Slogans der Piqueteros und dem „Wer jetzt nicht hüpft, ist Kapitalist“ der Studenten. Eigentlich wollte ich gerne Victor Heredia hören, einer der ganz Großen, aber das Vorhaben gebe ich irgendwann auf.
Es ist unglaublich voll, von 50.000 Menschen vor der Casa Rosada ist die Rede, dabei ziehen die meisten im Protestzug auf die Plaza und hinter der Kathedrale wieder herunter, nur die „losen“ Protestanten bleiben auf dem Platz. Da ist zum Teil auch Volksfeststimmung, es werden Hamburger gebraten und es riecht nach Hasch. Wir haben weiße Papierherzen bekommen, die wir uns um die Handgelenke oder den Hals binden, andere dieser Herzen hängen in langen Ketten an den Laternen, die genaue Bedeutung kenne ich nicht, manche beschriften sie mit Namen, andere mit Slogans.
Leider bin ich ja hier nicht zu einem Fußballspiel gegangen, aber einen Teil des Fanblockgefühls hole ich auf der Plaza nach. Es ist eng, es wird gedrängelt, und ich habe die besondere Begabung, immer genau da zu stehen, wo sich ummittelbar danach ein Durchschlupf bildet, Schneise wäre zuviel gesagt, jedenfalls stehe ich immer dort, wo dann plötzlich ganz viele Leute durchwollen. Dann kommt eine hüpfende und Fahnen schwenkende Gruppe vorbei, die Gesänge sind zum Teil ebenfalls die gleichen wie beim Fußball, nur mit anderen Texten, auch heute sangen wir „Olé olé olá…“ – nur dass es dieses Mal weiterging mit „es wird euch wie den Nazis gehen, wir werden euch verfolgen und eines Tages seid ihr dran…“ Als dieses Lied mit dem Nazivergleich von recht vielen Demonstranten gleichzeitig und Fäuste schwingend gesungen wird, fragt neben mir eine junge Asiatin einen Mann, der ein Plakat trägt, ob das eigentlich die Nationalhymne sei. Nicht ganz, aber bekannt sei es schon. Einige Gruppen der Arbeiterpartei kommen schließlich mit Bengalenfeuern und Raketen, insgesamt ist es den Bildern aus den Stadien nicht unähnlich. Nur sind wir heute nicht zwei Gruppen mit ihren je eigenen Gesängen, sondern hunderte, und bei so vielen Anliegen gleichzeitig gehen die einzelnen fast unter – hören oder verstehen kann man die einzelnen Texte jedenfalls nicht mehr. Nach sechs Stunden spreche ich noch einmal mit einem Sohn von einem Verschwundenen, der ein Foto um den Hals trägt, das ebensogut eines von ihm selbst sein könnte. Die Ähnlichkeit ist verblüffend, als wäre es er, nur in schwarz-weiß; seine Mutter und Schwester haben das gleiche Bild vor der Brust. Ich bitte ihn um ein Foto, was ich gerne machen darf, und frage nach dem Mann auf dem Bild. Er stellt sich und seinen Vater vor, und zusammen mit dem Namen des Vaters – Florencio – nennt er das Datum seines Verschwindens, 14. April 1976. Diese Daten gehören untrennbar zu diesen Menschen, und ihre Angehörigen fordern auch nach 34 Jahren noch, etwas über deren Todesumstände zu erfahren – und dass endlich den Tätern der Prozess gemacht werde, „Memoria y justicia.“

Edit:
Eine kleine Auswahl meiner Fotos von heute gibt es hier bei Flickr.

Ein Gedanke zu „40 Tage Buenos Aires [38]

  1. Dieser Bericht hat mir sehr gefallen, es kam mir so vor, als wäre ich direkt vor Ort präsent dank deiner guten Beschreibung.Die Fotos erstaunen mich, verschiedene Gefühle sind zu sehen, wobei die positiven, hoffnungsvollen und fröhlichen überwiegen, das hatte ich nicht erwartet. Mir gefällt an den Fotos besonders, dass keine Distanz zu den Porträtierten zu spüren ist, aber gut, du hast ja selbst geschrieben, dass es sehr voll war, also ist das unter Umständen kein Verdienst, sondern einfach eine Nebenwirkung.Nun denne… Guten Flug und eine noch bessere Ankunft in der zweiten Heimat!

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