Zu Hause leg ich B. nochmal kurz hin, weil wir am späten Nachmittag noch einmal gemeinsam loswollen. Im Parque Pompeya am Stadtrand wird heute ein großes Benefizkonzert für die chilenischen Erdbebenopfer veranstaltet, der Eintritt ist frei und es ist unter anderem ein Auftritt von León Gieco angekündigt, das ist einer der populärsten Vertreter des folkloristisch angehauchten und politisch engagierten Rock Argentino. (Hier ein ruhiger Song zusammen mit Mercedes Sosa. Zum Weitersuchen fallen sogar mir spontan einige Titel ein, etwa „Cachito, campeón de Corrientes“ oder „Hombres de hierro“, letzteres hier in einem Konzert von 1971, also kurz vor Beginn der Diktatur.) Heute fahren wir Bus, und das nicht als einzige. Wir stehen schon mit vielen jungen, etwas alternativ gekleideten Leuten in der Schlange an der Bushaltestelle – man steht hier ordentlich an beim Warten auf den Bus, und wenn er kommt, springt man auf die Straße und winkt ihn heran, die Reihenfolge der Schlange wird aber beim Einsteigen eingehalten. Dem Fahrer sagt man, für wie viel man fährt, dafür muss man natürlich wissen, in welche Tarifzone man will. Der Fahrer gibt den genannten Fahrpreis ein und man zahlt den Betrag mit Münzen an einem Automaten hinter dem Fahrersitz. Einige Busse Linie 37 fahren völlig überfüllt vorbei, halten nicht mal an, offenbar will halb Buenos Aires zum Konzert. Schließlich werden wir mitgenommen, schon wenige Haltestellen später lädt auch unser Bus aber keine Passagiere mehr auf, wir fahren gesteckt voll direkt bis Pompeya. Die Fahrt dauert auch ohne Zwischenstopps etwa eine Stunde, geht über ein Stück Stadtautobahn und an der Costanera entlang, der Küstenstraße am Río de la Plata, der mit dunkelbraunen Wellen an die Kais klatscht. An den Balustraden stehen dicht an dicht die Angler, im Bus eher das Sardinen-Gefühl. Schließlich fährt der Bus auf das Gelände der „Ciudad Universitaria“ und der Fahrer wirft uns mit den Worten „Recital (Konzert), alle aussteigen“ raus. Wir müssen noch eine ganze Strecke laufen, aber der Weg ist einfach zu finden, denn es ist eine geschlossene Menschenschlange mit uns unterwegs. Als wir uns dem Gelände nähern, hört man bereits León Gieco, und Tausende von Menschen, die klatschen und mitsingen. Das Hauptfeld vor der großen Bühne ist voll, die Straßen drumherum sind etwas lockerer belegt, einige Leute sind wie wir mit Kindern unterwegs, und wir halten uns ganz hinten, zwischen Hauptfeld und der zweiten Leinwand. B. bekommt Taschentücher in die Ohren und klatscht und wippt. Es sind viele Leute, es wird langsam dunkel, aber alle sind entspannt, auch wir haben Mate dabei und setzen uns hinten auf den Bordstein, trinken Mate und essen salzige Kekse. Wir bekommen nur die letzten drei Songs von León Giecos Auftritt mit, dann singt er noch mit jemandem zusammen, den ich nicht kenne, nach einer kurzen Pause kommen „Los fabulosos Cadillacs“, eine ziemlich berühmte und beliebte argentinische Band. Zwischendurch Ansagen zum Stand der Spenden, denn der Benefiz-Charakter des Konzerts ergibt sich nicht aus Einnahmen aus Eintrittsgeldern, die gespendet werden, sondern die Künstler treten umsonst auf, der Staat schießt Gelder dazu und die Konzertbesucher bringen Lebensmittel und Kleidung mit. An den Rändern der Wiese stehen lange Tische, wo von Freiwilligen vor allem Wasser und Milch angenommen und direkt in dort wartende Lastwagen gepackt werden. Vor dem Aufritt „Cadillacs“ werden in einer Durchsage z.B. die Kleidungsspenden für ausreichend für 2.400 Familien für mindestens den folgenden Winter und die Lebensmittel zum Beispiel für Schulspeisung in der am stärksten betroffenen Region für knapp 200 Kinder und zweieinhalb Jahre beziffert. Auf den Plakaten an den Spendentischen und neben der Bühne steht groß „Argentinien umarmt Chile“ (ein Bild, was ich bei den Größenrelationen der beiden Länder fast ein bisschen bedrohlich finde, als würde Chile die Luft wegbleiben in so einer Umarmung), einige haben sich die chilenische Fahne ins Gesicht geschminkt oder tragen Fahnen über den Schultern, und zwischen den tanzenden und die Spendenziffern beklatschenden Leuten hab ich immer wieder Lust zu heulen.
Gerade gestern schrieb mir mein Freund Jorge, dass es ihnen gar nicht gut geht, es klingt, als würde er jetzt erst die Ausmaße der Katastrophe erkennen. Vorher waren sie wohl im Auge des Hurrikans, da kam es darauf an, überlebt und seine sieben Sachen gerettet zu haben. Das Land sei am Boden, schreibt Jorge, nicht nur ganz praktisch, sondern auch emotional, „el ánimo“, der Geist. Auch Rosabetty, eine Dichterin, die ich vor vier Jahren auf ihrer Heimatinsel Chiloé ganz im Süden besucht hatte, spricht bedrückt von „Vorahnungen, dunklen Vorahnungen“ und dass sie nicht wisse, wie sie aus „dieser Grube“ wieder herauskommen sollen.
Wahrscheinlich wird in Europa nach dem kürzlichen Beben in der Türkei auch nicht mehr berichtet, dass die Erde in Chile ja immer noch bebt, jeden Tag haben sie um die 20 Nachbeben, davon im Schnitt drei stärkere mit um die 4, regelmäßig sogar welche um Stärke 6. Außerdem befürchten die Seismologen, dass das keine reinen Nachbeben seien, dass es noch nicht vorbei sei, sondern sich die Kontinentalplatten ‚demnächst‘ noch einmal richtig zurechtruckeln würden. Wenn sie das tun, ist mit einem weiteren Beben von der Stärke des ersten zu rechnen. (Wie stark das übrigens war: die Werte auf der Richterskala steigen ja nicht linear, sondern exponentiell; ein Punkt mehr bedeutet eine etwa 32-fache Energiefreisetzung. Haiti hatte, wenn ich recht erinnere, 7,3, das in Chile jetzt lag bei 8,8. Und eine so große Multiplikation in diesen Dimensionen ist für mich eigentlich kaum vorstellbar. Dann kommen natürlich noch Tiefe und andere Faktoren dazu, rein subjektiv fand ich bei den kleineren Beben in Peru immer die selteneren eher horizontal schiebenden Beben gruseliger, bei denen der Boden eben nicht von oben noch unten wackelt, sondern unter einem wegzugleiten scheint.)
Wir verlassen das Spektakel schon vor Ende der „Fabelhaften Cadillacs“, um nicht mit Zigtausend Leuten um die Stehplätze in den Bussen zu kämpfen und weil B. irgendwann wieder nach Hause muss. Die ersten Kilometer durch das chice Viertel Belgrano sind noch Konzertverlängerung, an sicher nur heute Abend dort aufgebauten Garküchen zwischen bewachten Apartmenthäusern werden Hamburger gebraten, auch die Erdnussverkäufer sind bis hierhin unterwegs. Erst als wir wieder in den Bereich der U-Bahnen kommen, hat sich der stadteinwärts bewegende Strom der Konzertbesucher aufgelöst.
Percanta, ich will ein Buch von Dir!
Die Farben und die Kompositionen deiner Bilder sind wirklich wunderschön! DU KANNST SEHEN!
da gibt’s doch schon ein buch… 🙂
Okay: Percanta, ich will NOCH ein Buch von Dir, diesmal ein von Grund auf Selbstgeschriebenes!
Ich auch:-))
Ich danke dir für deinen Bericht über das Konzert in Buenos Aires,von dem ich auch gehört habe. Es tut sehr gut, dieses Gefühl, dass die Argentinier helfen wollen und sogar so massiv. Bezüglich der Nachbeben in Chile gibt es eine Website, auf der die Beben aufgelistet werden: http://earthquake.usgs.gov/earthquakes/recenteqsww/Maps/region/S_America_eqs.phpViele Grüße aus dem sich immer noch regelmäßig bewegenden Santiago,Sandra
Oh. *Knicks* Vielen Dank!Sandra, wie es Dir ergangen? Und wie geht es jetzt? Ich bin in Gedanken viel in Chile. Laut der Tageszeitung „El Clarín“ waren gestern 100.000 Menschen beim Recital, und die Spenden waren reichlich. (Wir haben außer Andrés Calamaro auch den Abschluss verpasst, „Solo le pido a Dios“ mit allen…) Link Clarin: http://www.clarin.com/diario/2010/03/13/um/m-02158728.htmIn manchen Supermärkten hängt ebenfalls der Slogan „Argentina abraza a Chile“ und man kann direkt an der Kasse eine Summe für Chile überweisen. Animo!!
Danke für deine Worte, percanta. Wie’s den Leuten hier geht. Mir scheint, langsam entwickelt sich eine Massenpsychose, man tut nach außen zwar so, als würde man den Alltag leben (hier in Santiago ist das ja gottlob möglich), aber es wackelt oft genug, um aufzuzeigen, dass die Routine nur oberflächlich ist.In der Gegend um Concepción und Constitución sieht’s dagegen ganz anders aus.Bis jetzt bin ich aus der Erfahrung relativ privilegiert hervorgegangen und merke doch, wie stark die Erfahrung an der Substanz nagt, frage mich gleichzeitig zum ersten Mal wirklich bewusst, wie Menschen z. bsp. mit Kriegserfahrungen umgehen, die in der unmittelbar lebensbedrohlichen Gefahr eben nicht nur 2 Minuten verweilen. Ich hoffe sehr, dass diese Erfahrung dem Land eine neue Lektion der Bescheidenheit und Solidarität verschafft, die nicht nur 3 Wochen anhalten wird. Ich hoffe es nicht nur, ich spüre es auch bei vielen, denen es ähnlich geht wie mir, die materiell einen relativ überschaubaren Schaden erlitten haben und trotzdem innehalten.