Tag 29, Montag, 15. März 2010: Innenhof Café Milion, Barrio Norte.
In dem überaus stilvollen Café und Restaurant mit Galerie „Milion“ legen wir zwischen einem langen Spielplatznachmittag auf „unserer“ Plaza Vincente López und dem nötigen Einkauf im Supermarkt „Coto“ eine Pause ein. Der Hof ist fast leer, nur hinten unter der Laube telefoniert in der lauen Zeit am Nachmittag leise ein Koch, die schwarze Uniform samt schwarzer Kochmütze tadellos. Mehr Zuspruch findet das Lokal wohl abends, wenn es Bar und Lounge ist. An den Wänden hinter den Hängepflanzen bitten freundliche Hinweisschilder auf weißen Fliesen darum, leise zu sprechen, „die Nachbarn ruhen sich aus“. Angeblich hat das Haus mal Deutschen gehört, erzählt uns der leutselige Besitzer, der hier seit zehn Jahren das Café betreibt. Die Freitreppe ist natürlich großartig, mir würde aber schon die Terrasse links oben auf dem Treppenabsatz genügen, oder die große Glastür. Schon das runde Fenster über dem oberen Balkon wäre phantastisch. Der Kaffee schmeckt dem Ambiente angemessen wirklich gut, allerdings servieren sie hier außer Wasser nichts dazu, keinen Keks, kein Alfjorcito. Da man Kaffee aber nicht so trocken runterwürgen kann, beiße ich einmal an Baby B.s Reiswaffel ab, die er, wenig überraschend nach den „Vainillas“ (Bisquits) und Butterkeksen, sowieso nicht aufessen möchte. Und das, was übrigbleibt, ist manifester Nationalismus: Aus einer schnöden, salzfreien Reiswaffel haben Baby B. und ich zusammen Argentinien en miniature gegessen. Toll.
Am Abend gehe ich nochmal alleine los und suche auf der Av. Corrientes Bücher mit bestimmten Aufsätzen sowie den Film „Kamtschatka“. Das Buch werde ich im Sommersemester lesen lassen, der Film dazu wäre eine schöne Zugabe. Ich beginne mit der Suche im „Solocine“ gleich an der Ecke Corrientes / Rodriguez Peña. Der Film-Laden ist sehr gut sortiert, der Mann an der Theke ebenso gut informiert, „Kamtschatka“ hat er nicht, aber er berät mich ein bisschen bei der Auswahl von Dokumentarfilmen, schließlich haben wir mit mehreren Kunden zusammen ein Gespräch über gute Dokumentarfilme und die Schwierigkeiten, Peronismus zu verstehen, und ich bekomme eine kleine Auffrischung in argentinischer Geschichte samt Filmgeschichte. Eigentlich wollte ich etwas dokumentarisches Material für die Fragen nach dem historischen Kontext in meinem Unterricht, schließlich verlasse ich den Laden zwar ohne Kamtschatka, dafür aber mit zwei anderen Spielfilmen und insgesamt sieben Dokumentationen, darunter eine Trilogie über die Unruhen 2001/02 von Pino Solanas, von der ich 2005 den zweiten Teil in einem Kino in Mendoza gesehen habe, „La Dignidad de los Nadies“, die Würde der Niemande. Ohne zu übertreiben hat sich nach der Vorführung das gesamte Publikum auf den Toiletten wiedergetroffen, wo wir uns die Nasen putzen und – auf der Damentoilette jedenfalls – die Wimperntusche von den Wange wischten. Ergreifend, beeindruckend, jetzt habe ich die ganze Trilogie und im Paket noch einen weiteren Film von Solanas dazu. Ich bin gespannt. Außerdem schicken mich die anderen Kunden und der Verkäufer in einhelliger Meinung los, den Film „La Patagonia Rebelde“ von Héctor Oliveira nach einem Roman von Osvaldo Bayer zu besorgen, ein Spielfilm auf historischer Grundlage, hier geht es um einen Aufstand in den 1920er Jahren. Diesen Film finde ich tatsächlich in einem Zeitungsstand an der Av. Corrientes für 15 Pesos, etwa 3 Euro. Mit den Büchern ist es zunächst schwierig, ich suche bestimmte Aufsätze, die zum Beispiel in bestimmten Bänden von Cortázar oder Benedetti sein können, vielleicht aber auch woanders. In einem der modernen Antiquariate, das vorne fast nur Ramsch hat, habe ich Glück. Der männliche Betreiber kommt aus Uruguay und hat die Benedetti-Ausgaben etwa im Kopf, da macht er mir nicht viel Hoffnung, sie haben den Band auch nicht. Die Frau meint aber, mir mit Cortázar helfen zu können, sucht ein bisschen hinter Schulbüchern, um dann eine Trittleiter gezielt anzustellen und aus der zweiten Reihe einen in Folie verpackten und mit „rar!“ beschrifteten alten Band zu ziehen. Die Ausgabe ist noch etwas älter als die, die ich auf der Liste hatte, aber zumindest der eine Aufsatz ist tatsächlich drin. Das Buch ist – wegen des Seltenheitswertes – etwas teurer als erwartet, aber allein die überzeugende Kompetenz dieses netten Paares ist es mir wert, zudem geben sie mir Hinweise, wo ich den anderen Text finden könnte. Ich klappere die Läden bis zum Obelisken auf der einen Straßenseite ab, auf der anderen geht es zurück. Inzwischen ist es dunkel und die späten Buchbummler mischen sich mit den ersten Theatergästen, die an den Kartenschaltern der vielen Schauspielhäuser anstehen oder aufgehübscht vor den geschlossenen Fassaden warten. In einer anderen Buchhandlung finde ich die anderen Cortázar-Texte in einer etwas schmuddeligen Neuausgabe, den letzte Versuch für den Film mache ich in einer Buchhandlung, die an der Rückwand auch Videos führt. Dies ist allerdings eine Täuschung, es ist kein Filmhandel, sondern eine Videothek. Es ist nichts mehr los, der Mann an der Theke trinkt mit einem Kunden, Freund oder Mitarbeiter aus der Buchabteilung Mate, als ich dazukomme. Wir unterhalten uns eine Weile über den Film, ich würde den Film auch ausleihen, um erst mal zu gucken, ob sich die doch eher schwierige Suche lohnt, da ich dafür aber Jahresbeitrag zahlen müsste, lohnt es sich nicht. Der Filmverleiher bietet mir dann von sich aus eine andere Lösung an: Weil ich ja schon im ehrenwerten „Solocine“ gesucht hätte und auch sonst alles zwischen „Solocine“ und dem Obselisken abgeklappert, also echtes Interesse hätte und Willen, einen Originalfilm zu kaufen, würde er mir den Film kopieren. Wir tauschen Namen und Mailadressen, morgen kann ich eine Kopie von „Kamtschatka“ ganz offiziell in der Buchhandlung abholen. Wenn ich noch ein Original bekomme – denn der Mann aus dem ersten Laden wollte es auch versuchen -, soll ich halt bescheid sagen.
Ich habe zwei Taschen voller Filme und Bücher nach Hause geschleppt und mehr ausgegeben, als ich auf der Suche nach zwei Texten und einem Film ursprünglich vorhatte, aber so macht das Spaß. Das letzte Ergänzungsbild ist nicht von heute Abend, sondern aus einem Antiquariat in der Av. Santa Fé, Richtung Palermo. Der Mann ganz links unten ist der Besitzer, auch ein Fanatiker, der einem aus diesen Stapeln, die durch den ganzen Laden – der hinten rechts noch weitergeht – wuchern, zielsicher die erfragten Bücher ziehen kann. Ich selbst finde beim Stöbern in diesen Läden nichts, aber wenn man was Bestimmtes sucht und fragt, bekommt man vielleicht das gewünschte Buch – oder aber jede Menge Anekdoten und Informationen aus dessen Umkreis, und die sind oft genauso spannend.
Hach! Ich hatte befürchtet, dass es diese Buchsuch- und -kaufkultur nicht mehr gibt.
Die etwas andere Art der Semestervorbereitung. Großartig und beneidenswert. Das Antiquariat ist ja wohl sehr beeindruckend, danke für das gelungene Foto. „Kamtschatka“ ist ein sehr guter Film, Darín als Vater wie immer ein genialer Darsteller. Dass Du jetzt auch so viele Dokumentarfilme hast, dank guter Beratung, rundet Deine originelle Recherche vor Ort noch ab. Respekt und unendlicher Neid vereinen sich bei der Lektüre dieses Tagesberichtes. 😉
Es gibt noch Menschen, die sich mit den Büchern beschäftigen, die sie verkaufen ♥.
kaltmamsell hat mich vorbeigeschickt und mich mit diesem Hinweis gleich doppelt belohnt: In Sachen regionaler Kauf- und Debattierkultur und in Sachen Argentinien (Unterrichtsthema, Gastland Buchmesse Frankfurt 2010).